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Reichspost. Nr. 280, Wien, 06.12.1894.

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Wien, Donnerstag Reichspost. 6 December 1894. 280

[Spaltenumbruch]
Soriale Rundschau.


Bebel, Vollmar, Liebknecht.

Der Streit in der deutschländischen Socialdemo-
kratie wird zwar von einigen Blättern (so der "Nord.
Allg. Ztg.", dem "Hamb. Corresp.") als eine Spiegel-
fechterei bezeichnet, die nur den Zweck habe, das ge-
plante Umsturzgesetz als unnöthig und als gegen eine
uneinige Partei gerichtet zn Fall zu bringen; wer aber
die Dinge etwas weniger oberflächlich und mit etwas
mehr Ernst zu betrachten gewohnt ist, wird sich der
Ueberzeugung nicht verschließen können, daß es sich um
einen sehr ernsten, sehr tief gehenden und sehr folgen-
schweren Streit innerhalb der scheinbar so wohl ge-
festigten deutschländischen Socialdemokratie handelt.
Es dreht sich der Streit auch keineswegs nur um die
beiden Rufer im Streite, um den norddeutschen
Bebel und den süddeutschen Vollmar, es steht eine
vollständige Mauserung, eine gänzliche Neubildung in
Sicht innerhalb der Partei, deren Cardinalpunkt
allerdings der Abgeordnete für München II Herr von
Vollmar ist.

Das Zerwürfniß Bebel-Vollmar datiert ja nicht
von gestern, nicht vom diesjährigen Parteitage zu
Frankfurt am Main her, es ist viel älter und trat
zuerst offen 1891 auf dem Parteitage zu Erfurt hervor.
Ausgetragen wurde damals der Zwist ebenso wenig,
wie er jetzt -- wenn nicht seiner tückischen Krankheit
Herr von Vollmar unterliegt -- sein Ende finden
wird, aber seit Erfurt ist der Anhang des bayerischen
Führers bedeutend gewachsen. Bebel, dessen herrisches,
rechthaberisches Wesen schon viele vor den Kopf
gestoßen, fürchtet, daß Vollmar ihm das
Heft aus der Hand winden wird, daß die
Vollmar'sche Richtung schließlich die Socialdemokratie
beherrsche. Und das dürfte der Fall sein, wenn Voll-
mar auch im Reichstage, dem er bis jetzt geflissentlich
fern geblieben, eine führende Rolle, die ihm als dem
hervorragendsten Süddeutschen zukommt, anstrebt.
Bebel ist der Mann der Theorien, der Held der
Phrase, Vollmar der Mann der Praxis, der That.
Und darin allein liegt der große Erfolg dieses
Mannes.

Vollmar erkannte, daß nach dem Sturze Bis-
marck's die Partei neue Pflichten erhalten
habe, daß sie praktisch etwas für die Arbeiter
anstreben müsse, mit dem ewigen Declamiren und
Demonstriren sei nichts gethan. Er stellte damals ein
ganz bestimmtes Programm für die nächste Zeit auf,
welches lautete: Weiterführung des Arbeiterschutzes,
Erringung eines wirklichen Coalitionsrechtes, Ent-
haltung der Behörden von den Streitigkeiten zwischen
Unternehmern und Arbeitern, Verbot der Trusts und
Cartelle, Beseitigung der Lebensmittelzölle. Und nach
diesen Zielen hat der Mann rastlos gestrebt und sich
dadurch so viele Anhänger erworben. Außerdem ist
Vollmar vermögend, er lebt nicht von der Partei, be-
ansprucht nichts für sich -- warum sollen seine Bayern
ihm nicht folgen.

Nun ist nicht zu leugnen, daß, wenn die Voll-
mar'sche Richtung sich consequent weiter entwickeln
würde, aus ihr eine radicale demokratische Volks-
[Spaltenumbruch] partei sich entwickeln, daß sie allmählich den social-
demokratischen Boden verlassen würde, so wenig Herr von
Vollmar dieses auch jetzt noch gelten lassen will.
Bebel behauptet, daß auch die Regierung dies bereits
erkannt habe und deshalb die Vollmar'sche Richtung
zu stärken suchen werde. Das ist natürlich ein gutes
Agitationsmittel gegen Vollmar, aber seine Anwendung
wird sofort zum Beweis, daß in der Partei ein Zwist
ausgebrochen ist, der dieselbe bis in ihre Grundfesten
erschüttert, der nicht beigelegt werden wird, wenn
Herr v. Vollmar auch diesmal seine Krankheit über-
windet. (Nach einem heutigen Telegramme ist Herr
v. Vollmar bereits in Berlin eingetroffen; seine Krank-
heit ist also behoben.)

Eines hat Vollmar in seinen Antworten auf
Bebel's Angriffe allerdings unbeantwortet gelassen,
was uns freilich als die Hauptsache erscheinen würde:
wie er sich den Fortbestand des Bauern-
standes
denkt. Vollmar fühlt offenbar, daß hier
der wunde Punkt seiner Stellung sogar in Bayern
liegt und es wird wohl noch längere Zeit vergehen,
bis er nochmals zu dieser für Bayern wichtigsten Frage
Stellung nimmt. In Frankfurt hat er sich für den
Fortbestand ausgesprochen, weil er nur unter dieser
Voraussetzung glaubt, unter den Bauern Anhänger ge-
winnen zu können.

Bebel wiederum hat ein recht werthvolles Zeug-
niß für unsere schon oft vertretene Behauptung abge-
geben, daß bei weitem nicht alle Socialdemokraten
sind, welche für deren Candidaten stimmen. Nachdem
er Vollmar persönliche Gehässigkeiten ins Gesicht ge-
worfen, ihn "Klosterschüler" (mit Anspielung auf
seine Erziehung) und wissentlichen Verbreiter von
Unwahrheiten genannt, wendet er sich gegen das Ein-
dringen "Unverläßlicher und Halber" in die Partei.
Vollmar befördere dieses Eindringen. Er führt für
die Nothwendigkeit einer zielbewußten Kritik auch an
den "großen Haufen", der in einer so rasch
sich vergrößernden Partei wie der Socialdemokratie
sich befinde und der "sich Socialdemokrat nennt, ohne
irgend nähere Kenntniß von den
eigentlichen Zielen der Partei zu
haben.
" Bebel erblickt hierin sogar "eine Gefahr,
die progressiv zunimmt, wie die Partei sich vergrößert
und der Haufe der Unklaren immer
mehr wächst
".

