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Sonntags-Blatt. Nr. 17. Berlin, 26. April 1868.

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[Beginn Spaltensatz] einmal beisammen waren. Und doch wie beredt war dieses Schweigen,
wie sprachen die Herzen dennoch zu einander!

Als Ewalds Pläne nun zur Reife gediehen, als Alles geordnet
war, wurde es im Dorf bekannt, daß er auswandern wolle, und
nachdem das erste Staunen und Schreien vorüber, meldeten sich
mehrere der jungen Burschen mit der Bitte, er möge sie nach Amerika
mitnehmen. Aber er schlug es ihnen rund ab, denn es waren meist
solche, mit denen nirgend Ehre einzulegen war, die, wenn sie arbeiten
wollten, auch hier ihr Fortkommen fanden, und außerdem keinen
Grund hatten, das Vaterland zu verlassen.

"Jch kann es Euch nicht wehren, mit mir auf dasselbe Schiff zu
gehen, doch irgend welche Fürsorge oder Verantwortlichkeit übernehme
ich nicht", erklärte ihnen Ewald. Und dann verstand er es, ihnen das
Ganze so klar hinzustellen, und daß sie viel besser thäten, daheim zu
bleiben, daß sie wirklich den abenteuerlichen Plan aufgaben. Nur
Christian Lorenz, Ewalds Freund von Kindheit an, war nicht ab-
zubringen; ihn fesselten keine Familienbande, er war eine Waise, ohne
Geschwister; sein Herz hatte er noch an kein Mädchen gehängt, die
Liebe zu Ewald war sein wärmstes Gefühl, und da er außerdem eine
gute treue Seele war, so wurde sein Vorsatz von anderer Seite her,
wenn auch im Geheimen, auf das Angelegentlichste unterstützt. Jn
der letzten Zusammenkunft, die er mit Frau Beate und dem alten
Gottfried Lembrecht hatte, ward ihm Ewald noch recht auf die
Seele gebunden, und einen schönen Zehrpfennig für die Reise und
unvorhergesehene Vorkommnisse, welchen der wohlhabende Bauer und
die reiche Bäuerin ihm mit auf den Weg gaben, glaubte Christian
nicht zurückweisen zu dürfen.

Und wie stand es um den alten Ulmenhofer? Wollte sein Starr-
sinn nicht brechen, als er sah, daß es Ernst wurde, als er bemerkte,
wie der Sohn so fest, straff und unbeirrt auf sein Ziel losschritt?
Zuweilen ward es ihm ganz schwül zu Muth, und eine große Angst
trat ihm heiß ans Herz. Warum mußte der Teufelsjunge auch so
widerhaarig und halsstarrig sein und solchen Jammer über ihn bringen?
Nun, daß er kein knausriger Vater sei, mußte ihm wenigstens ein
Jeder lassen; denn er hatte Ewald eine schöne runde Summe in
Banknoten und blanken Thalern ausgezahlt, die ihm das Fortkommen
dort wohl erleichtern konnten; er hatte ihm ferner auch gesagt, wenn er
noch mehr brauche zu irgend einem Unternehmen, solle er es getrost
schreiben, der Herr Feldern werde die Uebermittlung des Geldes gewiß
übernehmen. Dabei blinzelte der Alte jedoch so seltsam mit den Augen;
er lebte noch immer der Hoffnung, sein Ewald werde schon bald
wieder heimkehren, der Ulmenhof mit all' seinen Vorzügen würde ihn
gewiß zurücklocken.

So war der letzte Tag herangekommen -- der letzte! Für das
Mutterherz der alten Beate war es wirklich, als sei es der letzte Tag
der Erde, als müsse morgen, wenn ihr Liebling gegangen, Alles still
stehen. Sie hatte noch immer gehofft -- nicht geglaubt, aber gehofft
-- der Vater würde nachgeben. Jetzt, da alle Aussicht dazu geschwun-
den, schlug die Verzweiflung über dem armen alten Haupt zusammen.
Schluchzend hing sie an Ewalds Hals, den sie geliebt mit der Treue
und Zärtlichkeit einer eigenen Mutter.

"Es ist mir zu Muth, als ob ich Dich geraden Weges in den
Tod ziehen sähe, als ob er gleich draußen auf Dich wartete", rief sie
klagend.

