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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 12. Lieferung, Nr. 4. Berlin, 26. Dezember 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 352
[Beginn Spaltensatz]

" Glaubt das Konzil an ein Paradies?" -- Die in Materiellen
geknechteten, elenden Völker hatten ehedem diesen Glaubensbal-
sam, diesen Trost nöthig; wir aber heute wollen dem Unglück-
lichen gratulirenden die Hoffnung eines besseren Lebens den Leiden
hienieden ertragen hilft; Jkarien hat fast nur noch Seelen-
leiden.

" Glaubt das Konzil an eine Hölle?" -- Die Schlachtopfer
der Tyrannen fühlen sich gestärkt durch den Glauben ihre
Peiniger würden nach dem Tode gestraft; dieser Glaubensartikel
ist indessen zugleich gefährlich, da er nur zu leicht die Gläubigen
einlullt, und sie behindert selber Hand anzulegen und die Quäler
zu bestrafen. Vielleicht wäre die Hölle auch in dem Falle nütz-
lich, wenn die Tyrannen an sie glaubten, alle diese glauben
keineswegs daran; im Gegentheil wünschen sie, die Unterdrückten
möchten daran glauben und somit sich nicht auflehnen gegen
Peitsche und Zaum; aber wir Jkarier haben heute keine Tyrannen,
keine Bösewichter mehr, keine Verbrecher, folglich brauchen wir
den Höllenglauben auch nicht; er ist für Jkarien abgethan, ist in
die Vergangenheit zurückzuschieben.

" Glaubt das Konzil an Heilige, an Wunder, an den Papst,
"an des Papstes Unfehlbarkeit?"

Oh, meinte William, ich errathe die Antwort; ihr habt eine
schnurrige Religion, Jkarier, nehmt es mir nicht übel: ihr habt
eine Religion die keine ist.

Was verstehst du denn unter dem Wörtchen Religion? rief
Walmor. Vermeinst du etwa, nur derjenige Mann sei religiös,
welcher an einen Gott in Menschengestalt und mit Menschen-
leidenschaften, glaubt? z. B. an den mosaischen Herrn Zebaoth,
der da ist eifrig, eifersüchtig, jähzornig, streng bis zur Nach-
sucht und blutgierig? Hättest du mich ausreden lassen, würdest
du die Entscheidung des Konzils gehört haben. Dasselbefragte sich:

" Jst eine Religion, d. h. eine systematische, regulirte, mit
"einem absonderlichen Gottesdienst versehene, den Jkariern unent-
"behrlich?" -- Bescheid: Nein.

Da hast du es, mein lieber William, und hast die verneinende
Antwort aus dem Munde der Priester, Gelehrten, Wissenschaft-
lichen, und durch diesen Mund hat das Gesammtvolk dazumal
Nein geantwortet.

Und es hat richtig gesprochen, rief ich. Sehen Sie, Freund
Engländer, die Sache ist einfach. Die hohe erleuchtete und
wahrhaft erlauchte Versammlung ( man mißbraucht oft diesen
Titel, hier aber steht er mit Fug ) hatte erklärt: sie glaube
weder an den Gott Christum, noch an den himmlischen Ur-
sprung der Bibel, noch an die übermenschliche Offenbarung des
Moses, noch an eine überweltliche Gottheit. die zugleich Men-
schenform habe, die da belohne, bestrafe, Gebete annehme, u. s. w.
Sie werden doch nicht von dieser Versammlung verlangen,
sie solle sich auf einmal den Schein geben zu glauben! eine neue
Religion in Geschwindigleit aufbauen, der Nation daran zu
glauben befehlen, und die eigenen Kinder darin erziehen? Und
wie sollte es wohl möglich sein, dem ikarischen Volke etwas zu
befehlen? das Volk selber saß so zu sagen mit im Saale zu
Rath, und es hatte Bildung und keinen Glauben. -- Auch
das ging nicht, die Kinder im Glauben aufwachsen lassen, denn
die Väter glaubten nicht mehr. Diese Väter waren ohnehin
schon entschlossen, ihren Sprößlingen eine Erziehung der Wahr-
heit und der Vernunft zu geben. Hätten sie ihren Kindern
Gaukelspiel vorgemacht, sie hätten wahrlich dadurch Verrath am
Heiligen, an der Menschheit, begangen; hätten gefrevelt gleich
heuchelnden Götzendienern, gleich Aristokraten, hätten den Weg
des Lichts, den die Revolution ihnen mit Mühe eröffnete, wieder
böswillig verlassen.