Die beiden Unzertrennlichen, Bebel und Lieb-
knecht
(ein Volkswitz nennt sie "Liebbebelknecht"),
sind in dieser Frage einmal nicht einig. Liebknecht
verurtheilt sowohl Ton wie Inhalt der Bebel'schen
Reden und erklärt, er werde sein Möglichstes thun,
den Streit einzudämmen und beizulegen. Dazu reicht
aber die Kraft Liebknecht's nicht aus, der Bruch ist
diesmal zu gründlich. Nur ein Mittel gibt es, die
beiden zu einen: ein neues Socialisten-
gesetz!
Das sollten sich alle Parlamentarier vor
Augen halten, wenn sie in den nächsten Wochen die
sogenannte Umsturzvorlage zu berathen haben werden.

Boycottgeschichten.

Ebenso wie der Berliner schleppt sich auch der
Braunschweiger Bierboycott, ohne für die
Socialdemokraten den gewünschten Erfolg zu erzielen,
träge weiter. Eine hübsche -- Geschichte deckte jüngst
der dortige "Volksfreund" auf: die beiden Leiter des
[Spaltenumbruch] Boycotts seien von einer nichtboycottirten Brauerei
in Dessau für Geld angestellt worden, den Boycott
zu schüren und aufrecht zu erhalten. Die beiden sauberen
"Genossen" haben die Richtigkeit dieser Beschuldigung
zugegeben und sind aus der Boycottcommission aus-
getreten. Damit dürfte dieser Bierboycott sein Ende
gefunden haben.

Die Berliner Bierboycott-Commission hat
die Frage erörtert, ob Genossen, welche Wiener Cafees
besuchen, in denen boycottirtes Bier ausgeschänkt wird,
sich der Zuwiderhandlung gegen den Boycott schuldig
gemacht haben, auch wenn sie in solchen Cafes kein
Bier trinken. Es handelt sich dabei u. A. um die Ab-
geordneten Liebknecht (!) und Bebel (!) und andere
Führer. Die Commission hat jedoch die Frage einst-
weilen offen gelassen, wohl wegen der -- "Führer"!

Kleine Nachrichten.

Den socialdemokratischen Studenten und Aka-
demikern soll in Berlin ein Fachblatt gegründet werden
unter dem Titel "Der socialistische Aka-
demiker".
Das Interessanteste an dieser Gründung
ist die Person des Redacteurs; derselbe ist ein --
Sattlergeselle. Wenn die Studenten und
Akademiker sich von einem Sattler ihr geistiges Brot
vorschneiden lassen, dann haben sie die in diesem Um-
stande liegende Hochachtung der Socialdemokratie vor
den "Akademikern", die auf dem letzten Parteitag in
Frankfurt zu oftmaligem Ausdrucke kam, redlich ver-
dient.

Die Zahl der belgischen Kohlenberg-
leute
betrug im Jahre 1893 insgesammt 116.861,
von denen 30.556 über Tage, 86.305 unter Tage
beschäftigt sind. Die Zahl der Frauen und
Mädchen
unter 21 Jahren, die unter Tage ver-
wandt werden, ist von 2968 im Jahre 1891 auf
1549 im Jahre 1893 zurückgegangen in Folge des
Gesetzes vom December 1889, wodurch ihre Arbeit
unter Tage vom 1. Januar 1891 verboten wurde.
Eine Ausnahme wurde gemacht für diejenigen, die
bereis beschäftigt waren. Die Zahl der Knaben
unter 14 Jahren, die unter Tage beschäftigt werden.
ist in dem gleichen Zeitraum von 2535 auf 1638 zu-
rückgegangen. In Folge ausgedehnter Streiks be-
trug die durchschnittliche Zahl der Arbeitstage 285
gegenüber 292 im Jahre 1892. Die Löhne beliefen
sich insgesammt auf 50 Millionen Gulden oder 2 55
Gulden für die Tonne geförderter Kohlen
oder 1·14 Gulden täglich für einen Arbeiter über
Tage und 1·59 Gulden für einen Arbeiter unter
Tage, abzüglich der Beiträge zu Hilfscassen und der
Strafgelder. Die Gesammtförderung an Kohlen be-
trug 1893 in Belgien 19,410 519 Tonnen gegen
19,583.173 im Vorjahre. Der Preis der Tonne be-
trug 1893 am Schacht 9·75 Frcs., 1892 dagegen
10·69 Frcs.




Versammlungen.
Verein "Christliche Familie" Ortsgruppe Leo-
poldstadt.

Im Saale zum "goldenen Widder" fand gestern
eine vom obigen Vereine einberufene Frauenversammlung
statt, die sehr stark befucht war. Obmann Oppenberger
eröffnete die Versammlung und ersuchte Se. Durchlaucht den
Reichsrathsabgeordneten Prinzen Liechtenstein das




[Spaltenumbruch]
35. Nachdruck verboten.
Viola.

Allein Rosenbaum, sein Haupt-Geldleiher und sein
Haupt Gläubiger war noch immer nachsichtig, denn
die Summe, die ihm der Lieutenant schuldig blieb,
wurde von Tag zu Tag größer, die hohen Wucher-
zinsen schwollen an -- und der Lieutenant war immer
mehr in seiner Gewalt und mit ihm das Vermögen
des Professors, auf welches der Jude bereits specu-
lirte. Er hatte es längst heraus, wie hoch es sich un-
befähr belaufen mußte, und es war, wenn auch nicht
viel, immerhin eine Summe. Sie reichte eben aus, um
seine Forderung zu decken. Aber Lieutenant von Finken-
stein hatte noch andere Gläubiger zu befriedigen, be-
sonders die Cohen und Seligmann, mit denen er spielte
und die ihn, mit Rosenbaum in geheimem Bunde, stets
drängten und gerade dadurch ihn immer wieder zum
Spielen verleiteten. Wie er sie demnächst befriedigen
wurde, Max von Finkenstein wußte keinen Rath,
Salomon Rosenbaum aber wußte einen, und als der
Lieutenant eines Tages zu ihm kam, um ein neues Dar-
lehen zu erbitten, sagte der alte Jude mit den weißen
Schmachtlocken und der langen, tiefgebogenen Nase
über dem großen, mit spärlichem Haar bedeckten Mund
in der schmutzigen Stube, die er als Geldwechsler
in einer entlegenen Straße der Stadt offen hielt, zu
ihm: "Ja, Herr Lieutenant, aber heute zum letzten
Male. Werde in Zukunft kein Geld mehr borgen
ohne Deckung."

