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Reichspost. Nr. 309, Wien, 04.07.1914. Beilage.

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Wien, Samstag Reichspost 4. Juli 1914 Nr. 309

[Spaltenumbruch] Revolver und legte ihn auf die Frau an. Frau Holansky
schrie auf und suchte zu flüchten; da krachte aber auch schon
ein Schuß und die Kugel sauste hart an der Frau vorbei.
Sie streifte Frau Holansky an der Stirne. Uhlig legte dann
auch auf den Geschäftsdiener Johann Ritschl an. Zweimal
schoß er auf seinen vermeintlichen Rivalen, traf ihn aber
nicht. Dann stürmte Uhlig aus dem Lokale und wollte auf
der Straße sich selbst erschießen. Schon hatte er die Waffe
an die Brust angelegt, als der Sicherheitswachinspektor
Karl Fuchs auf ihn zutrat und ihn verhaftete.

* Silberne Hochzeit.

Am 28. Juni beging Herr
Fr. Soukup mit seiner Gattin Antonie in der
Neulerchenfelder Pfarrkirche "Zur schmerzhaften Mut-
tergottes" das [Fe]st der silbernen Hochzeit. Pfarrer
Franz Xaver Lindner, zugleich Präses der Männer-
kongregation, welcher Herr Soukup schon durch zehn
Jahre als Mitglied angehörte, segnete den Bund mit
einer tief ergreifenden Ansprache ein. Zu der Feier fan-
den sich viele Freunde und Bekannte, die Männerkon-
gregation "Mater Dolorosa", welche mit der Fahne aus-
rückte, ferner der Katholische Volksbund Neulerchenfeld,
der Sparverein "Maria Zell" und die Sektion "Neu-
lerchenfelder Christkind" ein. Nach der kirchlichen Feier
sang der Cäcilienchor Neulerchenfeld, welcher unter der
Leitung des Hw. Rektors H. Gotzes von der Hl.
Geistkirche steht, das Weihelied "Das ist der Tag des
Herrn".

Der erste weibliche Gefangenaufseher in Oesterreich.

Die Hausbesitzerstochter Stefanie Naringbauer aus
Amstetten wurde vom Oberlandesgerichte in Wien zur
provisorischen Gefangenaufseherin für das kreisgerichtliche
Gefangenhaus in Ried bestellt und hat ihren Posten am
1. d. M. angetreten. Fräulein Naringbauer ist der erste
weibliche Gefangenaufseher in Oesterreich.




Aus dem Gerichtssaale.
Die Komenskyschule vor dem Verwaltungs-
gerichtshofe.

Die in der Oeffentlichkeit viel erörterte Angelegen-
heit der vom Komenskyverein auf der Landstraße,
Schützengasse Nr. 31 geleiteten tschechischen Volksschule
bildet heute beim Verwaltungsgerichtshofe den Gegen-
stand einer Beschwerde, welche die Stadtgemeinde
Wien bekanntlich gegen das Ministerium des Innern
eingebracht hat und die noch von dem seither verstorbenen
Vizebürgermeister Dr. Porzer gefertigt ist.

Als Vertreter des mitbeteiligten Komenskyvereines
nterveniert Dr. Artur Kantor.




Die Diebstahlsbeschuldigung gegen den Abg. Wastian.

Aus Graz wird uns telegraphiert: Gestern nachmittag
fand vor dem hiesigen Bezirksgerichte die Verhandlung
gegen den Abg. Franz Wastian wegen Diebstahls statt.
[Spaltenumbruch] Am 10. November v. J. war der Vertreter der Buchhand-
lung Leuschner und Lubetzky Krakowitzer bei der
Polizei erschienen und hatte angezeigt, daß der Abgeord-
nete Wastian heimlich Bücher eingesteckt und mit sich
genommen habe. In der Wohnung des Abgeordneten
wurden auch mehrere Bände gefunden, die er dann be-
zahlte. Diese Beschuldigung hatte zur Folge, daß Wastian
sein Reichsratsmandat zurücklegte. Vom Landtag wurde
Herr Wastian ausgeliefert. Der Beschuldigte gab in der
von LGR. Ritter von Fritsch geführten Verhandlung
an, daß er jahrelang Kunde in der Buchhandlung ge-
wesen sei. Es sei unfaßlich, daß man ihm, den das Ver-
trauen der Bevölkerung in die Vertretungskörper berief,
einen Diebstahl zumute. Er habe allerdings Bücher zur
Einsicht nach Hause mitgenommen, aber sie noch abgeson-
dert auf einew Tisch gelegt, um sie dann nach Einsicht in
diese zu bezahlen oder zurückzuschicken. Der Richter sprach
Abg. Wastian frei, da von einem Diebstahl keine Rede
sein könne.


[Spaltenumbruch]
Wiener Kirchenmusik

für Sonntag den 5. Juli.

K. k. Hofpfarre St. Augustin: In der Zeit vom
5. Juli bis 15. August findet statt des Hochamtes mit Musik
die Segenmesse statt. -- Pfarrkirche in Hetzendorf
(10 Uhr): Tantum ergo von Schubert, Krönungsmesse von
Mozart, Offertorium von R. Schmetterer.




Theater von heute.
Raimundtheater. 1/28 Uhr: "Jägerblut". (Ende gegen
10 Uhr.)
Theater a. d. Wien. 8 Uhr: "Müllers". (Ende gegen
10 Uhr.)
Carltheater. 8 Uhr: "Die Kinokönigin". (Ende 1/211 Uhr.)
Lustspieltheater. 9 Uhr: "Die rote Redoute", "Die spanische
Fliege". (Ende nach 11 Uhr.)



