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Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 78
[Beginn Spaltensatz] ziren, aber wenn ich meinen eignen Beobachtungen und der
allgemeinen Ansicht derer, mit denen ich sprach, sowie der
ganzen Haltung der mir abgelegten Zeugnisse trauen darf,
so bietet sich eine höchst niederschlagende Ansicht von dem
Einfluß des Fabriklebens auf die Sittlichkeit der weiblichen
Jugend dar."

Es versteht sich übrigens, daß die Fabrikdienstbarkeit
wie jede andre, und noch mehr, den Brotherrn das "Recht
der ersten Nacht" ertheilt. Der Fabrikant ist auch in dieser
Beziehung Herr über den Leib und die Reize seiner Ar-
beiterinnen.

Die Entlassung ist Strafe genug, um in neun Fällen
aus zehnen, wo nicht in neunundneunzig aus hundert, alles
Widerstreben bei Mädchen, die ohnehin keine große Veran-
lassung zur Keuschheit haben, niederzuschlagen. Jst der
Fabrikant gemein genug, so ist seine Fabrik zugleich sein
Harem; und daß nicht alle Fabrikanten Gebrauch von ihrem
Rechte machen, verändert die Sachlage in Beziehung auf
die Mädchen durchaus nicht.

Die Fabrikanten führten das schändliche System des
Nachtarbeitens ein; bei Einigen waren zwei stehende Klassen
von Arbeitern, jede so stark, um die ganze Fabrik besetzen
zu können, und die eine Klasse arbeitete die zwölf Tages=,
die andre die zwölf Nachtstunden.

Man kann sich leicht denken, welche Folgen eine solche
dauernde Beraubung der Nachtruhe, die durch einen Tages-
schlaf nicht zu ersetzen ist, auf die körperliche Lage, nament-
lich kleiner und größerer Kinder und selbst Erwachsener,
haben mußte. Aufreizung des ganzen Nervensystems, ver-
bunden mit allgemeiner Schwächung und Erschlaffung des
ganzen Körpers, waren die nothwendigen Resultate.

Dazu die Beförderung und Aufreizung der Trunksucht,
des regellosen Geschlechtsverkehrs; ein Fabrikant bezeugt
in dieser Hinsicht, daß während zwei Jahren, wo in
seiner Fabrik Nachts gearbeitet wurde, die doppelte Zahl
unehelicher Kinder geboren und überhaupt eine solche Demo-
ralisation producirt wurde, daß er das Nachtarbeiten habe
aufgeben müssen.

Das sind englische Zustände!

Ueber die verderbenbringende Wirkung der modernen
Gesellschaft in Frankreich und die Zerstörung, welche
sie im Familienleben anrichtet, wollen wir Louis Blanc
reden lassen:

Durch jede Verheirathung entsteht ein Zuwachs der
Lasten: warum sollte sich die Armuth mit der Armuth ver-
binden? die Familienverhältnisse weichen daher den wilden
Ehen. Den Armen werden Kinder geboren; wie sollen die-
selben genährt werden? daher findet man so viele unglück-
liche Geschöpfe todt an den Straßenecken vor den Thüren
einiger einsamen Kirchen und selbst unter dem Peristyl des
Palastes, in welchem die Gesetze gegeben werden.

Und damit uns kein Zweifel über die Ursache der Kin-
dermorde bleibe, so kommt uns auch hier wieder die Statistik
zu Hülfe, und zeigt uns, daß die Kindermorde in den 14
Departements, in welchen die meiste Gewerbsthätigkeit herrscht,
sich zu den Kindermorden in ganz Frankreich, wie 40 zu 100
verhalten.

Also stets das größte Elend da, wo die Jndustrie ihre
[Spaltenumbruch] Werkstätten aufgeschlagen hat! Der Staat mußte erst jeder
armen Mutter entgegnen kommen und zu ihr sagen: "Jch
nehme die Sorge für Deine Kinder auf mich. Jch öffne
Hospitäler und Findelhäuser."