"Das wär' mir gerade recht, Mutter!" sagte Ewald düster. "Das
Leben der letzten Zeit ist mir eine schwere Bürde gewesen. Jung zu
sein, und doch um all' die Freuden und Vorzüge seiner Jugend sich
betrogen zu sehen, ist viel schrecklicher, als wenn das Alter die Jugend
verdrängt hat. Und wie oft sehnen sich die älteren Leute nach der
goldenen Jugendzeit zurück! Die letzten zehn Monate haben so am
Mark meines Lebens gezehrt, daß es mir schon ganz recht sein sollte,
wenn dies elende Dasein --"

"Das ist gotteslästerlich und sündhaft gesprochen!" rief Mutter
Beate, ihn unterbrechend. "Du wirst es schon einmal bereuen,
wenn --"

"Du erst todt daliegst", fügte Ewald mit mattem Lächeln hinzu,
denn er hoffte, durch diesen kleinen Scherz die gute Alte besser als
durch Vernunftgründe von ihrem Weh etwas abzuziehen.

Doch die Mutter wollte sich nicht abbringen lassen; sie beharrte
dabei, es sei schwere Sünde, so den Tod zu suchen.

"Jch suche nicht den Tod; wenn ich ihn gesucht, ich hätte ihn
längst gefunden. Glaubt mir, Mutter", des jungen Mannes Stimme
sank zum Flüstern herab, "es hat so dunkle böse Stunden in mir
gegeben, nachdem der Vater mit einem Schlage mein Glück -- an
das ich fest und unverbrüchlich geglaubt, so, daß ich es schon mein zu
nennen wähnte -- vernichtet, so dunkle Stunden, in denen Schmerz,
Sehnsucht, Zorn und Verzweiflung dergestalt heiß in mir wühlten und
gährten, daß es mir leicht und verlockend erschien, wenn ich am Ufer
des Stromes dahinschritt, all' dem Toben und Glühen ein Ende zu
machen durch einen Sprung in die kühle stille Tiefe. Aber Gottes
Engel standen bei mir und hielten mich empor am Rande des Ab-
[Spaltenumbruch] grundes, und ich hörte immer durch all' das Stürmen der erregten
Leidenschaften, wie es eines rechten Mannes, eines wahren Christen
unwürdig sei, ungerufen vor seinen Schöpfer zu treten, und daß Jeder
sein Leben tragen müsse, auch wenn es nur Pflichten und keine Freu-
den böte. Wenn nun aber solch ein verpfuschtes Dasein zu Ende
käme, ohne mein Zuthun, das möcht' mir wie eine Erlösung erscheinen.
Jch bin erst dreiundzwanzig Jahre, Mutter; denkt, welch eine fürch-
terlich lange Zeit vor mir liegt, bis ich nach den Gesetzen der Natur
sterben werde; erwägt, wie schwer solche Reihe von Jahren in Herzens-
einsamkeit und Alleinstehen zu durchleben sind!"

Mutter Beate in all' ihrer Schlichtheit und Einfalt, welche oft
von dem Eheherrn Dummheit gescholten wurde, hatte doch viel rich-
tiger als der eigene Vater den Charakter des Sohnes erkannt; sie
wußte, daß Ewald, indem er einmal sein Herz an Gertrud hing, es
für immer gegeben hatte; deßhalb war sie nie mit den nichtigen Trost-
gründen und Prophezeiungen hervorgetreten, des Sohnes Sinn werde
sich schon ändern. Aus diesem Grunde vermochte sie auch jetzt nichts
zu sagen; sie weinte nur still vor sich hin, doch diese Thränen übten
mehr Macht über den jungen Mann aus, als des Vaters Zürnen
und Grollen. Liebreich beugte sich Ewald zu der guten Alten nieder,
die ihm stets eine treue Mutter gewesen, und mit dem innig zärtlichen
Ton, den er sonst nur für Gertrud hatte, sagte er:

"Faßt doch Muth, Herzmutter, und haltet fest an dem, was
Jhr mich selbst als Knabe gelehrt, daß Alles nur geschieht nach des
Allmächtigen Willen. Erinnert Jhr Euch noch, wie ich, als die kleine
Gertrud so schwer am Scharlachfieber danieder lag, umher irrte
und jammerte, nicht wissend, wohin mit mir selbst, und wie Jhr mir
da Trost zusprachet, von Gottes großer Güte und Barmherzigkeit
redetet und meintet, so lange noch ein Funken Leben im Menschen,
sei auch noch Hoffnung. Seht, ich bin ja auch noch lebendig vor
Euch, Mütterchen, und der Ausgang von Allem steht in Gottes Hand."

"Versprich mir nur das Eine, nicht tollkühn den Tod zu suchen;
denk' nicht nur an mich, Dein armes Mütterlein, denk' an unsere
Gertrud, der es immer noch anders sein muß, den Geliebten unter
den Lebenden zu wissen, als ihn drunten in der Erde zu suchen."