Wollte man ferner einwerfen, unter gewissen Umständen sei
[Spaltenumbruch] es heilsam, den Kindern einen Glauben, von dem man als Erwach-
sener selber nichts hält, einzuimpfen: dann könnte man sich auf
die fürchterlichsten Folgen gefaßt machen, die weit ärger wären
als die paar etwaigen Vortheile. Denn das ist sicher, Jrrthum,
Aberglauben, Aberwitz, Lügen verderben den Menschen, verun-
menschlichen ihn so zu sagen. Die Jkarier wollen aber ihre
Nachkömmlinge zu wahren, d. h. muthigen, geistreichen, edeln
Menschen heranbilden. Uebrigens wozu sollte den Jkariern die
Angst vor die Hölle helfen? wir haben die Gütergemeinschaft, in
ihr ist die Lehre, das Wort, die tausendjährige Predigt von dem
Bruderthum, verwirklicht; in ihr ist Tugend, und mehr zu sagen
ist unnütz. Erreicht sie nicht mit Bestimmtheit das Ziel von dem
alle Religionen reden, nämlich das Glück der Menschen? William,
welchen Vortheil fände man denn wohl in einer anderen Religion,
wenn man an keine Verbrechen mehr denkt, keine feindlichen Jnte-
ressen hegt, Sinn für Menschenwürde besitzt? Allerdings kann ich
Gütergemeinschaft nicht zaubern, sie kann nicht ausführen was eine
überschweifende, übersprudelnde Einbildungskraft sich vorzeichnen
kann: z. B. vermag die Gütergemeinschaft nicht alle Krankheiten
und Leiden, für welche der Religiöse mit Religion sich tröstet,
zu heilen. Aber vergeßt nicht daß die Gemeinschaft die Zahl
dieser Uebel sehr verringert hat; daß sie durch Erziehung Kraft
sie zu ertragen giebt; daß die Vernunft fast immer ausreicht.
Nur wenn Alles nicht hilft, im schlimmsten Falle kann sich auch
der Jkarier zur Hoffnung eines bessern Daseins jenseits des Gra-
bes wenden; unsere Gesetze haben dies vorgesehen und für Gebet,
Tempel, und Religionskundige gesorgt, die als Rathgeber und
Trostspender auftreten, wenn sie in Anspruch genommen werden.

Deine Priester sind ja nichts weiter als Vernunftpriester!
rief William. -- Desto vernünftiger sind sie, entgegnete
Walmor lächelnd.

Deine Gesetze sind Gesetze der Atheisten!

Du sprichst da ein gefürchtetes Wort, sagte hierauf der junge
Jkarier; lebten wir in der Vorzeit, so müßte man mich verbren-
nen, nicht wahr? Aber verständigen wir uns, machen wir es
nicht wie jene Unsinnigen die zuerst sich prügeln und während
sie ihre Wunden verbinden, auf näheres Besprechen eingehen
und dabei entdecken, daß sie völlig einer und derselben Meinung
waren; worüber sie denn sehr erstaunen. William, was verstehst
du unter Atheisten? Etwa Leute die nicht an einen Gott in Men-
schengestalt glauben, wie Jupiter und der mosaische Gott: nun
dann giebt es hier viele. Verstehst du jedoch darunter Leute,
die an gar keinen Gott halten, dann ist kein Atheist unter uns.
Sonach sind auch unsere Gesetze religiöse und nicht atheistische.
Wir Jkarier glauben unsere Gesetze seien die religiösesten, denn sie
beruhen auf der Gütergemeinschaft und betreiben unser Aller Wohl. --

Hier unterbrach ich den jungen Mann mit dem Bemerken,
ich stimme ihm bei und bedaure nur daß Frankreich, mein
theures unglückliches Land, nicht bei seinen vielfachen Umwälzungen
auch die Religion der Gütergemeinschaft und des allseitigen
Wohles aufgepflanzt habe. Kaum hatte ich dies gesagt, als
Freund William mir in die Rede fiel. Jhr guten Franzosen,
sagte er, seid zwar geistreich und liebenswürdig, aber ungläubig,
glaubt an keinen Gott und lauft Sonntags, statt zur Kirche,
in's Theater; selbst eure Könige, ich habe es ungern gesehen,
lassen Sonntags in ihren Schlössern allerlei Arbeiten ausführen.