[Spaltenumbruch]

9. Folge.

Nachdruck verboten.

Stern Nr. 300.



Hempel betrachtete die zwei von Diamanten einge-
faßten Katzenaugen.

"Ein sehr schön gearbeitetes Stück. Man begreift,
daß es den Sohn eines Juweliers reizen mußte ... da
es vielleicht kein zweites solches Exemplar auf Erden
gibt. Um so liebenswürdiger von dem jungen Mann,
dieses corpus delicti so sorglos in der Tasche zu be-
halten!"

"Er war eben auf eine Verhaftung durchaus nicht
gefaßt."

"Ach so. Wie erklärt er nun den Besitz dieser selte-
nen Quarzvarietät?"

"Das werden wir binnen fünf Minuten erfahren.
Ich gab eben, als Sie kamen, den Auftrag, Tiersteiner
vorzuführen."

"Hm -- das wird ja recht interessant werden."

Hempel starrte einen Augenblick in die Luft, dann
sah er den Untersuchungsrichter lächelnd an.

"Wissen Sie was? Sie können mir die Gefälligkeit
tun, mich dabei das Protokoll führen zu lassen. Viel-
leicht bekehrt mich die Verantwortung des Gefangenen
zu Ihrer Ansicht."

"Ich habe nicht das Mindeste dagegen."




6. Kapitel.

Richard Tiersteiner stand vor dem Untersuchungs-
richter.

Wenn Wasmut gesagt hätte, der junge Mann biete
das Bild eines Schuldigen, so hätte er nicht gelogen.

Die ursprünglich edlen Züge des Angeklagten
waren verstört, in den sonst sonnig und heiter drein-
blickenden braunen Augen flackerte ein unstetes Licht,
und das lockige Haar klebte wirr an der bleichen Stirne.

Silas Hempel, der an einem kleinen Seitentisch den
Platz des Protokollführers eingenommen, während
Brandner sich ganz in den Hintergrund des Zimmers
zurückgezogen hatte, sah dies alles auf den ersten Blick.

"Armer Teufel," dachte er, "Du magst eine schöne
Nacht hinter Dir haben! Wenn Dich die hübsche Harriet
so sähe! Nun -- nur Geduld!"

Aber nichts in Hempels Gesicht verriet diese
Gedanken. Vielmehr war nur gespannte Neu-
gier darauf zu lesen, als Wasmut nun das Verhör zu
eröffnen begann.

"Ich habe Sie rufen lassen, Herr Tiersteiner, um
noch einmal auf die Fragen zurückzukommen, die ich
Ihnen bereits heute nacht stellte. Es handelt sich um
[Spaltenumbruch] Ihr Alibi. Wo befanden sie sich am 30. Mai zwischen
zehn und elf Uhr abends?"

Kein Zug in des Angeklagten Gesicht veränderte
sich.

"Ich glaube darauf bereits Antwort gegeben zu
haben! Ich ging spazieren."

"Ach -- Sie beharren immer noch auf dieser
lächerlichen Ausrede? Trotzdem der Gärtnerbursche von
Monplaisir Sie im Park sah und erkannte?"

"Der Bursche muß sich getäuscht haben."

"Nun, dann will ich Ihnen ein anderes Zeugnis
vorhalten, das ich bisher nur anzuführen unterließ,
weil ich Ihnen Zeit geben wollte, selbst die Wahrheit zu
sagen. Fräulein Henderson hat eingestanden, daß Sie
sich während der fraglichen Zeit in ihrer Gesellschaft
befanden und zwar --"

Ein Schrei unterbrach den Untersuchungsrichter.
Unter allen Anzeichen waßlosen Schreckens war
Richard Tiersteiner bis an den Tisch des Richters vorge-
stürzt und rief fassungslos: "Das hat Harriet -- o
Gott -- haben Sie sie denn auch verhaftet?"

"Nein. Dazu lag bisber keine Veranlassung vor.
Um so weniger, als Fräulein Henderson ja weniger
halsstarnig war als Sie -- und freiwillig eingestand,
daß Sie sich bei ihr in ihrem Zimmer befanden."

Es lag etwas Lauerndes in Ton und Blick des
Richters, aber der Angeklagte achtete nicht darauf.

Sichtlich erleichtert aufatmend, trat er zurück.

"Ah -- dies hat sie Ihnen gesagt?" rief er in völ-
lig geändertem Tone, weltmännisch -- fast heiter, daß
Wasmut und Brandner ihn sprachlos vor Ueberraschung
anstarrten. "Arme Harriet -- sie will ihren Ruf
opfern, um mir ein Alibi zu verschaffen! Aber Sie,
Herr Untersuchungsrichter, sind ein viel zu erfahrener
Menschenkenner, um diese rührende Selbstverleugnung
auch nur einen Moment zu glauben, nicht wahr?"

Wasmut war immer noch sichtlich verblüfft über
den jähren Stimmungswechsel seines Gefangenen.

"In der Tat," sagte er kopfschüttelnd, "Fräulein
Henderson macht nicht den Eindruck ... ich faßte ihre
Worte auch lediglich als einen Beweis dafür auf, daß
Sie zur fraglichen Zeit im Park von Monplaisir waren.
Vermutlich wollten Sie den Versuch machen, Fräulein
Henderson zu sprechen und der Oberst vereitelte diese
Absicht?"

"Der Tölpel," dachte Silas Hempel, während ein
kaum merkbares Lächeln über sein Gesicht huschte. "Erst
gibt er ihm ahnungslos durch Wiederholung von
Harriets Worten den Weg, den sie wünscht, daß Tier-
steiner einschlägt und nun legt er ihm die weitere Ver-
teidigung noch in den Mund. Und ich wette, er bildet
sich noch ein, seinen Inkulpaten in die Enge getrieben
zu haben!"


