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Sonntags-Blatt. Nr. 5. Berlin, 2. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] zu suchen, nachdem ich von dem Vermögen meines Vaters mehr ge-
rettet, als ich erwartet hatte. Aber alle meine Nachforschungen waren
vergeblich ( er verschwieg, daß er sie in Frankreich gesucht hatte ) , und
ich war beinahe hoffnungslos, als ein Zufall mich vor wenigen
Wochen auf Deine Spur führte. Gott sei Dank, daß ich Dich
gefunden!"

"Ja, Gott sei Dank!" wiederholte sie. "Und Paul", fügte sie
leiser hinzu, "wenn ich gestorben bin, nimmst Du Paula mit Dir
nach Deutschland. Versprich mir das."

"Alles, Alles! Aber auch Du sollst die Heimat wiedersehen!"

"Wie Gott will", sprach sie leise.



Der Tischler kam an diesem Abend nicht nach Hause, auch am
folgenden Tage nicht. Das war nichts Ungewöhnliches, und seine
Frau beunruhigte sich nicht um ihn. Unter der sorgsamen Pflege
Pauls erholte sie sich rasch, und konnte schon am dritten Tage wieder
umhergehen.

Gegen Abend saß sie wieder friedlich mit Paul und dem Kinde
am Kamin, als plötzlich von der Straße herauf verworrenes Geräusch
ertönte. Eben wollte Paul an das Fenster treten, als an die Thür
geklopft wurde und ein Mann herein trat, der sich erkundigte, ob hier
Frau Werner wohne. Nachdem sie die Frage bejaht, ging er hinaus
und kehrte bald mit einigen Gefährten zurück, die eine verhüllte Bahre
trugen. Mit kurzen Worten erzählte er den Erschrockenen, daß Herr
Werner bei einer Schlägerei eine gefährliche Kopfwunde erhalten habe
und schon nach einer Stunde gestorben sei. Tiefes Entsetzen ergriff
Katharinens Seele, als sie das traurige Ende des Mannes vernahm,
der in ihrem Leben eine so unheilvolle Rolle gespielt hatte. Jhret-
wegen konnte sie dasselbe nicht beklagen, nur seinetwegen, der auf so
schreckliche Weise abgerufen worden.

Bei dieser neuen Prüfung war Paul ihr treuester Beistand und
Berather. Als aber allen traurigen Förmlichkeiten Genüge geleistet
worden und die Erde sich über den sterblichen Resten des beklagens-
werthen Mannes geschlossen hatte, ergriff Paul eines Abends Katha-
rinens Hand und sprach:

"Nun, Käthchen, wollen wir nach Deutschland ziehen!"



Jn einer Vorstadt Hamburgs stand ein freundliches Häuschen,
weiß angestrichen, ein Bild der Behaglichkeit. Hinter den blanken
Fenstern, die mit blüthenweißen Vorhängen und schönen Topf-
gewächsen geschmückt waren, wohnte seit einigen Wochen Frau Ka-
tharina mit ihrer kleinen Tochter. Wieder in der Heimat! Welch
ein Gemisch von Wonne und Wehmuth ergriff sie bei diesem Gedanken.

Die Ueberfahrt von England war glücklich zurückgelegt worden;
ja, Katharina fühlte sich weit kräftiger als vorher. Vor der Abreise
hatte Paul einen berühmten Arzt über den Gesundheitszustand seiner
Cousine zu Rathe gezogen. Der hatte die Achseln gezuckt und ge-
meint, bei gehöriger Pflege und Ruhe könne sie noch lange leben.
Das tröstete ihn; denn an Ruhe und Pflege sollte es ihr nicht fehlen.
Jn das weiße Häuschen hatte er sie eingeführt, dort sollte sie in Frie-
den mit ihrem Töchterchen leben; jeden Abend kam er aus der Stadt
zu seiner lieben Freundin und Beratherin, wie er die Geliebte scherzend
nannte. Paula war immer glücklich, wenn er kam; Niemand konnte
sich so gut mit ihr beschäftigen wie Onkel Paul.