Ja nun, werther Lord, lachte ich, es fehlt noch bloß daß
die Engländer uns auch echtchristlich verdammen, weil wir die
Albernheit haben fröhlich zu sein und zu philosophiren; oder weil wir
dumm genug sind den neunten Karl nicht leiden zu können,
der unter einer Decke mit Papst und Priesterschaft steckend, ein-
malhunderttausend Protestanten in seinem Reiche tödten ließ,
und den zehnten Karl ebensowenig, obschon dieser auch ein sehr
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 352
[Beginn Spaltensatz]

„ Glaubt das Konzil an ein Paradies?“ — Die in Materiellen
geknechteten, elenden Völker hatten ehedem diesen Glaubensbal-
sam, diesen Trost nöthig; wir aber heute wollen dem Unglück-
lichen gratulirenden die Hoffnung eines besseren Lebens den Leiden
hienieden ertragen hilft; Jkarien hat fast nur noch Seelen-
leiden.

„ Glaubt das Konzil an eine Hölle?“ — Die Schlachtopfer
der Tyrannen fühlen sich gestärkt durch den Glauben ihre
Peiniger würden nach dem Tode gestraft; dieser Glaubensartikel
ist indessen zugleich gefährlich, da er nur zu leicht die Gläubigen
einlullt, und sie behindert selber Hand anzulegen und die Quäler
zu bestrafen. Vielleicht wäre die Hölle auch in dem Falle nütz-
lich, wenn die Tyrannen an sie glaubten, alle diese glauben
keineswegs daran; im Gegentheil wünschen sie, die Unterdrückten
möchten daran glauben und somit sich nicht auflehnen gegen
Peitsche und Zaum; aber wir Jkarier haben heute keine Tyrannen,
keine Bösewichter mehr, keine Verbrecher, folglich brauchen wir
den Höllenglauben auch nicht; er ist für Jkarien abgethan, ist in
die Vergangenheit zurückzuschieben.

„ Glaubt das Konzil an Heilige, an Wunder, an den Papst,
„an des Papstes Unfehlbarkeit?“

Oh, meinte William, ich errathe die Antwort; ihr habt eine
schnurrige Religion, Jkarier, nehmt es mir nicht übel: ihr habt
eine Religion die keine ist.

Was verstehst du denn unter dem Wörtchen Religion? rief
Walmor. Vermeinst du etwa, nur derjenige Mann sei religiös,
welcher an einen Gott in Menschengestalt und mit Menschen-
leidenschaften, glaubt? z. B. an den mosaischen Herrn Zebaoth,
der da ist eifrig, eifersüchtig, jähzornig, streng bis zur Nach-
sucht und blutgierig? Hättest du mich ausreden lassen, würdest
du die Entscheidung des Konzils gehört haben. Dasselbefragte sich:

„ Jst eine Religion, d. h. eine systematische, regulirte, mit
„einem absonderlichen Gottesdienst versehene, den Jkariern unent-
„behrlich?“ — Bescheid: Nein.

Da hast du es, mein lieber William, und hast die verneinende
Antwort aus dem Munde der Priester, Gelehrten, Wissenschaft-
lichen, und durch diesen Mund hat das Gesammtvolk dazumal
Nein geantwortet.

Und es hat richtig gesprochen, rief ich. Sehen Sie, Freund
Engländer, die Sache ist einfach. Die hohe erleuchtete und
wahrhaft erlauchte Versammlung ( man mißbraucht oft diesen
Titel, hier aber steht er mit Fug ) hatte erklärt: sie glaube
weder an den Gott Christum, noch an den himmlischen Ur-
sprung der Bibel, noch an die übermenschliche Offenbarung des
Moses, noch an eine überweltliche Gottheit. die zugleich Men-
schenform habe, die da belohne, bestrafe, Gebete annehme, u. s. w.
Sie werden doch nicht von dieser Versammlung verlangen,
sie solle sich auf einmal den Schein geben zu glauben! eine neue
Religion in Geschwindigleit aufbauen, der Nation daran zu
glauben befehlen, und die eigenen Kinder darin erziehen? Und
wie sollte es wohl möglich sein, dem ikarischen Volke etwas zu
befehlen? das Volk selber saß so zu sagen mit im Saale zu
Rath, und es hatte Bildung und keinen Glauben. — Auch
das ging nicht, die Kinder im Glauben aufwachsen lassen, denn
die Väter glaubten nicht mehr. Diese Väter waren ohnehin
schon entschlossen, ihren Sprößlingen eine Erziehung der Wahr-
heit und der Vernunft zu geben. Hätten sie ihren Kindern
Gaukelspiel vorgemacht, sie hätten wahrlich dadurch Verrath am
Heiligen, an der Menschheit, begangen; hätten gefrevelt gleich
heuchelnden Götzendienern, gleich Aristokraten, hätten den Weg
des Lichts, den die Revolution ihnen mit Mühe eröffnete, wieder
böswillig verlassen.