[Spaltenumbruch]

In der Tat ging Richard sofort auf Wasmuts Ge-
dankengang ein.

Völlig unbefangen, als hätte er nie zuvor geleug-
net, sagte er: "Ich sehe, daß es keinen Zweck hat, Herr
Untersuchungsrichter, Ihnen die Wahrheit länger zu
verschweigen. Ja -- ich war vorgestern abend im Park
von Monplaisir, aber nicht um Fräulein Henderson zu
sprechen, sondern nur, um noch einen Blick auf die
Fenster des geliebten Mädchens zu werfen. Das mag
vielleicht töricht scheinen, aber wenn Sie selbst jemals
geliebt haben, so werden Sie diese sentimentale An-
wandlung eines Verliebten begreifen."

Ein spöttisches Lächeln kräuselte des Richters
Lippen.

"Um wieviel Uhr kam Ihnen diese ,sentimentale'
Anwandlung?"

"Ich glaube, es muß zwischen neun und halb zehn
gewesen sein."

"Ach -- wie konnten Sie denn da in den Park
hinein, da das Tor um neun bereits versperrt wurde?"

Eine leichte Röte huschte über des jungen Mannes
Gesicht, aber die Antwort klang noch vollkommen sicher:
"Dies muß ein Irtum sein. Das Tor war wohl zu,
aber nicht versperrt."

"Und wie lange blieben Sie im Park?"

"O, ziemlich lange. Vielleicht zwei Stunden ... ge-
nau weiß ich es nicht. Die Nacht war schön und warm.
Ich setzte mich auf eine Bank, von der aus ich Harriets
erleuchtete Fenster sehen konnte und versank in allerlei
süße Zukunftsträume ..."

"Und Fräulein Henderson wollen Sie weder ge-
sehen, noch gesprochen haben die Zeit über?"

Ich sah sie nicht. Sie geht zeitig zu Bett, wie ich
weiß, und hatte bestimmt keine Ahnung von meiner
Anwesenheit, bis es ihr am andern Morgen vielleicht
von dem Gärtnerburschen erzählt worden sein mag."

Hempel blickte unruhig auf den Sprecher.

"Warum zum Teufel lügt er so ungereimtes Zeug
zusammen? Wasmut muß ja rein auf den Gedanken
kommen, nun wolle er sie schonen! Und meiner Treu,
so sieht es aus!"

Er wurde noch ärgerlicher, als er auf des Richters
Gesicht nichts als blanken Hohn las.

"Nun, das klingt ja rührend a la Toggenburg!
Aber wenn Sie so lange im Park saßen, müssen Sie
doch etwas von des Obersten Ermordung gemerkt
haben?"

"So lange ich mich dort befand, geschah nicht das
Mindeste, was meine Aufmerksamkeit hätte in An-
spruch nehmen können. Ich glaube den Obersten längst
schlafend."

(Fortsetzung folgt.)


Herausgeber Dr. F. Funder, Wien. -- Verantwortlicher Redakteur Heinrich Ambros, Wien. --
Druck von Ambros Opitz' Nachfolger, Wien.


Wien, Samstag Reichspoſt 4. Juli 1914 Nr. 309

[Spaltenumbruch] Revolver und legte ihn auf die Frau an. Frau Holansky
ſchrie auf und ſuchte zu flüchten; da krachte aber auch ſchon
ein Schuß und die Kugel ſauſte hart an der Frau vorbei.
Sie ſtreifte Frau Holansky an der Stirne. Uhlig legte dann
auch auf den Geſchäftsdiener Johann Ritſchl an. Zweimal
ſchoß er auf ſeinen vermeintlichen Rivalen, traf ihn aber
nicht. Dann ſtürmte Uhlig aus dem Lokale und wollte auf
der Straße ſich ſelbſt erſchießen. Schon hatte er die Waffe
an die Bruſt angelegt, als der Sicherheitswachinſpektor
Karl Fuchs auf ihn zutrat und ihn verhaftete.

* Silberne Hochzeit.

Am 28. Juni beging Herr
Fr. Soukup mit ſeiner Gattin Antonie in der
Neulerchenfelder Pfarrkirche „Zur ſchmerzhaften Mut-
tergottes“ das [Fe]ſt der ſilbernen Hochzeit. Pfarrer
Franz Xaver Lindner, zugleich Präſes der Männer-
kongregation, welcher Herr Soukup ſchon durch zehn
Jahre als Mitglied angehörte, ſegnete den Bund mit
einer tief ergreifenden Anſprache ein. Zu der Feier fan-
den ſich viele Freunde und Bekannte, die Männerkon-
gregation „Mater Doloroſa“, welche mit der Fahne aus-
rückte, ferner der Katholiſche Volksbund Neulerchenfeld,
der Sparverein „Maria Zell“ und die Sektion „Neu-
lerchenfelder Chriſtkind“ ein. Nach der kirchlichen Feier
ſang der Cäcilienchor Neulerchenfeld, welcher unter der
Leitung des Hw. Rektors H. Gotzes von der Hl.
Geiſtkirche ſteht, das Weihelied „Das iſt der Tag des
Herrn“.

Der erſte weibliche Gefangenaufſeher in Oeſterreich.

Die Hausbeſitzerstochter Stefanie Naringbauer aus
Amſtetten wurde vom Oberlandesgerichte in Wien zur
proviſoriſchen Gefangenaufſeherin für das kreisgerichtliche
Gefangenhaus in Ried beſtellt und hat ihren Poſten am
1. d. M. angetreten. Fräulein Naringbauer iſt der erſte
weibliche Gefangenaufſeher in Oeſterreich.