"Droben, Mutter, dort oben", erwiderte Ewald, nach dem schönen
sternbesäeten Himmel deutend.

"Wer kann nebenbei wissen, ob des Vaters Sinn sich nicht doch
noch ändert und --"

"Nimmer; eher finge ein Stein an zu leben. Es muß die Ver-
kehrtheit schon zur heiligen Ueberzeugung bei ihm geworden sein; ohne
dies könnte er nicht so grausam an uns Beiden handeln. Und deßhalb,
liebe Mutter, wollte ich Euch zum Abschied noch bitten, wenn mir
Etwas zustoßen sollte und es dem Vater doch wohl nahe gehen
möcht', daß ich so früh gestorben, dann macht ihm den Kummer nicht
noch schwerer durch Anklagen und Vorwürfe; helft ihm lieber still
tragen."

Leise ging Ewald von dannen; die Mutter schaute ihm nach
mit einem Blick, der durch die Thränen hindurch voll leuchtenden
Stolzes war.

"Ein Goldherz, wie es nicht viele giebt auf Erden, doch darum
vielleicht zu gut für diese Welt"! seufzte Mutter Beate.



Jm Wohnzimmer im Rosenbusch saßen der alte Gottfried, Ewald
und Gertrud beisammen. Der Oheim hatte seine beste Flasche Wein
aus dem Keller geholt, und der herrliche goldklare Trank perlte in
den Gläsern, doch sie standen unberührt zur Seite. Keiner hatte Lust
zum Trinken, nicht einmal Muth zum Sprechen. Wenn die Herzen
so übervoll sind, sei es vor Seligkeit oder tiefem Weh, dann findet
das Wort sich schwer. Beim Glück sind wohl noch die leuchtenden
Blicke die Dolmetscher, aber wenn die Augen schon von Thränen
schwer sind, da wagt man kaum, sie zu heben, aus Furcht vor einem
Ausbruch der Verzweiflung.

Mit tiefem Grämen sah der Vater auf seine Tochter, die vor
noch nicht einem Jahre so frisch und fröhlich in die Welt geblickt,
mit den lachenden sonnigen Augen und dem lieben schelmischen
Lächeln, und über die nun eine Stille gekommen, welche am besten
Zeugniß ablegte von dem schweren Kreuz, das sie trug. Sein Liebling,
seine Gertrud, von seinem sterbenden Weib ihm auf die Seele ge-
bunden -- welch ein reiches, schönes Leben schien nach aller menschlichen
Berechnung vor ihr zu liegen, und wie hatte ein rauher Frost all' die
knospenden Blüthen mit einem Mal vernichtet, ihr eine öde, einsame,
freudenleere Zukunft bereitend, bei kaum neunzehn Jahren!

Und es hätte nicht zu sein brauchen, nein, es wäre nicht nöthig
gewesen! Das war eben der bittere Stachel, der sich in Gottfried
Lembrechts Kummer mischte und ihm täglich das Herz vergällte, so
daß er sich zuweilen kaum bezwingen konnte, wenn er an das Leid
der Beiden dachte, mit dem Bruder freundlich zu reden. Ein Kreuz,
das Gott uns schickt, wußte Keiner besser zu tragen, als Gottfried
mit seinem echt frommen, ergebenen Sinn; das hatte er bewiesen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] einmal beisammen waren. Und doch wie beredt war dieses Schweigen,
wie sprachen die Herzen dennoch zu einander!

Als Ewalds Pläne nun zur Reife gediehen, als Alles geordnet
war, wurde es im Dorf bekannt, daß er auswandern wolle, und
nachdem das erste Staunen und Schreien vorüber, meldeten sich
mehrere der jungen Burschen mit der Bitte, er möge sie nach Amerika
mitnehmen. Aber er schlug es ihnen rund ab, denn es waren meist
solche, mit denen nirgend Ehre einzulegen war, die, wenn sie arbeiten
wollten, auch hier ihr Fortkommen fanden, und außerdem keinen
Grund hatten, das Vaterland zu verlassen.