Wollte man ferner einwerfen, unter gewissen Umständen sei
[Spaltenumbruch] es heilsam, den Kindern einen Glauben, von dem man als Erwach-
sener selber nichts hält, einzuimpfen: dann könnte man sich auf
die fürchterlichsten Folgen gefaßt machen, die weit ärger wären
als die paar etwaigen Vortheile. Denn das ist sicher, Jrrthum,
Aberglauben, Aberwitz, Lügen verderben den Menschen, verun-
menschlichen ihn so zu sagen. Die Jkarier wollen aber ihre
Nachkömmlinge zu wahren, d. h. muthigen, geistreichen, edeln
Menschen heranbilden. Uebrigens wozu sollte den Jkariern die
Angst vor die Hölle helfen? wir haben die Gütergemeinschaft, in
ihr ist die Lehre, das Wort, die tausendjährige Predigt von dem
Bruderthum, verwirklicht; in ihr ist Tugend, und mehr zu sagen
ist unnütz. Erreicht sie nicht mit Bestimmtheit das Ziel von dem
alle Religionen reden, nämlich das Glück der Menschen? William,
welchen Vortheil fände man denn wohl in einer anderen Religion,
wenn man an keine Verbrechen mehr denkt, keine feindlichen Jnte-
ressen hegt, Sinn für Menschenwürde besitzt? Allerdings kann ich
Gütergemeinschaft nicht zaubern, sie kann nicht ausführen was eine
überschweifende, übersprudelnde Einbildungskraft sich vorzeichnen
kann: z. B. vermag die Gütergemeinschaft nicht alle Krankheiten
und Leiden, für welche der Religiöse mit Religion sich tröstet,
zu heilen. Aber vergeßt nicht daß die Gemeinschaft die Zahl
dieser Uebel sehr verringert hat; daß sie durch Erziehung Kraft
sie zu ertragen giebt; daß die Vernunft fast immer ausreicht.
Nur wenn Alles nicht hilft, im schlimmsten Falle kann sich auch
der Jkarier zur Hoffnung eines bessern Daseins jenseits des Gra-
bes wenden; unsere Gesetze haben dies vorgesehen und für Gebet,
Tempel, und Religionskundige gesorgt, die als Rathgeber und
Trostspender auftreten, wenn sie in Anspruch genommen werden.

Deine Priester sind ja nichts weiter als Vernunftpriester!
rief William. — Desto vernünftiger sind sie, entgegnete
Walmor lächelnd.

Deine Gesetze sind Gesetze der Atheisten!

Du sprichst da ein gefürchtetes Wort, sagte hierauf der junge
Jkarier; lebten wir in der Vorzeit, so müßte man mich verbren-
nen, nicht wahr? Aber verständigen wir uns, machen wir es
nicht wie jene Unsinnigen die zuerst sich prügeln und während
sie ihre Wunden verbinden, auf näheres Besprechen eingehen
und dabei entdecken, daß sie völlig einer und derselben Meinung
waren; worüber sie denn sehr erstaunen. William, was verstehst
du unter Atheisten? Etwa Leute die nicht an einen Gott in Men-
schengestalt glauben, wie Jupiter und der mosaische Gott: nun
dann giebt es hier viele. Verstehst du jedoch darunter Leute,
die an gar keinen Gott halten, dann ist kein Atheist unter uns.
Sonach sind auch unsere Gesetze religiöse und nicht atheistische.
Wir Jkarier glauben unsere Gesetze seien die religiösesten, denn sie
beruhen auf der Gütergemeinschaft und betreiben unser Aller Wohl. —

Hier unterbrach ich den jungen Mann mit dem Bemerken,
ich stimme ihm bei und bedaure nur daß Frankreich, mein
theures unglückliches Land, nicht bei seinen vielfachen Umwälzungen
auch die Religion der Gütergemeinschaft und des allseitigen
Wohles aufgepflanzt habe. Kaum hatte ich dies gesagt, als
Freund William mir in die Rede fiel. Jhr guten Franzosen,
sagte er, seid zwar geistreich und liebenswürdig, aber ungläubig,
glaubt an keinen Gott und lauft Sonntags, statt zur Kirche,
in's Theater; selbst eure Könige, ich habe es ungern gesehen,
lassen Sonntags in ihren Schlössern allerlei Arbeiten ausführen.