Aus dem Gerichtsſaale.
Die Komenskyſchule vor dem Verwaltungs-
gerichtshofe.

Die in der Oeffentlichkeit viel erörterte Angelegen-
heit der vom Komenskyverein auf der Landſtraße,
Schützengaſſe Nr. 31 geleiteten tſchechiſchen Volksſchule
bildet heute beim Verwaltungsgerichtshofe den Gegen-
ſtand einer Beſchwerde, welche die Stadtgemeinde
Wien bekanntlich gegen das Miniſterium des Innern
eingebracht hat und die noch von dem ſeither verſtorbenen
Vizebürgermeiſter Dr. Porzer gefertigt iſt.

Als Vertreter des mitbeteiligten Komenskyvereines
nterveniert Dr. Artur Kantor.




Die Diebſtahlsbeſchuldigung gegen den Abg. Waſtian.

Aus Graz wird uns telegraphiert: Geſtern nachmittag
fand vor dem hieſigen Bezirksgerichte die Verhandlung
gegen den Abg. Franz Waſtian wegen Diebſtahls ſtatt.
[Spaltenumbruch] Am 10. November v. J. war der Vertreter der Buchhand-
lung Leuſchner und Lubetzky Krakowitzer bei der
Polizei erſchienen und hatte angezeigt, daß der Abgeord-
nete Waſtian heimlich Bücher eingeſteckt und mit ſich
genommen habe. In der Wohnung des Abgeordneten
wurden auch mehrere Bände gefunden, die er dann be-
zahlte. Dieſe Beſchuldigung hatte zur Folge, daß Waſtian
ſein Reichsratsmandat zurücklegte. Vom Landtag wurde
Herr Waſtian ausgeliefert. Der Beſchuldigte gab in der
von LGR. Ritter von Fritſch geführten Verhandlung
an, daß er jahrelang Kunde in der Buchhandlung ge-
weſen ſei. Es ſei unfaßlich, daß man ihm, den das Ver-
trauen der Bevölkerung in die Vertretungskörper berief,
einen Diebſtahl zumute. Er habe allerdings Bücher zur
Einſicht nach Hauſe mitgenommen, aber ſie noch abgeſon-
dert auf einew Tiſch gelegt, um ſie dann nach Einſicht in
dieſe zu bezahlen oder zurückzuſchicken. Der Richter ſprach
Abg. Waſtian frei, da von einem Diebſtahl keine Rede
ſein könne.


[Spaltenumbruch]
Wiener Kirchenmuſik

für Sonntag den 5. Juli.

K. k. Hofpfarre St. Auguſtin: In der Zeit vom
5. Juli bis 15. Auguſt findet ſtatt des Hochamtes mit Muſik
die Segenmeſſe ſtatt. — Pfarrkirche in Hetzendorf
(10 Uhr): Tantum ergo von Schubert, Krönungsmeſſe von
Mozart, Offertorium von R. Schmetterer.




Theater von heute.
Raimundtheater. ½8 Uhr: „Jägerblut“. (Ende gegen
10 Uhr.)
Theater a. d. Wien. 8 Uhr: „Müllers“. (Ende gegen
10 Uhr.)
Carltheater. 8 Uhr: „Die Kinokönigin“. (Ende ½11 Uhr.)
Luſtſpieltheater. 9 Uhr: „Die rote Redoute“, „Die ſpaniſche
Fliege“. (Ende nach 11 Uhr.)



[Spaltenumbruch]

9. Folge.

Nachdruck verboten.

Stern Nr. 300.



Hempel betrachtete die zwei von Diamanten einge-
faßten Katzenaugen.

„Ein ſehr ſchön gearbeitetes Stück. Man begreift,
daß es den Sohn eines Juweliers reizen mußte ... da
es vielleicht kein zweites ſolches Exemplar auf Erden
gibt. Um ſo liebenswürdiger von dem jungen Mann,
dieſes corpus delicti ſo ſorglos in der Taſche zu be-
halten!“

„Er war eben auf eine Verhaftung durchaus nicht
gefaßt.“

„Ach ſo. Wie erklärt er nun den Beſitz dieſer ſelte-
nen Quarzvarietät?“

„Das werden wir binnen fünf Minuten erfahren.
Ich gab eben, als Sie kamen, den Auftrag, Tierſteiner
vorzuführen.“

„Hm — das wird ja recht intereſſant werden.“

Hempel ſtarrte einen Augenblick in die Luft, dann
ſah er den Unterſuchungsrichter lächelnd an.

„Wiſſen Sie was? Sie können mir die Gefälligkeit
tun, mich dabei das Protokoll führen zu laſſen. Viel-
leicht bekehrt mich die Verantwortung des Gefangenen
zu Ihrer Anſicht.“

„Ich habe nicht das Mindeſte dagegen.“




6. Kapitel.

Richard Tierſteiner ſtand vor dem Unterſuchungs-
richter.

Wenn Wasmut geſagt hätte, der junge Mann biete
das Bild eines Schuldigen, ſo hätte er nicht gelogen.

Die urſprünglich edlen Züge des Angeklagten
waren verſtört, in den ſonſt ſonnig und heiter drein-
blickenden braunen Augen flackerte ein unſtetes Licht,
und das lockige Haar klebte wirr an der bleichen Stirne.

Silas Hempel, der an einem kleinen Seitentiſch den
Platz des Protokollführers eingenommen, während
Brandner ſich ganz in den Hintergrund des Zimmers
zurückgezogen hatte, ſah dies alles auf den erſten Blick.