„Jch kann es Euch nicht wehren, mit mir auf dasselbe Schiff zu
gehen, doch irgend welche Fürsorge oder Verantwortlichkeit übernehme
ich nicht“, erklärte ihnen Ewald. Und dann verstand er es, ihnen das
Ganze so klar hinzustellen, und daß sie viel besser thäten, daheim zu
bleiben, daß sie wirklich den abenteuerlichen Plan aufgaben. Nur
Christian Lorenz, Ewalds Freund von Kindheit an, war nicht ab-
zubringen; ihn fesselten keine Familienbande, er war eine Waise, ohne
Geschwister; sein Herz hatte er noch an kein Mädchen gehängt, die
Liebe zu Ewald war sein wärmstes Gefühl, und da er außerdem eine
gute treue Seele war, so wurde sein Vorsatz von anderer Seite her,
wenn auch im Geheimen, auf das Angelegentlichste unterstützt. Jn
der letzten Zusammenkunft, die er mit Frau Beate und dem alten
Gottfried Lembrecht hatte, ward ihm Ewald noch recht auf die
Seele gebunden, und einen schönen Zehrpfennig für die Reise und
unvorhergesehene Vorkommnisse, welchen der wohlhabende Bauer und
die reiche Bäuerin ihm mit auf den Weg gaben, glaubte Christian
nicht zurückweisen zu dürfen.

Und wie stand es um den alten Ulmenhofer? Wollte sein Starr-
sinn nicht brechen, als er sah, daß es Ernst wurde, als er bemerkte,
wie der Sohn so fest, straff und unbeirrt auf sein Ziel losschritt?
Zuweilen ward es ihm ganz schwül zu Muth, und eine große Angst
trat ihm heiß ans Herz. Warum mußte der Teufelsjunge auch so
widerhaarig und halsstarrig sein und solchen Jammer über ihn bringen?
Nun, daß er kein knausriger Vater sei, mußte ihm wenigstens ein
Jeder lassen; denn er hatte Ewald eine schöne runde Summe in
Banknoten und blanken Thalern ausgezahlt, die ihm das Fortkommen
dort wohl erleichtern konnten; er hatte ihm ferner auch gesagt, wenn er
noch mehr brauche zu irgend einem Unternehmen, solle er es getrost
schreiben, der Herr Feldern werde die Uebermittlung des Geldes gewiß
übernehmen. Dabei blinzelte der Alte jedoch so seltsam mit den Augen;
er lebte noch immer der Hoffnung, sein Ewald werde schon bald
wieder heimkehren, der Ulmenhof mit all' seinen Vorzügen würde ihn
gewiß zurücklocken.

So war der letzte Tag herangekommen — der letzte! Für das
Mutterherz der alten Beate war es wirklich, als sei es der letzte Tag
der Erde, als müsse morgen, wenn ihr Liebling gegangen, Alles still
stehen. Sie hatte noch immer gehofft — nicht geglaubt, aber gehofft
— der Vater würde nachgeben. Jetzt, da alle Aussicht dazu geschwun-
den, schlug die Verzweiflung über dem armen alten Haupt zusammen.
Schluchzend hing sie an Ewalds Hals, den sie geliebt mit der Treue
und Zärtlichkeit einer eigenen Mutter.

„Es ist mir zu Muth, als ob ich Dich geraden Weges in den
Tod ziehen sähe, als ob er gleich draußen auf Dich wartete“, rief sie
klagend.

„Das wär' mir gerade recht, Mutter!“ sagte Ewald düster. „Das
Leben der letzten Zeit ist mir eine schwere Bürde gewesen. Jung zu
sein, und doch um all' die Freuden und Vorzüge seiner Jugend sich
betrogen zu sehen, ist viel schrecklicher, als wenn das Alter die Jugend
verdrängt hat. Und wie oft sehnen sich die älteren Leute nach der
goldenen Jugendzeit zurück! Die letzten zehn Monate haben so am
Mark meines Lebens gezehrt, daß es mir schon ganz recht sein sollte,
wenn dies elende Dasein —“

„Das ist gotteslästerlich und sündhaft gesprochen!“ rief Mutter
Beate, ihn unterbrechend. „Du wirst es schon einmal bereuen,
wenn —“

„Du erst todt daliegst“, fügte Ewald mit mattem Lächeln hinzu,
denn er hoffte, durch diesen kleinen Scherz die gute Alte besser als
durch Vernunftgründe von ihrem Weh etwas abzuziehen.

Doch die Mutter wollte sich nicht abbringen lassen; sie beharrte
dabei, es sei schwere Sünde, so den Tod zu suchen.