Ja nun, werther Lord, lachte ich, es fehlt noch bloß daß
die Engländer uns auch echtchristlich verdammen, weil wir die
Albernheit haben fröhlich zu sein und zu philosophiren; oder weil wir
dumm genug sind den neunten Karl nicht leiden zu können,
der unter einer Decke mit Papst und Priesterschaft steckend, ein-
malhunderttausend Protestanten in seinem Reiche tödten ließ,
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Vielleicht wäre die Hölle auch in dem Falle nütz- lich, wenn die Tyrannen an sie glaubten, alle diese glauben keineswegs daran; im Gegentheil wünschen sie, die Unterdrückten möchten daran glauben und somit sich nicht auflehnen gegen Peitsche und Zaum; aber wir Jkarier haben heute keine Tyrannen, keine Bösewichter mehr, keine Verbrecher, folglich brauchen wir den Höllenglauben auch nicht; er ist für Jkarien abgethan, ist in die Vergangenheit zurückzuschieben. „ Glaubt das Konzil an Heilige, an Wunder, an den Papst, „an des Papstes Unfehlbarkeit?“ Oh, meinte William, ich errathe die Antwort; ihr habt eine schnurrige Religion, Jkarier, nehmt es mir nicht übel: ihr habt eine Religion die keine ist. Was verstehst du denn unter dem Wörtchen Religion? rief Walmor. Vermeinst du etwa, nur derjenige Mann sei religiös, welcher an einen Gott in Menschengestalt und mit Menschen- leidenschaften, glaubt? z. B. an den mosaischen Herrn Zebaoth, der da ist eifrig, eifersüchtig, jähzornig, streng bis zur Nach- sucht und blutgierig? Hättest du mich ausreden lassen, würdest du die Entscheidung des Konzils gehört haben. Dasselbefragte sich: „ Jst eine Religion, d. h. eine systematische, regulirte, mit „einem absonderlichen Gottesdienst versehene, den Jkariern unent- „behrlich?“ — Bescheid: Nein. Da hast du es, mein lieber William, und hast die verneinende Antwort aus dem Munde der Priester, Gelehrten, Wissenschaft- lichen, und durch diesen Mund hat das Gesammtvolk dazumal Nein geantwortet. Und es hat richtig gesprochen, rief ich. Sehen Sie, Freund Engländer, die Sache ist einfach. Die hohe erleuchtete und wahrhaft erlauchte Versammlung ( man mißbraucht oft diesen Titel, hier aber steht er mit Fug ) hatte erklärt: sie glaube weder an den Gott Christum, noch an den himmlischen Ur- sprung der Bibel, noch an die übermenschliche Offenbarung des Moses, noch an eine überweltliche Gottheit. die zugleich Men- schenform habe, die da belohne, bestrafe, Gebete annehme, u. s. w. Sie werden doch nicht von dieser Versammlung verlangen, sie solle sich auf einmal den Schein geben zu glauben! eine neue Religion in Geschwindigleit aufbauen, der Nation daran zu glauben befehlen, und die eigenen Kinder darin erziehen? Und wie sollte es wohl möglich sein, dem ikarischen Volke etwas zu befehlen? das Volk selber saß so zu sagen mit im Saale zu Rath, und es hatte Bildung und keinen Glauben. — Auch das ging nicht, die Kinder im Glauben aufwachsen lassen, denn die Väter glaubten nicht mehr. Diese Väter waren ohnehin schon entschlossen, ihren Sprößlingen eine Erziehung der Wahr- heit und der Vernunft zu geben. Hätten sie ihren Kindern Gaukelspiel vorgemacht, sie hätten wahrlich dadurch Verrath am Heiligen, an der Menschheit, begangen; hätten gefrevelt gleich heuchelnden Götzendienern, gleich Aristokraten, hätten den Weg des Lichts, den die Revolution ihnen mit Mühe eröffnete, wieder böswillig verlassen. Wollte man ferner einwerfen, unter gewissen Umständen sei es heilsam, den Kindern einen Glauben, von dem man als Erwach- sener selber nichts hält, einzuimpfen: dann könnte man sich auf die fürchterlichsten Folgen gefaßt machen, die weit ärger wären als die paar etwaigen Vortheile. Denn das ist sicher, Jrrthum, Aberglauben, Aberwitz, Lügen verderben den Menschen, verun- menschlichen ihn so zu