„Armer Teufel,“ dachte er, „Du magſt eine ſchöne
Nacht hinter Dir haben! Wenn Dich die hübſche Harriet
ſo ſähe! Nun — nur Geduld!“

Aber nichts in Hempels Geſicht verriet dieſe
Gedanken. Vielmehr war nur geſpannte Neu-
gier darauf zu leſen, als Wasmut nun das Verhör zu
eröffnen begann.

„Ich habe Sie rufen laſſen, Herr Tierſteiner, um
noch einmal auf die Fragen zurückzukommen, die ich
Ihnen bereits heute nacht ſtellte. Es handelt ſich um
[Spaltenumbruch] Ihr Alibi. Wo befanden ſie ſich am 30. Mai zwiſchen
zehn und elf Uhr abends?“

Kein Zug in des Angeklagten Geſicht veränderte
ſich.

„Ich glaube darauf bereits Antwort gegeben zu
haben! Ich ging ſpazieren.“

„Ach — Sie beharren immer noch auf dieſer
lächerlichen Ausrede? Trotzdem der Gärtnerburſche von
Monplaiſir Sie im Park ſah und erkannte?“

„Der Burſche muß ſich getäuſcht haben.“

„Nun, dann will ich Ihnen ein anderes Zeugnis
vorhalten, das ich bisher nur anzuführen unterließ,
weil ich Ihnen Zeit geben wollte, ſelbſt die Wahrheit zu
ſagen. Fräulein Henderſon hat eingeſtanden, daß Sie
ſich während der fraglichen Zeit in ihrer Geſellſchaft
befanden und zwar —“

Ein Schrei unterbrach den Unterſuchungsrichter.
Unter allen Anzeichen waßloſen Schreckens war
Richard Tierſteiner bis an den Tiſch des Richters vorge-
ſtürzt und rief faſſungslos: „Das hat Harriet — o
Gott — haben Sie ſie denn auch verhaftet?“

„Nein. Dazu lag bisber keine Veranlaſſung vor.
Um ſo weniger, als Fräulein Henderſon ja weniger
halsſtarnig war als Sie — und freiwillig eingeſtand,
daß Sie ſich bei ihr in ihrem Zimmer befanden.“

Es lag etwas Lauerndes in Ton und Blick des
Richters, aber der Angeklagte achtete nicht darauf.

Sichtlich erleichtert aufatmend, trat er zurück.

„Ah — dies hat ſie Ihnen geſagt?“ rief er in völ-
lig geändertem Tone, weltmänniſch — faſt heiter, daß
Wasmut und Brandner ihn ſprachlos vor Ueberraſchung
anſtarrten. „Arme Harriet — ſie will ihren Ruf
opfern, um mir ein Alibi zu verſchaffen! Aber Sie,
Herr Unterſuchungsrichter, ſind ein viel zu erfahrener
Menſchenkenner, um dieſe rührende Selbſtverleugnung
auch nur einen Moment zu glauben, nicht wahr?“

Wasmut war immer noch ſichtlich verblüfft über
den jähren Stimmungswechſel ſeines Gefangenen.

„In der Tat,“ ſagte er kopfſchüttelnd, „Fräulein
Henderſon macht nicht den Eindruck ... ich faßte ihre
Worte auch lediglich als einen Beweis dafür auf, daß
Sie zur fraglichen Zeit im Park von Monplaiſir waren.
Vermutlich wollten Sie den Verſuch machen, Fräulein
Henderſon zu ſprechen und der Oberſt vereitelte dieſe
Abſicht?“

„Der Tölpel,“ dachte Silas Hempel, während ein
kaum merkbares Lächeln über ſein Geſicht huſchte. „Erſt
gibt er ihm ahnungslos durch Wiederholung von
Harriets Worten den Weg, den ſie wünſcht, daß Tier-
ſteiner einſchlägt und nun legt er ihm die weitere Ver-
teidigung noch in den Mund. Und ich wette, er bildet
ſich noch ein, ſeinen Inkulpaten in die Enge getrieben
zu haben!“


[Spaltenumbruch]

In der Tat ging Richard ſofort auf Wasmuts Ge-
dankengang ein.

Völlig unbefangen, als hätte er nie zuvor geleug-
net, ſagte er: „Ich ſehe, daß es keinen Zweck hat, Herr
Unterſuchungsrichter, Ihnen die Wahrheit länger zu
verſchweigen. Ja — ich war vorgeſtern abend im Park
von Monplaiſir, aber nicht um Fräulein Henderſon zu
ſprechen, ſondern nur, um noch einen Blick auf die
Fenſter des geliebten Mädchens zu werfen. Das mag
vielleicht töricht ſcheinen, aber wenn Sie ſelbſt jemals
geliebt haben, ſo werden Sie dieſe ſentimentale An-
wandlung eines Verliebten begreifen.“

Ein ſpöttiſches Lächeln kräuſelte des Richters
Lippen.