Das war aber noch zu wenig. Man hätte weiter gehen
und die Hindernisse aus dem Wege räumen sollen, welche
das System der Ohnmacht erforderlich machten.

Man hat der Mutter, welche sich ihres Kindes entsagt,
Geheimhaltung zugesichert; wer wird aber die Fortschritte
der wilden Ehen hemmen, da man sich jetzt den lockenden
Freuden überlassen kann, ohne die Lasten befürchten zu müssen,
welche auf dieselben folgen?

Darauf haben die Moralisten gleich von vorn herein
aufmerksam gemacht. Dann kamen die herzlosen Rechen-
knechte, und ihre Klagen waren noch lauter: "Unterdrückt
die Findelhäuser, unterdrückt die Findelhäuser, oder Jhr
werdet die Zahl der Findelkinder in einem solchen Grade
wachsen sehen, daß alle unsere vereinigten Staats=Einkünfte
zur Unterhaltung derselben nicht hinreichen."

Jn der That sind die Zahlenverhältnisse seit Einrich-
tung der Findelhäuser fortwährend in Frankreich gestiegen.
Jm Jahre 1783 wurden 40,000 Findelkinder aufgenommen;
1820 fand man deren 102,103; im Jahr 1831 waren es
122,981 jetzt kann man jährlich etwa 130,000 annehmen.

Das Verhältniß der Findelkinder zu der ganzen Bevöl-
kerung hat sich in der Zeit von 40 Jahren fast verdreifacht.

Welche Grenzen kann man dieser großen Ueberhand-
nahme des Elends setzen? und wie könnt Jhr, meine Her-
ren, der stets wachsenden Bürde entgehen? ich weiß wohl,
daß die Sterblichkeit in den Sälen des Mitleids gewaltig
ist; ich weiß wohl, daß unter den Kindern, welche der öffent-
lichen Wohlthätigkeit übergeben werden, viele von der kalten
Luft der Straße sterben, wenn sie aus dem Maulwurfsloch
herausgetragen werden, in welchem sie ihr Leben erhielten;
ich weiß wohl, daß andere von der dumpfigen Luft der Hos-
pitäler sterben, und noch andere durch die karge Nahrung
langsam aufgerieben werden, denn von den 9729 Ernähre-
rinnen der Findelkinder in Paris haben nur 6264 eine Kuh
oder eine Ziege; ich weiß endlich auch, daß es deren giebt,
welche bei einer und derselben Ernährerin zusammen gebracht,
an der Milch sterben, welche von ihren Gespielen ver-
giftet ist.

Ganz recht! allein selbst durch diese große Sterblichkeit
wird noch keine hinreichende Ersparniß bewirkt. Und da
es sich hier einmal um Zahlen handelt, so müssen wir be-
merken, wie die Ausgaben von dem Jahr 1815 bis zu dem
Jahr 1831 gestiegen sind: Jm Departement Charente stie-
gen sie von 45,232 Fr. auf 92,454; im Dep. des Landes
von 66,579 auf 116,986 Fr.; im Dep. der Loire von 50,079
auf 83,492 Fr. Und so im ganzen übrigen Frankreich.
Jm Jahr 1825 warf der Generalrath für die Findelkinder
5,915,744 Franken aus, und am Ende des Jahres erhob
sich noch ein Deficit von 230,418 Fr. --

Es entrollt sich uns in den vorstehenden, unbestreit-
bar richtigen Angaben ein Bild, wie es schwärzer die leb-
hafteste Phantasie nicht ersinnen kann. Deutsche Verhält-
nisse sind leider bisher allzu ungenügend untersucht worden;
aber das offen zu Tage liegende ungeheure Wachsthum
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 78
[Beginn Spaltensatz] ziren, aber wenn ich meinen eignen Beobachtungen und der
allgemeinen Ansicht derer, mit denen ich sprach, sowie der
ganzen Haltung der mir abgelegten Zeugnisse trauen darf,
so bietet sich eine höchst niederschlagende Ansicht von dem
Einfluß des Fabriklebens auf die Sittlichkeit der weiblichen
Jugend dar.“

Es versteht sich übrigens, daß die Fabrikdienstbarkeit
wie jede andre, und noch mehr, den Brotherrn das „Recht
der ersten Nacht“ ertheilt. Der Fabrikant ist auch in dieser
Beziehung Herr über den Leib und die Reize seiner Ar-
beiterinnen.