"Was ist Dir, Käthchen?" sprach er eines Abends. "Du bist so
nachdenklich."

"Jch war es schon den ganzen Tag", erwiderte sie lächelnd, "und
Du sollst auch den Grund erfahren. Jch habe viel nachgedacht über
die schwere Zeit der Noth, die Deutschland zu ertragen hatte, ehe es
das fremde Joch abschüttelte. Und dabei ist es mir schwer aufs Herz
gefallen, wie wenig ich damals die Aufgabe erkannt habe, die jedem
Deutschen, auch den Frauen und Mädchen, zugetheilt war. Jm Ge-
gentheil, Du weißt und ich bereue es tief, wie ablehnend ich mich
[Spaltenumbruch] damals gegen die vaterländischen Jnteressen verhielt, als hätte ich nie
von Schiller gelernt: "Ans Vaterland, ans theure, schließ Dich an,
das halte fest mit Deinem ganzen Herzen!" -- So gern möchte ich
jetzt wieder gut machen, was ich gefehlt, wenigstens einen kleinen
Theil meiner großen Schuld abtragen. Da ist mir ein Mittel ein-
gefallen, zu dem ich Deiner Zustimmung bedarf; Du weißt, daß in
jenen Tagen des Elends viele Kinder älternlos geworden sind, und daß
noch jetzt in dieser Beziehung viel Noth herrscht. Die armen Kleinen
sind zum Theil recht schlecht versorgt. Wie wäre es, wenn ich mich
einiger dieser Kinder annähme, sie unterrichtete und einen Theil der
Mittel, die Du mir so reichlich gewährt hast, dazu verwendete, sie zu
kleiden und zu speisen?"

Paul sah bewegt aus.

"Du weißt", sagte er, "daß Du in meinen Augen längst die Ver-
gangenheit gesühnt hast, indem Du Dein schweres Geschick wie eine
Heilige trugst."

"O Paul!" unterbrach sie ihn vorwurfsvoll.

Er lächelte.

"Aber wenn es Dich erfreut und befriedigt, will ich Dir gern zu
dem Werk der Barmherzigkeit die Hand reichen. Wirst Du aber
körperlich Deiner Aufgabe gewachsen sein?"

"Der Wunsch des Herzens wird den Körper aufrecht halten",
meinte sie.

Kurze Zeit darauf saß Katharina lehrend und erziehend im Kreise
einiger sauber gekleideter kleiner Mädchen, die bald mit inniger Liebe
an der freundlichen Frau hingen.

Das kleine weiße Haus umschloß ein anmuthiges Jdyll voll Frie-
den und Genügen; nur hin und wieder fiel ein leiser Schatten auf
all' dies Glück, keinem Auge bemerkbar als dem der Herrin. Und
dieser Schatten entstammte Katharinens Bewußtsein, daß ihr nicht
lange Zeit gegönnt sein werde, das schöne Leben zu genießen. Sie
allein ließ sich nicht täuschen von dem Schein wiedergekehrter Ge-
sundheit; sie wußte, daß all' der Jammer, den sie erduldet, ihren
Lebensnerv unheilbar getroffen, und daß ihr Erdendasein nicht mehr
nach Jahren zählen werde.

Als die Monate schwanden und die düstern Bilder der Vergangen-
heit in den Hintergrund traten vor der friedensvollen Gegenwart,
bemerkte Katharina mit bangem Erschrecken, daß in Pauls Herzen
noch andere Wünsche emporkeimten, als die, sie als Freundin und
Beratherin zur Seite zu haben. Ein schwerer Kampf begann in
ihrer Brust. Wie gern, o wie gern hätte sie den Mann, der sie so
warm, so treu geliebt, belohnt mit dem süßesten Lohn, den er ersehnte;
aber sie wußte, daß sie ihr schwindendes Leben nicht an das seine
knüpfen dürfe, und in ihrer Brust siegte der Entschluß, ihn allmälig
darauf vorzubereiten.