"So wollen Sie mich dem Ruin preisgeben?"
erwiderte Max von Finkenstein.

"Wie können Sie so was glauben, Herr Lieute-
nant, von Ihrem wärmsten Freund, der ich bin?
Aber ermuntern will ich Sie, zuzugreifen."

"Wo -- wie soll ich zugreifen, Salomon?"

"Wie haißt wo -- wie? Wissen Sie doch ganz
gut, daß Sie nur brauchen mit dem Finger zu winken
und es sitzt ein goldener Ehering drauf."


[Spaltenumbruch]

"Und wenn ich diese Wallig heirathe und mit des
Alten Gelde eben meine Schuld an Sie abtragen
kann, edler Freund -- wovon sollen wir nachher
leben?"

"Thun Sie doch nicht so unschuldig, Herr Lieute-
nant", und der alte Jude grinste lächelnd in seinen
Bart. "Sie wissen ganz gut, Herr Lieutenant, daß
ich nicht spreche von Mathilde Wallig."

"Und von wem sprechen Sie denn?"

"Gott der Gerechte, muß ich es Ihnen wirklich
sagen? Haben Sie nicht längst gemerkt, daß die
Baronesse von Clairville ...."

"Schweig, Salomon -- woher weißt Du?"

"Weiß es doch in der Judenschaft jedes
Jüngelchen ..."

"Schweig, sage ich Dir nochmals. Wenn man
erfährt, daß Officiere bei ihr verkehren, wenn der
Oberst ..."

"Seien Sie doch ganz ruhig, Herr Lieutenant.
Ist ja doch durchaus anständiger Verkehr. Sie ist
Witwe, reich, macht ein Haus. Warum sollen nicht
verkehren dürfen Officiere in diesem Haus? Und schön
ist sie, diese Clairville, Herr Lieutenant ein Weib,
wie für Sie geschaffen."

"Was faseln Sie da, Salomon, zusammen? Wer
sagt Ihnen, daß sie überhaupt zu haben ist?"

"Na, weiß es doch die ganze Judenschaft, daß die
Baronesse offen hält ihre Salons, nur um zu fangen
wieder einen Fisch in die Netze ihrer Schönheit."

"Na, ich denke, Salomon, sie macht ohnehin einen
reichen Fischzug. Aber daß sie heirathen will --
Salomon, wer glaubt das?"

"Wenn sich findet ein adeliger Cavalier, schön
und flott, wie Sie, wird sie heirathen."

"Und das wissen Sie?"

"Das weiß die ganze Judenschaft."

"Und Sie wollen nun ein Geschäft machen,
schlauer Salomon? Sie wollen mich verkuppeln an
die Clairville? Nicht wahr?"

Der Jude lachte. "Wie haißt ä Geschäft? Ein
Paar Percentchen für die Vermittelung. Im übrigen
meine ich's gut mit Ihnen. Greifen Sie zu, Herr
[Spaltenumbruch] Lieutenant, und es ist Ihnen aus aller Verlegenheit
geholfen, und ich komme zu meinem Geld."

"Und Mathilde?"

"Was wollen Sie ketten Ihre Existenz an das
Mädel!"

"Aber ich habe ihr mein Wort gegeben."

"Wie haißt Wort geben? Erst leben, dann ..."

"Dann Wort halten, meinen Sie. Sie haben
im Grunde recht, Salomon. Ich mache Sie und mich
unglücklich. Wie komme ich aber los von ihr?"

"Sind Sie doch ein erfindungsreicher Kopf, Herr
Lieutenant. Erzählen Sie ihr irgend eine Geschichte,
daß die Verhältnisse sich geändert, daß der Onkel nicht
erlegen will die Caution, Zuschuß zurückzieht -- oder
das Beste ist" -- und der Jude grinste wieder mit
dem häßlichsten Lachen von der Welt -- "sagen Sie
ihr, Onkel habe in seinen alten Tagen wieder gehei-
rathet, Erbe sei verloren, eheliche Verbindung un-
möglich."

Max von Finkenstein's Züge hellten sich auf.
"Sie sind ein Erzhallunke, Salomon, ein geriebener
Kerl!"

"Danke für das Compliment. Gott der Gerechte,
man thut, was man kann, um seinen guten Kunden
und Freunden zu helfen. Ueberlegen Sie sich die
Sache!"

Max von Finkenstein überlegte sie sich auch. Er
hatte es längst gemerkt, daß das stattliche, herrliche
Weib, welches vor einigen Monaten erst nach der
Stadt gekommen war, dort zuerst in tiefster Trauer
und Zurückgezogenheit in ihren Appartements im ersten
Stocke eines der feinsten Häuser gelebt und dann auf
einmal ihre Salons für adelige und nicht adelige
Herren aus der besten Gesellschaft offen hielt, ihn vor
der übrigen Gesellschaft bevorzugte. Aber daß sie er-
warte, er werde ihr einen Antrag machen, das war
ihm neu. Das mußte ihm erst der Jude sagen! Er
wunderte sich nun selbst darüber, daß ihm der Ge-
danke nicht gekommen war.

(Fortsetzung folgt.)


Wien, Donnerſtag Reichspoſt. 6 December 1894. 280

[Spaltenumbruch]
Soriale Rundſchau.


Bebel, Vollmar, Liebknecht.

Der Streit in der deutſchländiſchen Socialdemo-
kratie wird zwar von einigen Blättern (ſo der „Nord.
Allg. Ztg.“, dem „Hamb. Correſp.“) als eine Spiegel-
fechterei bezeichnet, die nur den Zweck habe, das ge-
plante Umſturzgeſetz als unnöthig und als gegen eine
uneinige Partei gerichtet zn Fall zu bringen; wer aber
die Dinge etwas weniger oberflächlich und mit etwas
mehr Ernſt zu betrachten gewohnt iſt, wird ſich der
Ueberzeugung nicht verſchließen können, daß es ſich um
einen ſehr ernſten, ſehr tief gehenden und ſehr folgen-
ſchweren Streit innerhalb der ſcheinbar ſo wohl ge-
feſtigten deutſchländiſchen Socialdemokratie handelt.
Es dreht ſich der Streit auch keineswegs nur um die
beiden Rufer im Streite, um den norddeutſchen
Bebel und den ſüddeutſchen Vollmar, es ſteht eine
vollſtändige Mauſerung, eine gänzliche Neubildung in
Sicht innerhalb der Partei, deren Cardinalpunkt
allerdings der Abgeordnete für München II Herr von
Vollmar iſt.