Die Entlassung ist Strafe genug, um in neun Fällen
aus zehnen, wo nicht in neunundneunzig aus hundert, alles
Widerstreben bei Mädchen, die ohnehin keine große Veran-
lassung zur Keuschheit haben, niederzuschlagen. Jst der
Fabrikant gemein genug, so ist seine Fabrik zugleich sein
Harem; und daß nicht alle Fabrikanten Gebrauch von ihrem
Rechte machen, verändert die Sachlage in Beziehung auf
die Mädchen durchaus nicht.

Die Fabrikanten führten das schändliche System des
Nachtarbeitens ein; bei Einigen waren zwei stehende Klassen
von Arbeitern, jede so stark, um die ganze Fabrik besetzen
zu können, und die eine Klasse arbeitete die zwölf Tages=,
die andre die zwölf Nachtstunden.

Man kann sich leicht denken, welche Folgen eine solche
dauernde Beraubung der Nachtruhe, die durch einen Tages-
schlaf nicht zu ersetzen ist, auf die körperliche Lage, nament-
lich kleiner und größerer Kinder und selbst Erwachsener,
haben mußte. Aufreizung des ganzen Nervensystems, ver-
bunden mit allgemeiner Schwächung und Erschlaffung des
ganzen Körpers, waren die nothwendigen Resultate.

Dazu die Beförderung und Aufreizung der Trunksucht,
des regellosen Geschlechtsverkehrs; ein Fabrikant bezeugt
in dieser Hinsicht, daß während zwei Jahren, wo in
seiner Fabrik Nachts gearbeitet wurde, die doppelte Zahl
unehelicher Kinder geboren und überhaupt eine solche Demo-
ralisation producirt wurde, daß er das Nachtarbeiten habe
aufgeben müssen.

Das sind englische Zustände!

Ueber die verderbenbringende Wirkung der modernen
Gesellschaft in Frankreich und die Zerstörung, welche
sie im Familienleben anrichtet, wollen wir Louis Blanc
reden lassen:

Durch jede Verheirathung entsteht ein Zuwachs der
Lasten: warum sollte sich die Armuth mit der Armuth ver-
binden? die Familienverhältnisse weichen daher den wilden
Ehen. Den Armen werden Kinder geboren; wie sollen die-
selben genährt werden? daher findet man so viele unglück-
liche Geschöpfe todt an den Straßenecken vor den Thüren
einiger einsamen Kirchen und selbst unter dem Peristyl des
Palastes, in welchem die Gesetze gegeben werden.

Und damit uns kein Zweifel über die Ursache der Kin-
dermorde bleibe, so kommt uns auch hier wieder die Statistik
zu Hülfe, und zeigt uns, daß die Kindermorde in den 14
Departements, in welchen die meiste Gewerbsthätigkeit herrscht,
sich zu den Kindermorden in ganz Frankreich, wie 40 zu 100
verhalten.

Also stets das größte Elend da, wo die Jndustrie ihre
[Spaltenumbruch] Werkstätten aufgeschlagen hat! Der Staat mußte erst jeder
armen Mutter entgegnen kommen und zu ihr sagen: „Jch
nehme die Sorge für Deine Kinder auf mich. Jch öffne
Hospitäler und Findelhäuser.“

Das war aber noch zu wenig. Man hätte weiter gehen
und die Hindernisse aus dem Wege räumen sollen, welche
das System der Ohnmacht erforderlich machten.