Es war an einem milden Sommerabend, da hatte sie es vollbracht
und ihm gesagt, daß sie nicht lange mehr auf Erden weilen werde.
Tödtlich erschrocken wollte er ihre Gründe widerlegen, aber sie schüt-
telte mit traurigem Lächeln den Kopf und sprach:

"Jch täusche mich nicht, Paul."

"Käthchen", rief er, "soll dies das Ende sein? Soll ich Dich, die
Heißgeliebte, die endlich Gefundene, aufs Neue verlieren?"

Sie brach in Thränen aus und deutete durch das Fenster auf
Paula, die fröhlich im Garten spielte.

"Mein Kind bleibt bei Dir", flüsterte sie. "Möge es besser
werden, als ich, und Dir Deine unendliche Liebe vergelten."



Als die Herbststürme die letzten Blätter von den Bäumen
wehten, standen Paul und Paula mit tiefem Schmerz an einem frisch
aufgeworfenen Grabhügel. Katharina war ohne Kampf zur Ruhe
eingegangen, selig in dem Bewußtsein, daß ihr Kind keine Waise sei,
daß es ruhen werde an dem treuesten Vaterherzen.

    R. T. Robert.

[Ende Spaltensatz]

Posthuma.
Eine friesische Novelle
von
Wilhelm Jensen.
[Beginn Spaltensatz]

Obwohl das Schloß nicht hoch lag, blickte es doch nach allen Sei-
ten weit ins Land. Es war ein altes, graues Gebäude inmitten
eines mit dichten Baumgruppen übersäeten, fast waldähnlichen
Parks, der unmittelbar bis an die See oder vielmehr an den
hohen Deich, der das Niederland vor der Flut schützte, hinab ging.
Lichtungen, den Fenstern auf der Rückseite entsprechend, waren durch-
gehauen, und man konnte durch sie auf den Deich und über diesen
hin auf das Meer blicken, ja, weiter noch, auf die verschwimmenden
grauen Streifen, die hier und da, näher und ferner, aus dem Letz-
[Spaltenumbruch] teren auftauchten. Das waren die Halligen, größere und kleinere
Jnseln, die aus der Ferne oft schmal wie Nußschalen erschienen und
in Wirklichkrit häufig auch kaum mehr Raum boten, als um eine
dürftige Fischerhütte mit Weideplatz für eine Kuh oder ein Paar
Ziegen zu beherbergen.

Augenblicklich freilich gab es überhaupt kein Meer in der Nähe
des Schlosses, weder auf der Vorder=, noch auf der Rückseite. Auf
der Ersteren dehnte sich ein weites ebenes Land mit dichten, maigrünen
Saaten bis an den Horizont. Es war so flach, daß man noch auf
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] zu suchen, nachdem ich von dem Vermögen meines Vaters mehr ge-
rettet, als ich erwartet hatte. Aber alle meine Nachforschungen waren
vergeblich ( er verschwieg, daß er sie in Frankreich gesucht hatte ) , und
ich war beinahe hoffnungslos, als ein Zufall mich vor wenigen
Wochen auf Deine Spur führte. Gott sei Dank, daß ich Dich
gefunden!“

„Ja, Gott sei Dank!“ wiederholte sie. „Und Paul“, fügte sie
leiser hinzu, „wenn ich gestorben bin, nimmst Du Paula mit Dir
nach Deutschland. Versprich mir das.“

„Alles, Alles! Aber auch Du sollst die Heimat wiedersehen!“

„Wie Gott will“, sprach sie leise.



Der Tischler kam an diesem Abend nicht nach Hause, auch am
folgenden Tage nicht. Das war nichts Ungewöhnliches, und seine
Frau beunruhigte sich nicht um ihn. Unter der sorgsamen Pflege
Pauls erholte sie sich rasch, und konnte schon am dritten Tage wieder
umhergehen.