„Um wieviel Uhr kam Ihnen dieſe ‚ſentimentale‘
Anwandlung?“

„Ich glaube, es muß zwiſchen neun und halb zehn
geweſen ſein.“

„Ach — wie konnten Sie denn da in den Park
hinein, da das Tor um neun bereits verſperrt wurde?“

Eine leichte Röte huſchte über des jungen Mannes
Geſicht, aber die Antwort klang noch vollkommen ſicher:
„Dies muß ein Irtum ſein. Das Tor war wohl zu,
aber nicht verſperrt.“

„Und wie lange blieben Sie im Park?“

„O, ziemlich lange. Vielleicht zwei Stunden ... ge-
nau weiß ich es nicht. Die Nacht war ſchön und warm.
Ich ſetzte mich auf eine Bank, von der aus ich Harriets
erleuchtete Fenſter ſehen konnte und verſank in allerlei
ſüße Zukunftsträume ...“

„Und Fräulein Henderſon wollen Sie weder ge-
ſehen, noch geſprochen haben die Zeit über?“

Ich ſah ſie nicht. Sie geht zeitig zu Bett, wie ich
weiß, und hatte beſtimmt keine Ahnung von meiner
Anweſenheit, bis es ihr am andern Morgen vielleicht
von dem Gärtnerburſchen erzählt worden ſein mag.“

Hempel blickte unruhig auf den Sprecher.

„Warum zum Teufel lügt er ſo ungereimtes Zeug
zuſammen? Wasmut muß ja rein auf den Gedanken
kommen, nun wolle er ſie ſchonen! Und meiner Treu,
ſo ſieht es aus!“

Er wurde noch ärgerlicher, als er auf des Richters
Geſicht nichts als blanken Hohn las.

„Nun, das klingt ja rührend à la Toggenburg!
Aber wenn Sie ſo lange im Park ſaßen, müſſen Sie
doch etwas von des Oberſten Ermordung gemerkt
haben?“

„So lange ich mich dort befand, geſchah nicht das
Mindeſte, was meine Aufmerkſamkeit hätte in An-
ſpruch nehmen können. Ich glaube den Oberſten längſt
ſchlafend.“

(Fortſetzung folgt.)


Herausgeber Dr. F. Funder, Wien. — Verantwortlicher Redakteur Heinrich Ambros, Wien. —
Druck von Ambros Opitz’ Nachfolger, Wien.