Man hat der Mutter, welche sich ihres Kindes entsagt,
Geheimhaltung zugesichert; wer wird aber die Fortschritte
der wilden Ehen hemmen, da man sich jetzt den lockenden
Freuden überlassen kann, ohne die Lasten befürchten zu müssen,
welche auf dieselben folgen?

Darauf haben die Moralisten gleich von vorn herein
aufmerksam gemacht. Dann kamen die herzlosen Rechen-
knechte, und ihre Klagen waren noch lauter: „Unterdrückt
die Findelhäuser, unterdrückt die Findelhäuser, oder Jhr
werdet die Zahl der Findelkinder in einem solchen Grade
wachsen sehen, daß alle unsere vereinigten Staats=Einkünfte
zur Unterhaltung derselben nicht hinreichen.“

Jn der That sind die Zahlenverhältnisse seit Einrich-
tung der Findelhäuser fortwährend in Frankreich gestiegen.
Jm Jahre 1783 wurden 40,000 Findelkinder aufgenommen;
1820 fand man deren 102,103; im Jahr 1831 waren es
122,981 jetzt kann man jährlich etwa 130,000 annehmen.

Das Verhältniß der Findelkinder zu der ganzen Bevöl-
kerung hat sich in der Zeit von 40 Jahren fast verdreifacht.

Welche Grenzen kann man dieser großen Ueberhand-
nahme des Elends setzen? und wie könnt Jhr, meine Her-
ren, der stets wachsenden Bürde entgehen? ich weiß wohl,
daß die Sterblichkeit in den Sälen des Mitleids gewaltig
ist; ich weiß wohl, daß unter den Kindern, welche der öffent-
lichen Wohlthätigkeit übergeben werden, viele von der kalten
Luft der Straße sterben, wenn sie aus dem Maulwurfsloch
herausgetragen werden, in welchem sie ihr Leben erhielten;
ich weiß wohl, daß andere von der dumpfigen Luft der Hos-
pitäler sterben, und noch andere durch die karge Nahrung
langsam aufgerieben werden, denn von den 9729 Ernähre-
rinnen der Findelkinder in Paris haben nur 6264 eine Kuh
oder eine Ziege; ich weiß endlich auch, daß es deren giebt,
welche bei einer und derselben Ernährerin zusammen gebracht,
an der Milch sterben, welche von ihren Gespielen ver-
giftet ist.

Ganz recht! allein selbst durch diese große Sterblichkeit
wird noch keine hinreichende Ersparniß bewirkt. Und da
es sich hier einmal um Zahlen handelt, so müssen wir be-
merken, wie die Ausgaben von dem Jahr 1815 bis zu dem
Jahr 1831 gestiegen sind: Jm Departement Charente stie-
gen sie von 45,232 Fr. auf 92,454; im Dep. des Landes
von 66,579 auf 116,986 Fr.; im Dep. der Loire von 50,079
auf 83,492 Fr. Und so im ganzen übrigen Frankreich.
Jm Jahr 1825 warf der Generalrath für die Findelkinder
5,915,744 Franken aus, und am Ende des Jahres erhob
sich noch ein Deficit von 230,418 Fr. —

Es entrollt sich uns in den vorstehenden, unbestreit-
bar richtigen Angaben ein Bild, wie es schwärzer die leb-
hafteste Phantasie nicht ersinnen kann. Deutsche Verhält-
nisse sind leider bisher allzu ungenügend untersucht worden;
aber das offen zu Tage liegende ungeheure Wachsthum
[Ende Spaltensatz]