Das Zerwürfniß Bebel-Vollmar datiert ja nicht
von geſtern, nicht vom diesjährigen Parteitage zu
Frankfurt am Main her, es iſt viel älter und trat
zuerſt offen 1891 auf dem Parteitage zu Erfurt hervor.
Ausgetragen wurde damals der Zwiſt ebenſo wenig,
wie er jetzt — wenn nicht ſeiner tückiſchen Krankheit
Herr von Vollmar unterliegt — ſein Ende finden
wird, aber ſeit Erfurt iſt der Anhang des bayeriſchen
Führers bedeutend gewachſen. Bebel, deſſen herriſches,
rechthaberiſches Weſen ſchon viele vor den Kopf
geſtoßen, fürchtet, daß Vollmar ihm das
Heft aus der Hand winden wird, daß die
Vollmar’ſche Richtung ſchließlich die Socialdemokratie
beherrſche. Und das dürfte der Fall ſein, wenn Voll-
mar auch im Reichstage, dem er bis jetzt gefliſſentlich
fern geblieben, eine führende Rolle, die ihm als dem
hervorragendſten Süddeutſchen zukommt, anſtrebt.
Bebel iſt der Mann der Theorien, der Held der
Phraſe, Vollmar der Mann der Praxis, der That.
Und darin allein liegt der große Erfolg dieſes
Mannes.

Vollmar erkannte, daß nach dem Sturze Bis-
marck’s die Partei neue Pflichten erhalten
habe, daß ſie praktiſch etwas für die Arbeiter
anſtreben müſſe, mit dem ewigen Declamiren und
Demonſtriren ſei nichts gethan. Er ſtellte damals ein
ganz beſtimmtes Programm für die nächſte Zeit auf,
welches lautete: Weiterführung des Arbeiterſchutzes,
Erringung eines wirklichen Coalitionsrechtes, Ent-
haltung der Behörden von den Streitigkeiten zwiſchen
Unternehmern und Arbeitern, Verbot der Truſts und
Cartelle, Beſeitigung der Lebensmittelzölle. Und nach
dieſen Zielen hat der Mann raſtlos geſtrebt und ſich
dadurch ſo viele Anhänger erworben. Außerdem iſt
Vollmar vermögend, er lebt nicht von der Partei, be-
anſprucht nichts für ſich — warum ſollen ſeine Bayern
ihm nicht folgen.

Nun iſt nicht zu leugnen, daß, wenn die Voll-
mar’ſche Richtung ſich conſequent weiter entwickeln
würde, aus ihr eine radicale demokratiſche Volks-
[Spaltenumbruch] partei ſich entwickeln, daß ſie allmählich den ſocial-
demokratiſchen Boden verlaſſen würde, ſo wenig Herr von
Vollmar dieſes auch jetzt noch gelten laſſen will.
Bebel behauptet, daß auch die Regierung dies bereits
erkannt habe und deshalb die Vollmar’ſche Richtung
zu ſtärken ſuchen werde. Das iſt natürlich ein gutes
Agitationsmittel gegen Vollmar, aber ſeine Anwendung
wird ſofort zum Beweis, daß in der Partei ein Zwiſt
ausgebrochen iſt, der dieſelbe bis in ihre Grundfeſten
erſchüttert, der nicht beigelegt werden wird, wenn
Herr v. Vollmar auch diesmal ſeine Krankheit über-
windet. (Nach einem heutigen Telegramme iſt Herr
v. Vollmar bereits in Berlin eingetroffen; ſeine Krank-
heit iſt alſo behoben.)

Eines hat Vollmar in ſeinen Antworten auf
Bebel’s Angriffe allerdings unbeantwortet gelaſſen,
was uns freilich als die Hauptſache erſcheinen würde:
wie er ſich den Fortbeſtand des Bauern-
ſtandes
denkt. Vollmar fühlt offenbar, daß hier
der wunde Punkt ſeiner Stellung ſogar in Bayern
liegt und es wird wohl noch längere Zeit vergehen,
bis er nochmals zu dieſer für Bayern wichtigſten Frage
Stellung nimmt. In Frankfurt hat er ſich für den
Fortbeſtand ausgeſprochen, weil er nur unter dieſer
Vorausſetzung glaubt, unter den Bauern Anhänger ge-
winnen zu können.

Bebel wiederum hat ein recht werthvolles Zeug-
niß für unſere ſchon oft vertretene Behauptung abge-
geben, daß bei weitem nicht alle Socialdemokraten
ſind, welche für deren Candidaten ſtimmen. Nachdem
er Vollmar perſönliche Gehäſſigkeiten ins Geſicht ge-
worfen, ihn „Kloſterſchüler“ (mit Anſpielung auf
ſeine Erziehung) und wiſſentlichen Verbreiter von
Unwahrheiten genannt, wendet er ſich gegen das Ein-
dringen „Unverläßlicher und Halber“ in die Partei.
Vollmar befördere dieſes Eindringen. Er führt für
die Nothwendigkeit einer zielbewußten Kritik auch an
den „großen Haufen“, der in einer ſo raſch
ſich vergrößernden Partei wie der Socialdemokratie
ſich befinde und der „ſich Socialdemokrat nennt, ohne
irgend nähere Kenntniß von den
eigentlichen Zielen der Partei zu
haben.
“ Bebel erblickt hierin ſogar „eine Gefahr,
die progreſſiv zunimmt, wie die Partei ſich vergrößert
und der Haufe der Unklaren immer
mehr wächſt
“.

Die beiden Unzertrennlichen, Bebel und Lieb-
knecht
(ein Volkswitz nennt ſie „Liebbebelknecht“),
ſind in dieſer Frage einmal nicht einig. Liebknecht
verurtheilt ſowohl Ton wie Inhalt der Bebel’ſchen
Reden und erklärt, er werde ſein Möglichſtes thun,
den Streit einzudämmen und beizulegen. Dazu reicht
aber die Kraft Liebknecht’s nicht aus, der Bruch iſt
diesmal zu gründlich. Nur ein Mittel gibt es, die
beiden zu einen: ein neues Socialiſten-
geſetz!
Das ſollten ſich alle Parlamentarier vor
Augen halten, wenn ſie in den nächſten Wochen die
ſogenannte Umſturzvorlage zu berathen haben werden.