Gegen Abend saß sie wieder friedlich mit Paul und dem Kinde
am Kamin, als plötzlich von der Straße herauf verworrenes Geräusch
ertönte. Eben wollte Paul an das Fenster treten, als an die Thür
geklopft wurde und ein Mann herein trat, der sich erkundigte, ob hier
Frau Werner wohne. Nachdem sie die Frage bejaht, ging er hinaus
und kehrte bald mit einigen Gefährten zurück, die eine verhüllte Bahre
trugen. Mit kurzen Worten erzählte er den Erschrockenen, daß Herr
Werner bei einer Schlägerei eine gefährliche Kopfwunde erhalten habe
und schon nach einer Stunde gestorben sei. Tiefes Entsetzen ergriff
Katharinens Seele, als sie das traurige Ende des Mannes vernahm,
der in ihrem Leben eine so unheilvolle Rolle gespielt hatte. Jhret-
wegen konnte sie dasselbe nicht beklagen, nur seinetwegen, der auf so
schreckliche Weise abgerufen worden.

Bei dieser neuen Prüfung war Paul ihr treuester Beistand und
Berather. Als aber allen traurigen Förmlichkeiten Genüge geleistet
worden und die Erde sich über den sterblichen Resten des beklagens-
werthen Mannes geschlossen hatte, ergriff Paul eines Abends Katha-
rinens Hand und sprach:

„Nun, Käthchen, wollen wir nach Deutschland ziehen!“



Jn einer Vorstadt Hamburgs stand ein freundliches Häuschen,
weiß angestrichen, ein Bild der Behaglichkeit. Hinter den blanken
Fenstern, die mit blüthenweißen Vorhängen und schönen Topf-
gewächsen geschmückt waren, wohnte seit einigen Wochen Frau Ka-
tharina mit ihrer kleinen Tochter. Wieder in der Heimat! Welch
ein Gemisch von Wonne und Wehmuth ergriff sie bei diesem Gedanken.

Die Ueberfahrt von England war glücklich zurückgelegt worden;
ja, Katharina fühlte sich weit kräftiger als vorher. Vor der Abreise
hatte Paul einen berühmten Arzt über den Gesundheitszustand seiner
Cousine zu Rathe gezogen. Der hatte die Achseln gezuckt und ge-
meint, bei gehöriger Pflege und Ruhe könne sie noch lange leben.
Das tröstete ihn; denn an Ruhe und Pflege sollte es ihr nicht fehlen.
Jn das weiße Häuschen hatte er sie eingeführt, dort sollte sie in Frie-
den mit ihrem Töchterchen leben; jeden Abend kam er aus der Stadt
zu seiner lieben Freundin und Beratherin, wie er die Geliebte scherzend
nannte. Paula war immer glücklich, wenn er kam; Niemand konnte
sich so gut mit ihr beschäftigen wie Onkel Paul.

„Was ist Dir, Käthchen?“ sprach er eines Abends. „Du bist so
nachdenklich.“

„Jch war es schon den ganzen Tag“, erwiderte sie lächelnd, „und
Du sollst auch den Grund erfahren. Jch habe viel nachgedacht über
die schwere Zeit der Noth, die Deutschland zu ertragen hatte, ehe es
das fremde Joch abschüttelte. Und dabei ist es mir schwer aufs Herz
gefallen, wie wenig ich damals die Aufgabe erkannt habe, die jedem
Deutschen, auch den Frauen und Mädchen, zugetheilt war. Jm Ge-
gentheil, Du weißt und ich bereue es tief, wie ablehnend ich mich
[Spaltenumbruch] damals gegen die vaterländischen Jnteressen verhielt, als hätte ich nie
von Schiller gelernt: „Ans Vaterland, ans theure, schließ Dich an,
das halte fest mit Deinem ganzen Herzen!“ — So gern möchte ich
jetzt wieder gut machen, was ich gefehlt, wenigstens einen kleinen
Theil meiner großen Schuld abtragen. Da ist mir ein Mittel ein-
gefallen, zu dem ich Deiner Zustimmung bedarf; Du weißt, daß in
jenen Tagen des Elends viele Kinder älternlos geworden sind, und daß
noch jetzt in dieser Beziehung viel Noth herrscht. Die armen Kleinen
sind zum Theil recht schlecht versorgt. Wie wäre es, wenn ich mich
einiger dieser Kinder annähme, sie unterrichtete und einen Theil der
Mittel, die Du mir so reichlich gewährt hast, dazu verwendete, sie zu
kleiden und zu speisen?“

Paul sah bewegt aus.