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Druck von Ambros Opitz&#x2019; Nachfolger, Wien.</p>
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[4/0004] Wien, Samstag Reichspoſt 4. Juli 1914 Nr. 309 Revolver und legte ihn auf die Frau an. Frau Holansky ſchrie auf und ſuchte zu flüchten; da krachte aber auch ſchon ein Schuß und die Kugel ſauſte hart an der Frau vorbei. Sie ſtreifte Frau Holansky an der Stirne. Uhlig legte dann auch auf den Geſchäftsdiener Johann Ritſchl an. Zweimal ſchoß er auf ſeinen vermeintlichen Rivalen, traf ihn aber nicht. Dann ſtürmte Uhlig aus dem Lokale und wollte auf der Straße ſich ſelbſt erſchießen. Schon hatte er die Waffe an die Bruſt angelegt, als der Sicherheitswachinſpektor Karl Fuchs auf ihn zutrat und ihn verhaftete. * Silberne Hochzeit. Am 28. Juni beging Herr Fr. Soukup mit ſeiner Gattin Antonie in der Neulerchenfelder Pfarrkirche „Zur ſchmerzhaften Mut- tergottes“ das Feſt der ſilbernen Hochzeit. Pfarrer Franz Xaver Lindner, zugleich Präſes der Männer- kongregation, welcher Herr Soukup ſchon durch zehn Jahre als Mitglied angehörte, ſegnete den Bund mit einer tief ergreifenden Anſprache ein. Zu der Feier fan- den ſich viele Freunde und Bekannte, die Männerkon- gregation „Mater Doloroſa“, welche mit der Fahne aus- rückte, ferner der Katholiſche Volksbund Neulerchenfeld, der Sparverein „Maria Zell“ und die Sektion „Neu- lerchenfelder Chriſtkind“ ein. Nach der kirchlichen Feier ſang der Cäcilienchor Neulerchenfeld, welcher unter der Leitung des Hw. Rektors H. Gotzes von der Hl. Geiſtkirche ſteht, das Weihelied „Das iſt der Tag des Herrn“. Der erſte weibliche Gefangenaufſeher in Oeſterreich. Die Hausbeſitzerstochter Stefanie Naringbauer aus Amſtetten wurde vom Oberlandesgerichte in Wien zur proviſoriſchen Gefangenaufſeherin für das kreisgerichtliche Gefangenhaus in Ried beſtellt und hat ihren Poſten am 1. d. M. angetreten. Fräulein Naringbauer iſt der erſte weibliche Gefangenaufſeher in Oeſterreich. Aus dem Gerichtsſaale. Die Komenskyſchule vor dem Verwaltungs- gerichtshofe. Die in der Oeffentlichkeit viel erörterte Angelegen- heit der vom Komenskyverein auf der Landſtraße, Schützengaſſe Nr. 31 geleiteten tſchechiſchen Volksſchule bildet heute beim Verwaltungsgerichtshofe den Gegen- ſtand einer Beſchwerde, welche die Stadtgemeinde Wien bekanntlich gegen das Miniſterium des Innern eingebracht hat und die noch von dem ſeither verſtorbenen Vizebürgermeiſter Dr. Porzer gefertigt iſt. Als Vertreter des mitbeteiligten Komenskyvereines nterveniert Dr. Artur Kantor. Die Diebſtahlsbeſchuldigung gegen den Abg. Waſtian. Aus Graz wird uns telegraphiert: Geſtern nachmittag fand vor dem hieſigen Bezirksgerichte die Verhandlung gegen den Abg. Franz Waſtian wegen Diebſtahls ſtatt. Am 10. November v. J. war der Vertreter der Buchhand- lung Leuſchner und Lubetzky Krakowitzer bei der Polizei erſchienen und hatte angezeigt, daß der Abgeord- nete Waſtian heimlich Bücher eingeſteckt und mit ſich genommen habe. In der Wohnung des Abgeordneten wurden auch mehrere Bände gefunden, die er dann be- zahlte. Dieſe Beſchuldigung hatte zur Folge, daß Waſtian ſein Reichsratsmandat zurücklegte. Vom Landtag wurde Herr Waſtian ausgeliefert. Der Beſchuldigte gab in der von LGR. Ritter von Fritſch geführten Verhandlung an, daß er jahrelang Kunde in der Buchhandlung ge- weſen ſei. Es ſei unfaßlich, daß man ihm, den das Ver- trauen der Bevölkerung in die Vertretungskörper berief, einen Diebſtahl zumute. Er habe allerdings Bücher zur Einſicht nach Hauſe mitgenommen, aber ſie noch abgeſon- dert auf einew Tiſch gelegt, um ſie dann nach Einſicht in dieſe zu bezahlen oder zurückzuſchicken. Der Richter ſprach Abg. Waſtian frei, da von einem Diebſtahl keine Rede ſein könne. Wiener Kirchenmuſik für Sonntag den 5. Juli. K. k. Hofpfarre St. Auguſtin: In der Zeit vom 5. Juli bis 15. Auguſt findet ſtatt des Hochamtes mit Muſik die Segenmeſſe ſtatt. — Pfarrkirche in Hetzendorf (10 Uhr): Tantum ergo von Schubert, Krönungsmeſſe von Mozart, Offertorium von R. Schmetterer. Theater von heute. Raimundtheater. ½8 Uhr: „Jägerblut“. (Ende gegen 10 Uhr.) Theater a. d. Wien. 8 Uhr: „Müllers“. (Ende gegen 10 Uhr.) Carltheater. 8 Uhr: „Die Kinokönigin“. (Ende ½11 Uhr.) Luſtſpieltheater. 9 Uhr: „Die rote Redoute“, „Die ſpaniſche Fliege“. (Ende nach 11 Uhr.) 9. Folge. Nachdruck verboten. Stern Nr. 300. Kriminalroman von Erich Ebenſtein. Hempel betrachtete die zwei von Diamanten einge- faßten Katzenaugen. „Ein ſehr ſchön gearbeitetes Stück. Man begreift, daß es den Sohn eines Juweliers reizen mußte ... da es vielleicht kein zweites ſolches Exemplar auf Erden gibt. Um ſo liebenswürdiger von dem jungen Mann, dieſes corpus delicti ſo ſorglos in der Taſche zu be- halten!“ „Er war eben auf eine Verhaftung durchaus nicht gefaßt.“ „Ach ſo. Wie erklärt er nun den Beſitz dieſer ſelte- nen Quarzvarietät?“ „Das werden wir binnen fünf Minuten erfahren. Ich gab eben, als Sie kamen, den Auftrag, Tierſteiner vorzuführen.“ „Hm — das wird ja recht intereſſant werden.“ Hempel ſtarrte einen Augenblick in die Luft, dann ſah er den Unterſuchungsrichter lächelnd an. „Wiſſen Sie was? Sie können mir die Gefälligkeit tun, mich dabei das Protokoll führen zu laſſen. Viel- leicht bekehrt mich die Verantwortung des Gefangenen zu Ihrer Anſicht.“ „Ich habe nicht das Mindeſte dagegen.“ 6. Kapitel. Richard Tierſteiner ſtand vor dem Unterſuchungs- richter. Wenn Wasmut geſagt hätte, der junge Mann biete das Bild eines Schuldigen, ſo hätte er nicht gelogen. Die urſprünglich edlen Züge des Angeklagten waren verſtört, in den ſonſt ſonnig und heiter drein- blickenden braunen Augen flackerte ein unſtetes Licht, und das lockige Haar klebte wirr an der bleichen Stirne. Silas Hempel, der an einem kleinen Seitentiſch den Platz des Protokollführers eingenommen, während Brandner ſich ganz in den Hintergrund des Zimmers zurückgezogen hatte, ſah dies alles auf den erſten Blick. „Armer Teufel,“ dachte er, „Du magſt eine ſchöne Nacht hinter Dir haben! Wenn Dich die hübſche Harriet ſo ſähe! Nun — nur Geduld!