Boycottgeſchichten.

Ebenſo wie der Berliner ſchleppt ſich auch der
Braunſchweiger Bierboycott, ohne für die
Socialdemokraten den gewünſchten Erfolg zu erzielen,
träge weiter. Eine hübſche — Geſchichte deckte jüngſt
der dortige „Volksfreund“ auf: die beiden Leiter des
[Spaltenumbruch] Boycotts ſeien von einer nichtboycottirten Brauerei
in Deſſau für Geld angeſtellt worden, den Boycott
zu ſchüren und aufrecht zu erhalten. Die beiden ſauberen
„Genoſſen“ haben die Richtigkeit dieſer Beſchuldigung
zugegeben und ſind aus der Boycottcommiſſion aus-
getreten. Damit dürfte dieſer Bierboycott ſein Ende
gefunden haben.

Die Berliner Bierboycott-Commiſſion hat
die Frage erörtert, ob Genoſſen, welche Wiener Cafees
beſuchen, in denen boycottirtes Bier ausgeſchänkt wird,
ſich der Zuwiderhandlung gegen den Boycott ſchuldig
gemacht haben, auch wenn ſie in ſolchen Cafes kein
Bier trinken. Es handelt ſich dabei u. A. um die Ab-
geordneten Liebknecht (!) und Bebel (!) und andere
Führer. Die Commiſſion hat jedoch die Frage einſt-
weilen offen gelaſſen, wohl wegen der — „Führer“!

Kleine Nachrichten.

Den ſocialdemokratiſchen Studenten und Aka-
demikern ſoll in Berlin ein Fachblatt gegründet werden
unter dem Titel „Der ſocialiſtiſche Aka-
demiker“.
Das Intereſſanteſte an dieſer Gründung
iſt die Perſon des Redacteurs; derſelbe iſt ein —
Sattlergeſelle. Wenn die Studenten und
Akademiker ſich von einem Sattler ihr geiſtiges Brot
vorſchneiden laſſen, dann haben ſie die in dieſem Um-
ſtande liegende Hochachtung der Socialdemokratie vor
den „Akademikern“, die auf dem letzten Parteitag in
Frankfurt zu oftmaligem Ausdrucke kam, redlich ver-
dient.

Die Zahl der belgiſchen Kohlenberg-
leute
betrug im Jahre 1893 insgeſammt 116.861,
von denen 30.556 über Tage, 86.305 unter Tage
beſchäftigt ſind. Die Zahl der Frauen und
Mädchen
unter 21 Jahren, die unter Tage ver-
wandt werden, iſt von 2968 im Jahre 1891 auf
1549 im Jahre 1893 zurückgegangen in Folge des
Geſetzes vom December 1889, wodurch ihre Arbeit
unter Tage vom 1. Januar 1891 verboten wurde.
Eine Ausnahme wurde gemacht für diejenigen, die
bereis beſchäftigt waren. Die Zahl der Knaben
unter 14 Jahren, die unter Tage beſchäftigt werden.
iſt in dem gleichen Zeitraum von 2535 auf 1638 zu-
rückgegangen. In Folge ausgedehnter Streiks be-
trug die durchſchnittliche Zahl der Arbeitstage 285
gegenüber 292 im Jahre 1892. Die Löhne beliefen
ſich insgeſammt auf 50 Millionen Gulden oder 2 55
Gulden für die Tonne geförderter Kohlen
oder 1·14 Gulden täglich für einen Arbeiter über
Tage und 1·59 Gulden für einen Arbeiter unter
Tage, abzüglich der Beiträge zu Hilfscaſſen und der
Strafgelder. Die Geſammtförderung an Kohlen be-
trug 1893 in Belgien 19,410 519 Tonnen gegen
19,583.173 im Vorjahre. Der Preis der Tonne be-
trug 1893 am Schacht 9·75 Frcs., 1892 dagegen
10·69 Frcs.




Verſammlungen.
Verein „Chriſtliche Familie“ Ortsgruppe Leo-
poldſtadt.

Im Saale zum „goldenen Widder“ fand geſtern
eine vom obigen Vereine einberufene Frauenverſammlung
ſtatt, die ſehr ſtark befucht war. Obmann Oppenberger
eröffnete die Verſammlung und erſuchte Se. Durchlaucht den
Reichsrathsabgeordneten Prinzen Liechtenſtein das




[Spaltenumbruch]
35. Nachdruck verboten.
Viola.

Allein Roſenbaum, ſein Haupt-Geldleiher und ſein
Haupt Gläubiger war noch immer nachſichtig, denn
die Summe, die ihm der Lieutenant ſchuldig blieb,
wurde von Tag zu Tag größer, die hohen Wucher-
zinſen ſchwollen an — und der Lieutenant war immer
mehr in ſeiner Gewalt und mit ihm das Vermögen
des Profeſſors, auf welches der Jude bereits ſpecu-
lirte. Er hatte es längſt heraus, wie hoch es ſich un-
befähr belaufen mußte, und es war, wenn auch nicht
viel, immerhin eine Summe. Sie reichte eben aus, um
ſeine Forderung zu decken. Aber Lieutenant von Finken-
ſtein hatte noch andere Gläubiger zu befriedigen, be-
ſonders die Cohen und Seligmann, mit denen er ſpielte
und die ihn, mit Roſenbaum in geheimem Bunde, ſtets
drängten und gerade dadurch ihn immer wieder zum
Spielen verleiteten. Wie er ſie demnächſt befriedigen
wurde, Max von Finkenſtein wußte keinen Rath,
Salomon Roſenbaum aber wußte einen, und als der
Lieutenant eines Tages zu ihm kam, um ein neues Dar-
lehen zu erbitten, ſagte der alte Jude mit den weißen
Schmachtlocken und der langen, tiefgebogenen Naſe
über dem großen, mit ſpärlichem Haar bedeckten Mund
in der ſchmutzigen Stube, die er als Geldwechsler
in einer entlegenen Straße der Stadt offen hielt, zu
ihm: „Ja, Herr Lieutenant, aber heute zum letzten
Male. Werde in Zukunft kein Geld mehr borgen
ohne Deckung.“

„So wollen Sie mich dem Ruin preisgeben?“
erwiderte Max von Finkenſtein.