„Jch suche nicht den Tod; wenn ich ihn gesucht, ich hätte ihn
längst gefunden. Glaubt mir, Mutter“, des jungen Mannes Stimme
sank zum Flüstern herab, „es hat so dunkle böse Stunden in mir
gegeben, nachdem der Vater mit einem Schlage mein Glück — an
das ich fest und unverbrüchlich geglaubt, so, daß ich es schon mein zu
nennen wähnte — vernichtet, so dunkle Stunden, in denen Schmerz,
Sehnsucht, Zorn und Verzweiflung dergestalt heiß in mir wühlten und
gährten, daß es mir leicht und verlockend erschien, wenn ich am Ufer
des Stromes dahinschritt, all' dem Toben und Glühen ein Ende zu
machen durch einen Sprung in die kühle stille Tiefe. Aber Gottes
Engel standen bei mir und hielten mich empor am Rande des Ab-
[Spaltenumbruch] grundes, und ich hörte immer durch all' das Stürmen der erregten
Leidenschaften, wie es eines rechten Mannes, eines wahren Christen
unwürdig sei, ungerufen vor seinen Schöpfer zu treten, und daß Jeder
sein Leben tragen müsse, auch wenn es nur Pflichten und keine Freu-
den böte. Wenn nun aber solch ein verpfuschtes Dasein zu Ende
käme, ohne mein Zuthun, das möcht' mir wie eine Erlösung erscheinen.
Jch bin erst dreiundzwanzig Jahre, Mutter; denkt, welch eine fürch-
terlich lange Zeit vor mir liegt, bis ich nach den Gesetzen der Natur
sterben werde; erwägt, wie schwer solche Reihe von Jahren in Herzens-
einsamkeit und Alleinstehen zu durchleben sind!“

Mutter Beate in all' ihrer Schlichtheit und Einfalt, welche oft
von dem Eheherrn Dummheit gescholten wurde, hatte doch viel rich-
tiger als der eigene Vater den Charakter des Sohnes erkannt; sie
wußte, daß Ewald, indem er einmal sein Herz an Gertrud hing, es
für immer gegeben hatte; deßhalb war sie nie mit den nichtigen Trost-
gründen und Prophezeiungen hervorgetreten, des Sohnes Sinn werde
sich schon ändern. Aus diesem Grunde vermochte sie auch jetzt nichts
zu sagen; sie weinte nur still vor sich hin, doch diese Thränen übten
mehr Macht über den jungen Mann aus, als des Vaters Zürnen
und Grollen. Liebreich beugte sich Ewald zu der guten Alten nieder,
die ihm stets eine treue Mutter gewesen, und mit dem innig zärtlichen
Ton, den er sonst nur für Gertrud hatte, sagte er:

„Faßt doch Muth, Herzmutter, und haltet fest an dem, was
Jhr mich selbst als Knabe gelehrt, daß Alles nur geschieht nach des
Allmächtigen Willen. Erinnert Jhr Euch noch, wie ich, als die kleine
Gertrud so schwer am Scharlachfieber danieder lag, umher irrte
und jammerte, nicht wissend, wohin mit mir selbst, und wie Jhr mir
da Trost zusprachet, von Gottes großer Güte und Barmherzigkeit
redetet und meintet, so lange noch ein Funken Leben im Menschen,
sei auch noch Hoffnung. Seht, ich bin ja auch noch lebendig vor
Euch, Mütterchen, und der Ausgang von Allem steht in Gottes Hand.“

„Versprich mir nur das Eine, nicht tollkühn den Tod zu suchen;
denk' nicht nur an mich, Dein armes Mütterlein, denk' an unsere
Gertrud, der es immer noch anders sein muß, den Geliebten unter
den Lebenden zu wissen, als ihn drunten in der Erde zu suchen.“

„Droben, Mutter, dort oben“, erwiderte Ewald, nach dem schönen
sternbesäeten Himmel deutend.

„Wer kann nebenbei wissen, ob des Vaters Sinn sich nicht doch
noch ändert und —“

„Nimmer; eher finge ein Stein an zu leben. Es muß die Ver-
kehrtheit schon zur heiligen Ueberzeugung bei ihm geworden sein; ohne
dies könnte er nicht so grausam an uns Beiden handeln. Und deßhalb,
liebe Mutter, wollte ich Euch zum Abschied noch bitten, wenn mir
Etwas zustoßen sollte und es dem Vater doch wohl nahe gehen
möcht', daß ich so früh gestorben, dann macht ihm den Kummer nicht
noch schwerer durch Anklagen und Vorwürfe; helft ihm lieber still
tragen.“

Leise ging Ewald von dannen; die Mutter schaute ihm nach
mit einem Blick, der durch die Thränen hindurch voll leuchtenden
Stolzes war.

„Ein Goldherz, wie es nicht viele giebt auf Erden, doch darum
vielleicht zu gut für diese Welt“! seufzte Mutter Beate.