“ Aber nichts in Hempels Geſicht verriet dieſe Gedanken. Vielmehr war nur geſpannte Neu- gier darauf zu leſen, als Wasmut nun das Verhör zu eröffnen begann. „Ich habe Sie rufen laſſen, Herr Tierſteiner, um noch einmal auf die Fragen zurückzukommen, die ich Ihnen bereits heute nacht ſtellte. Es handelt ſich um Ihr Alibi. Wo befanden ſie ſich am 30. Mai zwiſchen zehn und elf Uhr abends?“ Kein Zug in des Angeklagten Geſicht veränderte ſich. „Ich glaube darauf bereits Antwort gegeben zu haben! Ich ging ſpazieren.“ „Ach — Sie beharren immer noch auf dieſer lächerlichen Ausrede? Trotzdem der Gärtnerburſche von Monplaiſir Sie im Park ſah und erkannte?“ „Der Burſche muß ſich getäuſcht haben.“ „Nun, dann will ich Ihnen ein anderes Zeugnis vorhalten, das ich bisher nur anzuführen unterließ, weil ich Ihnen Zeit geben wollte, ſelbſt die Wahrheit zu ſagen. Fräulein Henderſon hat eingeſtanden, daß Sie ſich während der fraglichen Zeit in ihrer Geſellſchaft befanden und zwar —“ Ein Schrei unterbrach den Unterſuchungsrichter. Unter allen Anzeichen waßloſen Schreckens war Richard Tierſteiner bis an den Tiſch des Richters vorge- ſtürzt und rief faſſungslos: „Das hat Harriet — o Gott — haben Sie ſie denn auch verhaftet?“ „Nein. Dazu lag bisber keine Veranlaſſung vor. Um ſo weniger, als Fräulein Henderſon ja weniger halsſtarnig war als Sie — und freiwillig eingeſtand, daß Sie ſich bei ihr in ihrem Zimmer befanden.“ Es lag etwas Lauerndes in Ton und Blick des Richters, aber der Angeklagte achtete nicht darauf. Sichtlich erleichtert aufatmend, trat er zurück. „Ah — dies hat ſie Ihnen geſagt?“ rief er in völ- lig geändertem Tone, weltmänniſch — faſt heiter, daß Wasmut und Brandner ihn ſprachlos vor Ueberraſchung anſtarrten. „Arme Harriet — ſie will ihren Ruf opfern, um mir ein Alibi zu verſchaffen! Aber Sie, Herr Unterſuchungsrichter, ſind ein viel zu erfahrener Menſchenkenner, um dieſe rührende Selbſtverleugnung auch nur einen Moment zu glauben, nicht wahr?“ Wasmut war immer noch ſichtlich verblüfft über den jähren Stimmungswechſel ſeines Gefangenen. „In der Tat,“ ſagte er kopfſchüttelnd, „Fräulein Henderſon macht nicht den Eindruck ... ich faßte ihre Worte auch lediglich als einen Beweis dafür auf, daß Sie zur fraglichen Zeit im Park von Monplaiſir waren. Vermutlich wollten Sie den Verſuch machen, Fräulein Henderſon zu ſprechen und der Oberſt vereitelte dieſe Abſicht?“ „Der Tölpel,“ dachte Silas Hempel, während ein kaum merkbares Lächeln über ſein Geſicht huſchte. „Erſt gibt er ihm ahnungslos durch Wiederholung von Harriets Worten den Weg, den ſie wünſcht, daß Tier- ſteiner einſchlägt und nun legt er ihm die weitere Ver- teidigung noch in den Mund. Und ich wette, er bildet ſich noch ein, ſeinen Inkulpaten in die Enge getrieben zu haben!“ In der Tat ging Richard ſofort auf Wasmuts Ge- dankengang ein. Völlig unbefangen, als hätte er nie zuvor geleug- net, ſagte er: „Ich ſehe, daß es keinen Zweck hat, Herr Unterſuchungsrichter, Ihnen die Wahrheit länger zu verſchweigen. Ja — ich war vorgeſtern abend im Park von Monplaiſir, aber nicht um Fräulein Henderſon zu ſprechen, ſondern nur, um noch einen Blick auf die Fenſter des geliebten Mädchens zu werfen. Das mag vielleicht töricht ſcheinen, aber wenn Sie ſelbſt jemals geliebt haben, ſo werden Sie dieſe ſentimentale An- wandlung eines Verliebten begreifen.“ Ein ſpöttiſches Lächeln kräuſelte des Richters Lippen. „Um wieviel Uhr kam Ihnen dieſe ‚ſentimentale‘ Anwandlung?“ „Ich glaube, es muß zwiſchen neun und halb zehn geweſen ſein.“ „Ach — wie konnten Sie denn da in den Park hinein, da das Tor um neun bereits verſperrt wurde?“ Eine leichte Röte huſchte über des jungen Mannes Geſicht, aber die Antwort klang noch vollkommen ſicher: „Dies muß ein Irtum ſein. Das Tor war wohl zu, aber nicht verſperrt.“ „Und wie lange blieben Sie im Park?“ „O, ziemlich lange. Vielleicht zwei Stunden ... ge- nau weiß ich es nicht. Die Nacht war ſchön und warm. Ich ſetzte mich auf eine Bank, von der aus ich Harriets erleuchtete Fenſter ſehen konnte und verſank in allerlei ſüße Zukunftsträume ...“ „Und Fräulein Henderſon wollen Sie weder ge- ſehen, noch geſprochen haben die Zeit über?“ Ich ſah ſie nicht. Sie geht zeitig zu Bett, wie ich weiß, und hatte beſtimmt keine Ahnung von meiner Anweſenheit, bis es ihr am andern Morgen vielleicht von dem Gärtnerburſchen erzählt worden ſein mag.“ Hempel blickte unruhig auf den Sprecher. „Warum zum Teufel lügt er ſo ungereimtes Zeug zuſammen? Wasmut muß ja rein auf den Gedanken kommen, nun wolle er ſie ſchonen! Und meiner Treu, ſo ſieht es aus!“ Er wurde noch ärgerlicher, als er auf des Richters Geſicht nichts als blanken Hohn las. „Nun, das klingt ja rührend à la Toggenburg! Aber wenn Sie ſo lange im Park ſaßen, müſſen Sie doch etwas von des Oberſten Ermordung gemerkt haben?“ „So lange ich mich dort befand, geſchah nicht das Mindeſte, was meine Aufmerkſamkeit hätte in An- ſpruch nehmen können. Ich glaube den Oberſten längſt ſchlafend.“ (Fortſetzung folgt.) Herausgeber Dr. F. Funder, Wien. — Verantwortlicher Redakteur Heinrich Ambros, Wien. — Druck von Ambros Opitz’ Nachfolger, Wien.

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Benjamin Fiechter, Susanne Haaf: Bereitstellung der digitalen Textausgabe (Konvertierung in das DTA-Basisformat). (2018-01-26T13:38:42Z)
grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 309, Wien, 04.07.1914. Beilage, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost309_1914/4>, abgerufen am 23.11.2024.