„Wie können Sie ſo was glauben, Herr Lieute-
nant, von Ihrem wärmſten Freund, der ich bin?
Aber ermuntern will ich Sie, zuzugreifen.“

„Wo — wie ſoll ich zugreifen, Salomon?“

„Wie haißt wo — wie? Wiſſen Sie doch ganz
gut, daß Sie nur brauchen mit dem Finger zu winken
und es ſitzt ein goldener Ehering drauf.“


[Spaltenumbruch]

„Und wenn ich dieſe Wallig heirathe und mit des
Alten Gelde eben meine Schuld an Sie abtragen
kann, edler Freund — wovon ſollen wir nachher
leben?“

„Thun Sie doch nicht ſo unſchuldig, Herr Lieute-
nant“, und der alte Jude grinſte lächelnd in ſeinen
Bart. „Sie wiſſen ganz gut, Herr Lieutenant, daß
ich nicht ſpreche von Mathilde Wallig.“

„Und von wem ſprechen Sie denn?“

„Gott der Gerechte, muß ich es Ihnen wirklich
ſagen? Haben Sie nicht längſt gemerkt, daß die
Baroneſſe von Clairville ....“

„Schweig, Salomon — woher weißt Du?“

„Weiß es doch in der Judenſchaft jedes
Jüngelchen ...“

„Schweig, ſage ich Dir nochmals. Wenn man
erfährt, daß Officiere bei ihr verkehren, wenn der
Oberſt ...“

„Seien Sie doch ganz ruhig, Herr Lieutenant.
Iſt ja doch durchaus anſtändiger Verkehr. Sie iſt
Witwe, reich, macht ein Haus. Warum ſollen nicht
verkehren dürfen Officiere in dieſem Haus? Und ſchön
iſt ſie, dieſe Clairville, Herr Lieutenant ein Weib,
wie für Sie geſchaffen.“

„Was faſeln Sie da, Salomon, zuſammen? Wer
ſagt Ihnen, daß ſie überhaupt zu haben iſt?“

„Na, weiß es doch die ganze Judenſchaft, daß die
Baroneſſe offen hält ihre Salons, nur um zu fangen
wieder einen Fiſch in die Netze ihrer Schönheit.“

„Na, ich denke, Salomon, ſie macht ohnehin einen
reichen Fiſchzug. Aber daß ſie heirathen will —
Salomon, wer glaubt das?“

„Wenn ſich findet ein adeliger Cavalier, ſchön
und flott, wie Sie, wird ſie heirathen.“

„Und das wiſſen Sie?“

„Das weiß die ganze Judenſchaft.“

„Und Sie wollen nun ein Geſchäft machen,
ſchlauer Salomon? Sie wollen mich verkuppeln an
die Clairville? Nicht wahr?“

Der Jude lachte. „Wie haißt ä Geſchäft? Ein
Paar Percentchen für die Vermittelung. Im übrigen
meine ich’s gut mit Ihnen. Greifen Sie zu, Herr
[Spaltenumbruch] Lieutenant, und es iſt Ihnen aus aller Verlegenheit
geholfen, und ich komme zu meinem Geld.“

„Und Mathilde?“

„Was wollen Sie ketten Ihre Exiſtenz an das
Mädel!“

„Aber ich habe ihr mein Wort gegeben.“

„Wie haißt Wort geben? Erſt leben, dann ...“

„Dann Wort halten, meinen Sie. Sie haben
im Grunde recht, Salomon. Ich mache Sie und mich
unglücklich. Wie komme ich aber los von ihr?“

„Sind Sie doch ein erfindungsreicher Kopf, Herr
Lieutenant. Erzählen Sie ihr irgend eine Geſchichte,
daß die Verhältniſſe ſich geändert, daß der Onkel nicht
erlegen will die Caution, Zuſchuß zurückzieht — oder
das Beſte iſt“ — und der Jude grinſte wieder mit
dem häßlichſten Lachen von der Welt — „ſagen Sie
ihr, Onkel habe in ſeinen alten Tagen wieder gehei-
rathet, Erbe ſei verloren, eheliche Verbindung un-
möglich.“

Max von Finkenſtein’s Züge hellten ſich auf.
„Sie ſind ein Erzhallunke, Salomon, ein geriebener
Kerl!“

„Danke für das Compliment. Gott der Gerechte,
man thut, was man kann, um ſeinen guten Kunden
und Freunden zu helfen. Ueberlegen Sie ſich die
Sache!“

Max von Finkenſtein überlegte ſie ſich auch. Er
hatte es längſt gemerkt, daß das ſtattliche, herrliche
Weib, welches vor einigen Monaten erſt nach der
Stadt gekommen war, dort zuerſt in tiefſter Trauer
und Zurückgezogenheit in ihren Appartements im erſten
Stocke eines der feinſten Häuſer gelebt und dann auf
einmal ihre Salons für adelige und nicht adelige
Herren aus der beſten Geſellſchaft offen hielt, ihn vor
der übrigen Geſellſchaft bevorzugte. Aber daß ſie er-
warte, er werde ihr einen Antrag machen, das war
ihm neu. Das mußte ihm erſt der Jude ſagen! Er
wunderte ſich nun ſelbſt darüber, daß ihm der Ge-
danke nicht gekommen war.

(Fortſetzung folgt.)