Jm Wohnzimmer im Rosenbusch saßen der alte Gottfried, Ewald
und Gertrud beisammen. Der Oheim hatte seine beste Flasche Wein
aus dem Keller geholt, und der herrliche goldklare Trank perlte in
den Gläsern, doch sie standen unberührt zur Seite. Keiner hatte Lust
zum Trinken, nicht einmal Muth zum Sprechen. Wenn die Herzen
so übervoll sind, sei es vor Seligkeit oder tiefem Weh, dann findet
das Wort sich schwer. Beim Glück sind wohl noch die leuchtenden
Blicke die Dolmetscher, aber wenn die Augen schon von Thränen
schwer sind, da wagt man kaum, sie zu heben, aus Furcht vor einem
Ausbruch der Verzweiflung.

Mit tiefem Grämen sah der Vater auf seine Tochter, die vor
noch nicht einem Jahre so frisch und fröhlich in die Welt geblickt,
mit den lachenden sonnigen Augen und dem lieben schelmischen
Lächeln, und über die nun eine Stille gekommen, welche am besten
Zeugniß ablegte von dem schweren Kreuz, das sie trug. Sein Liebling,
seine Gertrud, von seinem sterbenden Weib ihm auf die Seele ge-
bunden — welch ein reiches, schönes Leben schien nach aller menschlichen
Berechnung vor ihr zu liegen, und wie hatte ein rauher Frost all' die
knospenden Blüthen mit einem Mal vernichtet, ihr eine öde, einsame,
freudenleere Zukunft bereitend, bei kaum neunzehn Jahren!