„Du weißt“, sagte er, „daß Du in meinen Augen längst die Ver-
gangenheit gesühnt hast, indem Du Dein schweres Geschick wie eine
Heilige trugst.“

„O Paul!“ unterbrach sie ihn vorwurfsvoll.

Er lächelte.

„Aber wenn es Dich erfreut und befriedigt, will ich Dir gern zu
dem Werk der Barmherzigkeit die Hand reichen. Wirst Du aber
körperlich Deiner Aufgabe gewachsen sein?“

„Der Wunsch des Herzens wird den Körper aufrecht halten“,
meinte sie.

Kurze Zeit darauf saß Katharina lehrend und erziehend im Kreise
einiger sauber gekleideter kleiner Mädchen, die bald mit inniger Liebe
an der freundlichen Frau hingen.

Das kleine weiße Haus umschloß ein anmuthiges Jdyll voll Frie-
den und Genügen; nur hin und wieder fiel ein leiser Schatten auf
all' dies Glück, keinem Auge bemerkbar als dem der Herrin. Und
dieser Schatten entstammte Katharinens Bewußtsein, daß ihr nicht
lange Zeit gegönnt sein werde, das schöne Leben zu genießen. Sie
allein ließ sich nicht täuschen von dem Schein wiedergekehrter Ge-
sundheit; sie wußte, daß all' der Jammer, den sie erduldet, ihren
Lebensnerv unheilbar getroffen, und daß ihr Erdendasein nicht mehr
nach Jahren zählen werde.

Als die Monate schwanden und die düstern Bilder der Vergangen-
heit in den Hintergrund traten vor der friedensvollen Gegenwart,
bemerkte Katharina mit bangem Erschrecken, daß in Pauls Herzen
noch andere Wünsche emporkeimten, als die, sie als Freundin und
Beratherin zur Seite zu haben. Ein schwerer Kampf begann in
ihrer Brust. Wie gern, o wie gern hätte sie den Mann, der sie so
warm, so treu geliebt, belohnt mit dem süßesten Lohn, den er ersehnte;
aber sie wußte, daß sie ihr schwindendes Leben nicht an das seine
knüpfen dürfe, und in ihrer Brust siegte der Entschluß, ihn allmälig
darauf vorzubereiten.

Es war an einem milden Sommerabend, da hatte sie es vollbracht
und ihm gesagt, daß sie nicht lange mehr auf Erden weilen werde.
Tödtlich erschrocken wollte er ihre Gründe widerlegen, aber sie schüt-
telte mit traurigem Lächeln den Kopf und sprach:

„Jch täusche mich nicht, Paul.“

„Käthchen“, rief er, „soll dies das Ende sein? Soll ich Dich, die
Heißgeliebte, die endlich Gefundene, aufs Neue verlieren?“

Sie brach in Thränen aus und deutete durch das Fenster auf
Paula, die fröhlich im Garten spielte.

„Mein Kind bleibt bei Dir“, flüsterte sie. „Möge es besser
werden, als ich, und Dir Deine unendliche Liebe vergelten.“



Als die Herbststürme die letzten Blätter von den Bäumen
wehten, standen Paul und Paula mit tiefem Schmerz an einem frisch
aufgeworfenen Grabhügel. Katharina war ohne Kampf zur Ruhe
eingegangen, selig in dem Bewußtsein, daß ihr Kind keine Waise sei,
daß es ruhen werde an dem treuesten Vaterherzen.