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[4/0004] Wien, Donnerſtag Reichspoſt. 6 December 1894. 280 Soriale Rundſchau. Wien, 5. December. Bebel, Vollmar, Liebknecht. Der Streit in der deutſchländiſchen Socialdemo- kratie wird zwar von einigen Blättern (ſo der „Nord. Allg. Ztg.“, dem „Hamb. Correſp.“) als eine Spiegel- fechterei bezeichnet, die nur den Zweck habe, das ge- plante Umſturzgeſetz als unnöthig und als gegen eine uneinige Partei gerichtet zn Fall zu bringen; wer aber die Dinge etwas weniger oberflächlich und mit etwas mehr Ernſt zu betrachten gewohnt iſt, wird ſich der Ueberzeugung nicht verſchließen können, daß es ſich um einen ſehr ernſten, ſehr tief gehenden und ſehr folgen- ſchweren Streit innerhalb der ſcheinbar ſo wohl ge- feſtigten deutſchländiſchen Socialdemokratie handelt. Es dreht ſich der Streit auch keineswegs nur um die beiden Rufer im Streite, um den norddeutſchen Bebel und den ſüddeutſchen Vollmar, es ſteht eine vollſtändige Mauſerung, eine gänzliche Neubildung in Sicht innerhalb der Partei, deren Cardinalpunkt allerdings der Abgeordnete für München II Herr von Vollmar iſt. Das Zerwürfniß Bebel-Vollmar datiert ja nicht von geſtern, nicht vom diesjährigen Parteitage zu Frankfurt am Main her, es iſt viel älter und trat zuerſt offen 1891 auf dem Parteitage zu Erfurt hervor. Ausgetragen wurde damals der Zwiſt ebenſo wenig, wie er jetzt — wenn nicht ſeiner tückiſchen Krankheit Herr von Vollmar unterliegt — ſein Ende finden wird, aber ſeit Erfurt iſt der Anhang des bayeriſchen Führers bedeutend gewachſen. Bebel, deſſen herriſches, rechthaberiſches Weſen ſchon viele vor den Kopf geſtoßen, fürchtet, daß Vollmar ihm das Heft aus der Hand winden wird, daß die Vollmar’ſche Richtung ſchließlich die Socialdemokratie beherrſche. Und das dürfte der Fall ſein, wenn Voll- mar auch im Reichstage, dem er bis jetzt gefliſſentlich fern geblieben, eine führende Rolle, die ihm als dem hervorragendſten Süddeutſchen zukommt, anſtrebt. Bebel iſt der Mann der Theorien, der Held der Phraſe, Vollmar der Mann der Praxis, der That. Und darin allein liegt der große Erfolg dieſes Mannes. Vollmar erkannte, daß nach dem Sturze Bis- marck’s die Partei neue Pflichten erhalten habe, daß ſie praktiſch etwas für die Arbeiter anſtreben müſſe, mit dem ewigen Declamiren und Demonſtriren ſei nichts gethan. Er ſtellte damals ein ganz beſtimmtes Programm für die nächſte Zeit auf, welches lautete: Weiterführung des Arbeiterſchutzes, Erringung eines wirklichen Coalitionsrechtes, Ent- haltung der Behörden von den Streitigkeiten zwiſchen Unternehmern und Arbeitern, Verbot der Truſts und Cartelle, Beſeitigung der Lebensmittelzölle. Und nach dieſen Zielen hat der Mann raſtlos geſtrebt und ſich dadurch ſo viele Anhänger erworben. Außerdem iſt Vollmar vermögend, er lebt nicht von der Partei, be- anſprucht nichts für ſich — warum ſollen ſeine Bayern ihm nicht folgen. Nun iſt nicht zu leugnen, daß, wenn die Voll- mar’ſche Richtung ſich conſequent weiter entwickeln würde, aus ihr eine radicale demokratiſche Volks- partei ſich entwickeln, daß ſie allmählich den ſocial- demokratiſchen Boden verlaſſen würde, ſo wenig Herr von Vollmar dieſes auch jetzt noch gelten laſſen will. Bebel behauptet, daß auch die Regierung dies bereits erkannt habe und deshalb die Vollmar’ſche Richtung zu ſtärken ſuchen werde. Das iſt natürlich ein gutes Agitationsmittel gegen Vollmar, aber ſeine Anwendung wird ſofort zum Beweis, daß in der Partei ein Zwiſt ausgebrochen iſt, der dieſelbe bis in ihre Grundfeſten erſchüttert, der nicht beigelegt werden wird, wenn Herr v. Vollmar auch diesmal ſeine Krankheit über- windet. (Nach einem heutigen Telegramme iſt Herr v. Vollmar bereits in Berlin eingetroffen; ſeine Krank- heit iſt alſo behoben.) Eines hat Vollmar in ſeinen Antworten auf Bebel’s Angriffe allerdings unbeantwortet gelaſſen, was uns freilich als die Hauptſache erſcheinen würde: wie er ſich den Fortbeſtand des Bauern- ſtandes denkt. Vollmar fühlt offenbar, daß hier der wunde Punkt ſeiner Stellung ſogar in Bayern liegt und es wird wohl noch längere Zeit vergehen, bis er nochmals zu dieſer für Bayern wichtigſten Frage Stellung nimmt. In Frankfurt hat er ſich für den Fortbeſtand ausgeſprochen, weil er nur unter dieſer Vorausſetzung glaubt, unter den Bauern Anhänger ge- winnen zu können. Bebel wiederum hat ein recht werthvolles Zeug- niß für unſere ſchon oft vertretene Behauptung abge- geben, daß bei weitem nicht alle Socialdemokraten ſind, welche für deren Candidaten ſtimmen. Nachdem er Vollmar perſönliche Gehäſſigkeiten ins Geſicht ge- worfen, ihn „Kloſterſchüler“ (mit Anſpielung auf ſeine Erziehung) und wiſſentlichen Verbreiter von Unwahrheiten genannt, wendet er ſich gegen das Ein- dringen „Unverläßlicher und Halber“ in die Partei. Vollmar befördere dieſes Eindringen. Er führt für die Nothwendigkeit einer zielbewußten Kritik auch an den „großen Haufen“, der in einer ſo raſch ſich vergrößernden Partei wie der Socialdemokratie ſich befinde und der „ſich Socialdemokrat nennt, ohne irgend nähere Kenntniß von den eigentlichen Zielen der Partei zu haben.