sagen. Die Jkarier wollen aber ihre Nachkömmlinge zu wahren, d. h. muthigen, geistreichen, edeln Menschen heranbilden. Uebrigens wozu sollte den Jkariern die Angst vor die Hölle helfen? wir haben die Gütergemeinschaft, in ihr ist die Lehre, das Wort, die tausendjährige Predigt von dem Bruderthum, verwirklicht; in ihr ist Tugend, und mehr zu sagen ist unnütz. Erreicht sie nicht mit Bestimmtheit das Ziel von dem alle Religionen reden, nämlich das Glück der Menschen? William, welchen Vortheil fände man denn wohl in einer anderen Religion, wenn man an keine Verbrechen mehr denkt, keine feindlichen Jnte- ressen hegt, Sinn für Menschenwürde besitzt? Allerdings kann ich Gütergemeinschaft nicht zaubern, sie kann nicht ausführen was eine überschweifende, übersprudelnde Einbildungskraft sich vorzeichnen kann: z. B. vermag die Gütergemeinschaft nicht alle Krankheiten und Leiden, für welche der Religiöse mit Religion sich tröstet, zu heilen. Aber vergeßt nicht daß die Gemeinschaft die Zahl dieser Uebel sehr verringert hat; daß sie durch Erziehung Kraft sie zu ertragen giebt; daß die Vernunft fast immer ausreicht. Nur wenn Alles nicht hilft, im schlimmsten Falle kann sich auch der Jkarier zur Hoffnung eines bessern Daseins jenseits des Gra- bes wenden; unsere Gesetze haben dies vorgesehen und für Gebet, Tempel, und Religionskundige gesorgt, die als Rathgeber und Trostspender auftreten, wenn sie in Anspruch genommen werden. Deine Priester sind ja nichts weiter als Vernunftpriester! rief William. — Desto vernünftiger sind sie, entgegnete Walmor lächelnd. Deine Gesetze sind Gesetze der Atheisten! Du sprichst da ein gefürchtetes Wort, sagte hierauf der junge Jkarier; lebten wir in der Vorzeit, so müßte man mich verbren- nen, nicht wahr? Aber verständigen wir uns, machen wir es nicht wie jene Unsinnigen die zuerst sich prügeln und während sie ihre Wunden verbinden, auf näheres Besprechen eingehen und dabei entdecken, daß sie völlig einer und derselben Meinung waren; worüber sie denn sehr erstaunen. William, was verstehst du unter Atheisten? Etwa Leute die nicht an einen Gott in Men- schengestalt glauben, wie Jupiter und der mosaische Gott: nun dann giebt es hier viele. Verstehst du jedoch darunter Leute, die an gar keinen Gott halten, dann ist kein Atheist unter uns. Sonach sind auch unsere Gesetze religiöse und nicht atheistische. Wir Jkarier glauben unsere Gesetze seien die religiösesten, denn sie beruhen auf der Gütergemeinschaft und betreiben unser Aller Wohl. — Hier unterbrach ich den jungen Mann mit dem Bemerken, ich stimme ihm bei und bedaure nur daß Frankreich, mein theures unglückliches Land, nicht bei seinen vielfachen Umwälzungen auch die Religion der Gütergemeinschaft und des allseitigen Wohles aufgepflanzt habe. Kaum hatte ich dies gesagt, als Freund William mir in die Rede fiel. Jhr guten Franzosen, sagte er, seid zwar geistreich und liebenswürdig, aber ungläubig, glaubt an keinen Gott und lauft Sonntags, statt zur Kirche, in's Theater; selbst eure Könige, ich habe es ungern gesehen, lassen Sonntags in ihren Schlössern allerlei Arbeiten ausführen. Ja nun, werther Lord, lachte ich, es fehlt noch bloß daß die Engländer uns auch echtchristlich verdammen, weil wir die Albernheit haben fröhlich zu sein und zu philosophiren; oder weil wir dumm genug sind den neunten Karl nicht leiden zu können, der unter einer Decke mit Papst und Priesterschaft steckend, ein- malhunderttausend Protestanten in seinem Reiche tödten ließ, und den zehnten Karl ebensowenig, obschon dieser auch ein sehr

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 12. Lieferung, Nr. 4. Berlin, 26. Dezember 1874, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social1204_1874/4>, abgerufen am 22.11.2024.