    R. T. Robert.

[Ende Spaltensatz]

Posthuma.
Eine friesische Novelle
von
Wilhelm Jensen.
[Beginn Spaltensatz]

Obwohl das Schloß nicht hoch lag, blickte es doch nach allen Sei-
ten weit ins Land. Es war ein altes, graues Gebäude inmitten
eines mit dichten Baumgruppen übersäeten, fast waldähnlichen
Parks, der unmittelbar bis an die See oder vielmehr an den
hohen Deich, der das Niederland vor der Flut schützte, hinab ging.
Lichtungen, den Fenstern auf der Rückseite entsprechend, waren durch-
gehauen, und man konnte durch sie auf den Deich und über diesen
hin auf das Meer blicken, ja, weiter noch, auf die verschwimmenden
grauen Streifen, die hier und da, näher und ferner, aus dem Letz-
[Spaltenumbruch] teren auftauchten. Das waren die Halligen, größere und kleinere
Jnseln, die aus der Ferne oft schmal wie Nußschalen erschienen und
in Wirklichkrit häufig auch kaum mehr Raum boten, als um eine
dürftige Fischerhütte mit Weideplatz für eine Kuh oder ein Paar
Ziegen zu beherbergen.

Augenblicklich freilich gab es überhaupt kein Meer in der Nähe
des Schlosses, weder auf der Vorder=, noch auf der Rückseite. Auf
der Ersteren dehnte sich ein weites ebenes Land mit dichten, maigrünen
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[Ende Spaltensatz]