Und es hätte nicht zu sein brauchen, nein, es wäre nicht nöthig
gewesen! Das war eben der bittere Stachel, der sich in Gottfried
Lembrechts Kummer mischte und ihm täglich das Herz vergällte, so
daß er sich zuweilen kaum bezwingen konnte, wenn er an das Leid
der Beiden dachte, mit dem Bruder freundlich zu reden. Ein Kreuz,
das Gott uns schickt, wußte Keiner besser zu tragen, als Gottfried
mit seinem echt frommen, ergebenen Sinn; das hatte er bewiesen
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[130/0002] 130 einmal beisammen waren. Und doch wie beredt war dieses Schweigen, wie sprachen die Herzen dennoch zu einander! Als Ewalds Pläne nun zur Reife gediehen, als Alles geordnet war, wurde es im Dorf bekannt, daß er auswandern wolle, und nachdem das erste Staunen und Schreien vorüber, meldeten sich mehrere der jungen Burschen mit der Bitte, er möge sie nach Amerika mitnehmen. Aber er schlug es ihnen rund ab, denn es waren meist solche, mit denen nirgend Ehre einzulegen war, die, wenn sie arbeiten wollten, auch hier ihr Fortkommen fanden, und außerdem keinen Grund hatten, das Vaterland zu verlassen. „Jch kann es Euch nicht wehren, mit mir auf dasselbe Schiff zu gehen, doch irgend welche Fürsorge oder Verantwortlichkeit übernehme ich nicht“, erklärte ihnen Ewald. Und dann verstand er es, ihnen das Ganze so klar hinzustellen, und daß sie viel besser thäten, daheim zu bleiben, daß sie wirklich den abenteuerlichen Plan aufgaben. Nur Christian Lorenz, Ewalds Freund von Kindheit an, war nicht ab- zubringen; ihn fesselten keine Familienbande, er war eine Waise, ohne Geschwister; sein Herz hatte er noch an kein Mädchen gehängt, die Liebe zu Ewald war sein wärmstes Gefühl, und da er außerdem eine gute treue Seele war, so wurde sein Vorsatz von anderer Seite her, wenn auch im Geheimen, auf das Angelegentlichste unterstützt. Jn der letzten Zusammenkunft, die er mit Frau Beate und dem alten Gottfried Lembrecht hatte, ward ihm Ewald noch recht auf die Seele gebunden, und einen schönen Zehrpfennig für die Reise und unvorhergesehene Vorkommnisse, welchen der wohlhabende Bauer und die reiche Bäuerin ihm mit auf den Weg gaben, glaubte Christian nicht zurückweisen zu dürfen. Und wie stand es um den alten Ulmenhofer? Wollte sein Starr- sinn nicht brechen, als er sah, daß es Ernst wurde, als er bemerkte, wie der Sohn so fest, straff und unbeirrt auf sein Ziel losschritt? Zuweilen ward es ihm ganz schwül zu Muth, und eine große Angst trat ihm heiß ans Herz. Warum mußte der Teufelsjunge auch so widerhaarig und halsstarrig sein und solchen Jammer über ihn bringen? Nun, daß er kein knausriger Vater sei, mußte ihm wenigstens ein Jeder lassen; denn er hatte Ewald eine schöne runde Summe in Banknoten und blanken Thalern ausgezahlt, die ihm das Fortkommen dort wohl erleichtern konnten; er hatte ihm ferner auch gesagt, wenn er noch mehr brauche zu irgend einem Unternehmen, solle er es getrost schreiben, der Herr Feldern werde die Uebermittlung des Geldes gewiß übernehmen. Dabei blinzelte der Alte jedoch so seltsam mit den Augen; er lebte noch immer der Hoffnung, sein Ewald werde schon bald wieder heimkehren, der Ulmenhof mit all' seinen Vorzügen würde ihn gewiß zurücklocken. So war der letzte Tag herangekommen — der letzte! Für das Mutterherz der alten Beate war es wirklich, als sei es der letzte Tag der Erde, als müsse morgen, wenn ihr Liebling gegangen, Alles still stehen. Sie hatte noch immer gehofft — nicht geglaubt, aber gehofft — der Vater würde nachgeben. Jetzt, da alle Aussicht dazu geschwun- den, schlug die Verzweiflung über dem armen alten Haupt zusammen. Schluchzend hing sie an Ewalds Hals, den sie geliebt mit der Treue und Zärtlichkeit einer eigenen Mutter. „Es ist mir zu Muth, als ob ich Dich geraden Weges in den Tod ziehen sähe, als ob er gleich draußen auf Dich wartete“, rief sie klagend. „Das wär' mir gerade recht, Mutter!“ sagte Ewald düster. „Das Leben der letzten Zeit ist mir eine schwere Bürde gewesen. Jung zu sein, und doch um all' die Freuden und Vorzüge seiner Jugend sich betrogen zu sehen, ist viel schrecklicher, als wenn das Alter die Jugend verdrängt hat. Und wie oft sehnen sich die älteren Leute nach der goldenen Jugendzeit zurück! Die letzten zehn Monate haben so am Mark meines Lebens gezehrt, daß es mir schon ganz recht sein sollte, wenn dies elende Dasein —“ „Das ist gotteslästerlich und sündhaft gesprochen!“ rief Mutter Beate, ihn unterbrechend. „Du wirst es schon einmal bereuen, wenn —“ „Du erst todt daliegst“, fügte Ewald mit mattem Lächeln hinzu, denn er hoffte, durch diesen kleinen Scherz die gute Alte besser als durch Vernunftgründe von ihrem Weh etwas abzuziehen. Doch die Mutter wollte sich nicht abbringen lassen; sie beharrte dabei, es sei schwere Sünde, so den Tod zu suchen. „Jch suche nicht den Tod; wenn ich ihn gesucht, ich hätte ihn längst gefunden. Glaubt mir, Mutter“, des jungen Mannes Stimme sank zum Flüstern herab, „es hat so dunkle böse Stunden in mir gegeben, nachdem der Vater mit einem Schlage mein Glück — an das ich fest und unverbrüchlich geglaubt, so, daß ich es schon mein zu nennen wähnte — vernichtet, so dunkle Stunden, in denen Schmerz, Sehnsucht, Zorn und Verzweiflung dergestalt heiß in mir wühlten und gährten, daß es mir leicht und verlockend