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[78/0006] Zur Unterhaltung und Belehrung. 78 ziren, aber wenn ich meinen eignen Beobachtungen und der allgemeinen Ansicht derer, mit denen ich sprach, sowie der ganzen Haltung der mir abgelegten Zeugnisse trauen darf, so bietet sich eine höchst niederschlagende Ansicht von dem Einfluß des Fabriklebens auf die Sittlichkeit der weiblichen Jugend dar.“ Es versteht sich übrigens, daß die Fabrikdienstbarkeit wie jede andre, und noch mehr, den Brotherrn das „Recht der ersten Nacht“ ertheilt. Der Fabrikant ist auch in dieser Beziehung Herr über den Leib und die Reize seiner Ar- beiterinnen. Die Entlassung ist Strafe genug, um in neun Fällen aus zehnen, wo nicht in neunundneunzig aus hundert, alles Widerstreben bei Mädchen, die ohnehin keine große Veran- lassung zur Keuschheit haben, niederzuschlagen. Jst der Fabrikant gemein genug, so ist seine Fabrik zugleich sein Harem; und daß nicht alle Fabrikanten Gebrauch von ihrem Rechte machen, verändert die Sachlage in Beziehung auf die Mädchen durchaus nicht. Die Fabrikanten führten das schändliche System des Nachtarbeitens ein; bei Einigen waren zwei stehende Klassen von Arbeitern, jede so stark, um die ganze Fabrik besetzen zu können, und die eine Klasse arbeitete die zwölf Tages=, die andre die zwölf Nachtstunden. Man kann sich leicht denken, welche Folgen eine solche dauernde Beraubung der Nachtruhe, die durch einen Tages- schlaf nicht zu ersetzen ist, auf die körperliche Lage, nament- lich kleiner und größerer Kinder und selbst Erwachsener, haben mußte. Aufreizung des ganzen Nervensystems, ver- bunden mit allgemeiner Schwächung und Erschlaffung des ganzen Körpers, waren die nothwendigen Resultate. 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Und damit uns kein Zweifel über die Ursache der Kin- dermorde bleibe, so kommt uns auch hier wieder die Statistik zu Hülfe, und zeigt uns, daß die Kindermorde in den 14 Departements, in welchen die meiste Gewerbsthätigkeit herrscht, sich zu den Kindermorden in ganz Frankreich, wie 40 zu 100 verhalten. Also stets das größte Elend da, wo die Jndustrie ihre Werkstätten aufgeschlagen hat! Der Staat mußte erst jeder armen Mutter entgegnen kommen und zu ihr sagen: „Jch nehme die Sorge für Deine Kinder auf mich. Jch öffne Hospitäler und Findelhäuser.“ Das war aber noch zu wenig. Man hätte weiter gehen und die Hindernisse aus dem Wege räumen sollen, welche das System der Ohnmacht erforderlich machten. Man hat der Mutter, welche sich ihres Kindes entsagt, Geheimhaltung zugesichert; wer wird aber die Fortschritte der wilden Ehen hemmen, da man sich jetzt den lockenden Freuden überlassen kann, ohne die Lasten befürchten zu müssen, welche auf dieselben folgen? 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Und da es sich hier einmal um Zahlen handelt, so müssen wir be- merken, wie die Ausgaben von dem Jahr 1815 bis zu dem Jahr 1831 gestiegen sind: Jm Departement Charente stie- gen sie von 45,232 Fr. auf 92,454; im Dep. des Landes von 66,579 auf 116,986 Fr.; im Dep. der Loire von 50,079 auf 83,492 Fr. Und so im ganzen übrigen Frankreich. Jm Jahr 1825 warf der Generalrath für die Findelkinder 5,915,744 Franken aus, und am Ende des Jahres erhob sich noch ein Deficit von 230,418 Fr. — Es entrollt sich uns in den vorstehenden, unbestreit- bar richtigen Angaben ein Bild, wie es schwärzer die leb- hafteste Phantasie nicht ersinnen kann. Deutsche Verhält- nisse sind leider bisher allzu ungenügend untersucht worden; aber das offen zu Tage liegende ungeheure Wachsthum

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social04_1873/6>, abgerufen am 24.11.2024.