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[34/0002] 34 zu suchen, nachdem ich von dem Vermögen meines Vaters mehr ge- rettet, als ich erwartet hatte. Aber alle meine Nachforschungen waren vergeblich ( er verschwieg, daß er sie in Frankreich gesucht hatte ) , und ich war beinahe hoffnungslos, als ein Zufall mich vor wenigen Wochen auf Deine Spur führte. Gott sei Dank, daß ich Dich gefunden!“ „Ja, Gott sei Dank!“ wiederholte sie. „Und Paul“, fügte sie leiser hinzu, „wenn ich gestorben bin, nimmst Du Paula mit Dir nach Deutschland. Versprich mir das.“ „Alles, Alles! Aber auch Du sollst die Heimat wiedersehen!“ „Wie Gott will“, sprach sie leise. Der Tischler kam an diesem Abend nicht nach Hause, auch am folgenden Tage nicht. Das war nichts Ungewöhnliches, und seine Frau beunruhigte sich nicht um ihn. Unter der sorgsamen Pflege Pauls erholte sie sich rasch, und konnte schon am dritten Tage wieder umhergehen. Gegen Abend saß sie wieder friedlich mit Paul und dem Kinde am Kamin, als plötzlich von der Straße herauf verworrenes Geräusch ertönte. Eben wollte Paul an das Fenster treten, als an die Thür geklopft wurde und ein Mann herein trat, der sich erkundigte, ob hier Frau Werner wohne. Nachdem sie die Frage bejaht, ging er hinaus und kehrte bald mit einigen Gefährten zurück, die eine verhüllte Bahre trugen. Mit kurzen Worten erzählte er den Erschrockenen, daß Herr Werner bei einer Schlägerei eine gefährliche Kopfwunde erhalten habe und schon nach einer Stunde gestorben sei. Tiefes Entsetzen ergriff Katharinens Seele, als sie das traurige Ende des Mannes vernahm, der in ihrem Leben eine so unheilvolle Rolle gespielt hatte. Jhret- wegen konnte sie dasselbe nicht beklagen, nur seinetwegen, der auf so schreckliche Weise abgerufen worden. Bei dieser neuen Prüfung war Paul ihr treuester Beistand und Berather. Als aber allen traurigen Förmlichkeiten Genüge geleistet worden und die Erde sich über den sterblichen Resten des beklagens- werthen Mannes geschlossen hatte, ergriff Paul eines Abends Katha- rinens Hand und sprach: „Nun, Käthchen, wollen wir nach Deutschland ziehen!“ Jn einer Vorstadt Hamburgs stand ein freundliches Häuschen, weiß angestrichen, ein Bild der Behaglichkeit. Hinter den blanken Fenstern, die mit blüthenweißen Vorhängen und schönen Topf- gewächsen geschmückt waren, wohnte seit einigen Wochen Frau Ka- tharina mit ihrer kleinen Tochter. Wieder in der Heimat! Welch ein Gemisch von Wonne und Wehmuth ergriff sie bei diesem Gedanken. Die Ueberfahrt von England war glücklich zurückgelegt worden; ja, Katharina fühlte sich weit kräftiger als vorher. Vor der Abreise hatte Paul einen berühmten Arzt über den Gesundheitszustand seiner Cousine zu Rathe gezogen. Der hatte die Achseln gezuckt und ge- meint, bei gehöriger Pflege und Ruhe könne sie noch lange leben. Das tröstete ihn; denn an Ruhe und Pflege sollte es ihr nicht fehlen. Jn das weiße Häuschen hatte er sie eingeführt, dort sollte sie in Frie- den mit ihrem Töchterchen leben; jeden Abend kam er aus der Stadt zu seiner lieben Freundin und Beratherin, wie er die Geliebte scherzend nannte. Paula war immer glücklich, wenn er kam; Niemand konnte sich so gut mit ihr beschäftigen wie Onkel Paul. „Was ist Dir, Käthchen?“ sprach er eines Abends. „Du bist so nachdenklich.“ „Jch war es schon den ganzen Tag“, erwiderte sie lächelnd, „und Du sollst auch den Grund erfahren. Jch habe viel nachgedacht über die schwere Zeit der Noth, die Deutschland zu ertragen hatte, ehe es das fremde Joch abschüttelte. Und dabei ist es mir schwer aufs Herz gefallen, wie wenig ich damals die Aufgabe erkannt habe, die jedem Deutschen, auch den Frauen und Mädchen, zugetheilt war. Jm Ge- gentheil, Du weißt und ich bereue es tief, wie ablehnend ich mich damals gegen die vaterländischen Jnteressen verhielt, als hätte ich nie von Schiller gelernt: „Ans Vaterland, ans theure, schließ Dich an, das halte fest mit Deinem ganzen Herzen!“ — So gern möchte ich jetzt wieder gut machen, was ich gefehlt, wenigstens einen kleinen Theil meiner großen Schuld abtragen. Da ist mir ein Mittel ein- gefallen, zu dem ich Deiner Zustimmung bedarf; Du weißt, daß in jenen Tagen des Elends viele Kinder älternlos geworden sind, und daß noch jetzt in dieser Beziehung viel Noth herrscht. Die armen Kleinen sind zum Theil recht schlecht versorgt. Wie wäre es, wenn ich mich einiger dieser Kinder annähme, sie unterrichtete und einen Theil der Mittel, die Du mir so reichlich gewährt hast, dazu verwendete, sie zu kleiden und zu speisen?