erschien, wenn ich am Ufer des Stromes dahinschritt, all' dem Toben und Glühen ein Ende zu machen durch einen Sprung in die kühle stille Tiefe. Aber Gottes Engel standen bei mir und hielten mich empor am Rande des Ab- grundes, und ich hörte immer durch all' das Stürmen der erregten Leidenschaften, wie es eines rechten Mannes, eines wahren Christen unwürdig sei, ungerufen vor seinen Schöpfer zu treten, und daß Jeder sein Leben tragen müsse, auch wenn es nur Pflichten und keine Freu- den böte. Wenn nun aber solch ein verpfuschtes Dasein zu Ende käme, ohne mein Zuthun, das möcht' mir wie eine Erlösung erscheinen. Jch bin erst dreiundzwanzig Jahre, Mutter; denkt, welch eine fürch- terlich lange Zeit vor mir liegt, bis ich nach den Gesetzen der Natur sterben werde; erwägt, wie schwer solche Reihe von Jahren in Herzens- einsamkeit und Alleinstehen zu durchleben sind!“ Mutter Beate in all' ihrer Schlichtheit und Einfalt, welche oft von dem Eheherrn Dummheit gescholten wurde, hatte doch viel rich- tiger als der eigene Vater den Charakter des Sohnes erkannt; sie wußte, daß Ewald, indem er einmal sein Herz an Gertrud hing, es für immer gegeben hatte; deßhalb war sie nie mit den nichtigen Trost- gründen und Prophezeiungen hervorgetreten, des Sohnes Sinn werde sich schon ändern. Aus diesem Grunde vermochte sie auch jetzt nichts zu sagen; sie weinte nur still vor sich hin, doch diese Thränen übten mehr Macht über den jungen Mann aus, als des Vaters Zürnen und Grollen. Liebreich beugte sich Ewald zu der guten Alten nieder, die ihm stets eine treue Mutter gewesen, und mit dem innig zärtlichen Ton, den er sonst nur für Gertrud hatte, sagte er: „Faßt doch Muth, Herzmutter, und haltet fest an dem, was Jhr mich selbst als Knabe gelehrt, daß Alles nur geschieht nach des Allmächtigen Willen. Erinnert Jhr Euch noch, wie ich, als die kleine Gertrud so schwer am Scharlachfieber danieder lag, umher irrte und jammerte, nicht wissend, wohin mit mir selbst, und wie Jhr mir da Trost zusprachet, von Gottes großer Güte und Barmherzigkeit redetet und meintet, so lange noch ein Funken Leben im Menschen, sei auch noch Hoffnung. Seht, ich bin ja auch noch lebendig vor Euch, Mütterchen, und der Ausgang von Allem steht in Gottes Hand.“ „Versprich mir nur das Eine, nicht tollkühn den Tod zu suchen; denk' nicht nur an mich, Dein armes Mütterlein, denk' an unsere Gertrud, der es immer noch anders sein muß, den Geliebten unter den Lebenden zu wissen, als ihn drunten in der Erde zu suchen.“ „Droben, Mutter, dort oben“, erwiderte Ewald, nach dem schönen sternbesäeten Himmel deutend. „Wer kann nebenbei wissen, ob des Vaters Sinn sich nicht doch noch ändert und —“ „Nimmer; eher finge ein Stein an zu leben. Es muß die Ver- kehrtheit schon zur heiligen Ueberzeugung bei ihm geworden sein; ohne dies könnte er nicht so grausam an uns Beiden handeln. Und deßhalb, liebe Mutter, wollte ich Euch zum Abschied noch bitten, wenn mir Etwas zustoßen sollte und es dem Vater doch wohl nahe gehen möcht', daß ich so früh gestorben, dann macht ihm den Kummer nicht noch schwerer durch Anklagen und Vorwürfe; helft ihm lieber still tragen.“ Leise ging Ewald von dannen; die Mutter schaute ihm nach mit einem Blick, der durch die Thränen hindurch voll leuchtenden Stolzes war. „Ein Goldherz, wie es nicht viele giebt auf Erden, doch darum vielleicht zu gut für diese Welt“! seufzte Mutter Beate. Jm Wohnzimmer im Rosenbusch saßen der alte Gottfried, Ewald und Gertrud beisammen. Der Oheim hatte seine beste Flasche Wein aus dem Keller geholt, und der herrliche goldklare Trank perlte in den Gläsern, doch sie standen unberührt zur Seite. Keiner hatte Lust zum Trinken, nicht einmal Muth zum Sprechen. Wenn die Herzen so übervoll sind, sei es vor Seligkeit oder tiefem Weh, dann findet das Wort sich schwer. Beim Glück sind wohl noch die leuchtenden Blicke die Dolmetscher, aber wenn die Augen schon von Thränen schwer sind, da wagt man kaum, sie zu heben, aus Furcht vor einem Ausbruch der Verzweiflung. Mit tiefem Grämen sah der Vater auf seine Tochter, die vor noch nicht einem Jahre so frisch und fröhlich in die Welt geblickt, mit den lachenden sonnigen Augen und dem lieben schelmischen Lächeln, und über die nun eine Stille gekommen, welche am besten Zeugniß ablegte von dem schweren Kreuz, das sie trug. Sein Liebling, seine Gertrud, von seinem sterbenden Weib ihm auf die Seele ge- bunden — welch ein reiches, schönes Leben schien nach aller menschlichen Berechnung vor ihr zu liegen, und wie hatte ein rauher Frost all' die knospenden Blüthen mit einem Mal vernichtet, ihr eine öde, einsame, freudenleere Zukunft bereitend, bei kaum neunzehn Jahren! Und es hätte nicht zu sein brauchen, nein, es wäre nicht nöthig gewesen! Das war eben der bittere Stachel, der sich in Gottfried Lembrechts Kummer mischte und ihm täglich das Herz vergällte, so daß er sich zuweilen kaum bezwingen konnte, wenn er an das Leid der Beiden dachte, mit dem Bruder freundlich zu reden. Ein Kreuz, das Gott uns schickt, wußte Keiner besser zu tragen, als Gottfried mit seinem echt frommen, ergebenen Sinn; das hatte er bewiesen

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 17. Berlin, 26. April 1868, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt17_1868/2>, abgerufen am 01.06.2024.