“ Paul sah bewegt aus. „Du weißt“, sagte er, „daß Du in meinen Augen längst die Ver- gangenheit gesühnt hast, indem Du Dein schweres Geschick wie eine Heilige trugst.“ „O Paul!“ unterbrach sie ihn vorwurfsvoll. Er lächelte. „Aber wenn es Dich erfreut und befriedigt, will ich Dir gern zu dem Werk der Barmherzigkeit die Hand reichen. Wirst Du aber körperlich Deiner Aufgabe gewachsen sein?“ „Der Wunsch des Herzens wird den Körper aufrecht halten“, meinte sie. Kurze Zeit darauf saß Katharina lehrend und erziehend im Kreise einiger sauber gekleideter kleiner Mädchen, die bald mit inniger Liebe an der freundlichen Frau hingen. Das kleine weiße Haus umschloß ein anmuthiges Jdyll voll Frie- den und Genügen; nur hin und wieder fiel ein leiser Schatten auf all' dies Glück, keinem Auge bemerkbar als dem der Herrin. Und dieser Schatten entstammte Katharinens Bewußtsein, daß ihr nicht lange Zeit gegönnt sein werde, das schöne Leben zu genießen. Sie allein ließ sich nicht täuschen von dem Schein wiedergekehrter Ge- sundheit; sie wußte, daß all' der Jammer, den sie erduldet, ihren Lebensnerv unheilbar getroffen, und daß ihr Erdendasein nicht mehr nach Jahren zählen werde. Als die Monate schwanden und die düstern Bilder der Vergangen- heit in den Hintergrund traten vor der friedensvollen Gegenwart, bemerkte Katharina mit bangem Erschrecken, daß in Pauls Herzen noch andere Wünsche emporkeimten, als die, sie als Freundin und Beratherin zur Seite zu haben. Ein schwerer Kampf begann in ihrer Brust. Wie gern, o wie gern hätte sie den Mann, der sie so warm, so treu geliebt, belohnt mit dem süßesten Lohn, den er ersehnte; aber sie wußte, daß sie ihr schwindendes Leben nicht an das seine knüpfen dürfe, und in ihrer Brust siegte der Entschluß, ihn allmälig darauf vorzubereiten. Es war an einem milden Sommerabend, da hatte sie es vollbracht und ihm gesagt, daß sie nicht lange mehr auf Erden weilen werde. Tödtlich erschrocken wollte er ihre Gründe widerlegen, aber sie schüt- telte mit traurigem Lächeln den Kopf und sprach: „Jch täusche mich nicht, Paul.“ „Käthchen“, rief er, „soll dies das Ende sein? Soll ich Dich, die Heißgeliebte, die endlich Gefundene, aufs Neue verlieren?“ Sie brach in Thränen aus und deutete durch das Fenster auf Paula, die fröhlich im Garten spielte. „Mein Kind bleibt bei Dir“, flüsterte sie. „Möge es besser werden, als ich, und Dir Deine unendliche Liebe vergelten.“ Als die Herbststürme die letzten Blätter von den Bäumen wehten, standen Paul und Paula mit tiefem Schmerz an einem frisch aufgeworfenen Grabhügel. Katharina war ohne Kampf zur Ruhe eingegangen, selig in dem Bewußtsein, daß ihr Kind keine Waise sei, daß es ruhen werde an dem treuesten Vaterherzen. R. T. Robert. Posthuma. Eine friesische Novelle von Wilhelm Jensen. Obwohl das Schloß nicht hoch lag, blickte es doch nach allen Sei- ten weit ins Land. Es war ein altes, graues Gebäude inmitten eines mit dichten Baumgruppen übersäeten, fast waldähnlichen Parks, der unmittelbar bis an die See oder vielmehr an den hohen Deich, der das Niederland vor der Flut schützte, hinab ging. Lichtungen, den Fenstern auf der Rückseite entsprechend, waren durch- gehauen, und man konnte durch sie auf den Deich und über diesen hin auf das Meer blicken, ja, weiter noch, auf die verschwimmenden grauen Streifen, die hier und da, näher und ferner, aus dem Letz- teren auftauchten. Das waren die Halligen, größere und kleinere Jnseln, die aus der Ferne oft schmal wie Nußschalen erschienen und in Wirklichkrit häufig auch kaum mehr Raum boten, als um eine dürftige Fischerhütte mit Weideplatz für eine Kuh oder ein Paar Ziegen zu beherbergen. Augenblicklich freilich gab es überhaupt kein Meer in der Nähe des Schlosses, weder auf der Vorder=, noch auf der Rückseite. Auf der Ersteren dehnte sich ein weites ebenes Land mit dichten, maigrünen Saaten bis an den Horizont. Es war so flach, daß man noch auf

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 5. Berlin, 2. Februar 1868, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt05_1868/2>, abgerufen am 06.06.2024.