“ Bebel erblickt hierin ſogar „eine Gefahr, die progreſſiv zunimmt, wie die Partei ſich vergrößert und der Haufe der Unklaren immer mehr wächſt“. Die beiden Unzertrennlichen, Bebel und Lieb- knecht (ein Volkswitz nennt ſie „Liebbebelknecht“), ſind in dieſer Frage einmal nicht einig. Liebknecht verurtheilt ſowohl Ton wie Inhalt der Bebel’ſchen Reden und erklärt, er werde ſein Möglichſtes thun, den Streit einzudämmen und beizulegen. Dazu reicht aber die Kraft Liebknecht’s nicht aus, der Bruch iſt diesmal zu gründlich. Nur ein Mittel gibt es, die beiden zu einen: ein neues Socialiſten- geſetz! Das ſollten ſich alle Parlamentarier vor Augen halten, wenn ſie in den nächſten Wochen die ſogenannte Umſturzvorlage zu berathen haben werden. Boycottgeſchichten. Ebenſo wie der Berliner ſchleppt ſich auch der Braunſchweiger Bierboycott, ohne für die Socialdemokraten den gewünſchten Erfolg zu erzielen, träge weiter. Eine hübſche — Geſchichte deckte jüngſt der dortige „Volksfreund“ auf: die beiden Leiter des Boycotts ſeien von einer nichtboycottirten Brauerei in Deſſau für Geld angeſtellt worden, den Boycott zu ſchüren und aufrecht zu erhalten. Die beiden ſauberen „Genoſſen“ haben die Richtigkeit dieſer Beſchuldigung zugegeben und ſind aus der Boycottcommiſſion aus- getreten. Damit dürfte dieſer Bierboycott ſein Ende gefunden haben. Die Berliner Bierboycott-Commiſſion hat die Frage erörtert, ob Genoſſen, welche Wiener Cafees beſuchen, in denen boycottirtes Bier ausgeſchänkt wird, ſich der Zuwiderhandlung gegen den Boycott ſchuldig gemacht haben, auch wenn ſie in ſolchen Cafes kein Bier trinken. Es handelt ſich dabei u. A. um die Ab- geordneten Liebknecht (!) und Bebel (!) und andere Führer. Die Commiſſion hat jedoch die Frage einſt- weilen offen gelaſſen, wohl wegen der — „Führer“! Kleine Nachrichten. Den ſocialdemokratiſchen Studenten und Aka- demikern ſoll in Berlin ein Fachblatt gegründet werden unter dem Titel „Der ſocialiſtiſche Aka- demiker“. Das Intereſſanteſte an dieſer Gründung iſt die Perſon des Redacteurs; derſelbe iſt ein — Sattlergeſelle. Wenn die Studenten und Akademiker ſich von einem Sattler ihr geiſtiges Brot vorſchneiden laſſen, dann haben ſie die in dieſem Um- ſtande liegende Hochachtung der Socialdemokratie vor den „Akademikern“, die auf dem letzten Parteitag in Frankfurt zu oftmaligem Ausdrucke kam, redlich ver- dient. Die Zahl der belgiſchen Kohlenberg- leute betrug im Jahre 1893 insgeſammt 116.861, von denen 30.556 über Tage, 86.305 unter Tage beſchäftigt ſind. Die Zahl der Frauen und Mädchen unter 21 Jahren, die unter Tage ver- wandt werden, iſt von 2968 im Jahre 1891 auf 1549 im Jahre 1893 zurückgegangen in Folge des Geſetzes vom December 1889, wodurch ihre Arbeit unter Tage vom 1. Januar 1891 verboten wurde. Eine Ausnahme wurde gemacht für diejenigen, die bereis beſchäftigt waren. Die Zahl der Knaben unter 14 Jahren, die unter Tage beſchäftigt werden. iſt in dem gleichen Zeitraum von 2535 auf 1638 zu- rückgegangen. In Folge ausgedehnter Streiks be- trug die durchſchnittliche Zahl der Arbeitstage 285 gegenüber 292 im Jahre 1892. Die Löhne beliefen ſich insgeſammt auf 50 Millionen Gulden oder 2 55 Gulden für die Tonne geförderter Kohlen oder 1·14 Gulden täglich für einen Arbeiter über Tage und 1·59 Gulden für einen Arbeiter unter Tage, abzüglich der Beiträge zu Hilfscaſſen und der Strafgelder. Die Geſammtförderung an Kohlen be- trug 1893 in Belgien 19,410 519 Tonnen gegen 19,583.173 im Vorjahre. Der Preis der Tonne be- trug 1893 am Schacht 9·75 Frcs., 1892 dagegen 10·69 Frcs. Verſammlungen. Verein „Chriſtliche Familie“ Ortsgruppe Leo- poldſtadt. Im Saale zum „goldenen Widder“ fand geſtern eine vom obigen Vereine einberufene Frauenverſammlung ſtatt, die ſehr ſtark befucht war. Obmann Oppenberger eröffnete die Verſammlung und erſuchte Se. Durchlaucht den Reichsrathsabgeordneten Prinzen Liechtenſtein das 35. Nachdruck verboten. Viola. Erzählung aus dem Leben von C. S. Allein Roſenbaum, ſein Haupt-Geldleiher und ſein Haupt Gläubiger war noch immer nachſichtig, denn die Summe, die ihm der Lieutenant ſchuldig blieb, wurde von Tag zu Tag größer, die hohen Wucher- zinſen ſchwollen an — und der Lieutenant war immer mehr in ſeiner Gewalt und mit ihm das Vermögen des Profeſſors, auf welches der Jude bereits ſpecu- lirte. Er hatte es längſt heraus, wie hoch es ſich un- befähr belaufen mußte, und es war, wenn auch nicht viel, immerhin eine Summe. Sie reichte eben aus, um ſeine Forderung zu decken. Aber Lieutenant von Finken- ſtein hatte noch andere Gläubiger zu befriedigen, be- ſonders die Cohen und Seligmann, mit denen er ſpielte und die ihn, mit Roſenbaum in geheimem Bunde, ſtets drängten und gerade dadurch ihn immer wieder zum Spielen verleiteten. Wie er ſie demnächſt befriedigen wurde, Max von Finkenſtein wußte keinen Rath, Salomon Roſenbaum aber wußte einen, und als der Lieutenant eines Tages zu ihm kam, um ein neues Dar- lehen zu erbitten, ſagte der alte Jude mit den weißen Schmachtlocken und der langen, tiefgebogenen Naſe über dem großen, mit ſpärlichem Haar bedeckten Mund in der ſchmutzigen Stube, die er als Geldwechsler in einer entlegenen Straße der Stadt offen hielt, zu ihm: „Ja, Herr Lieutenant, aber heute zum letzten Male. Werde in Zukunft kein Geld mehr borgen ohne Deckung.“ „So wollen Sie mich dem Ruin preisgeben?“ erwiderte Max von Finkenſtein. „Wie können Sie ſo was glauben, Herr Lieute- nant, von Ihrem wärmſten Freund, der ich bin? Aber ermuntern will ich Sie, zuzugreifen.“ „Wo — wie ſoll ich zugreifen, Salomon?“ „Wie haißt wo — wie? Wiſſen Sie doch ganz gut, daß Sie nur brauchen mit dem Finger zu winken und es ſitzt ein goldener Ehering drauf.“ „Und wenn ich dieſe Wallig heirathe und mit des Alten Gelde eben meine Schuld an Sie abtragen kann, edler Freund — wovon ſollen wir nachher leben?“ „Thun Sie doch nicht ſo unſchuldig, Herr Lieute- nant“, und der alte Jude grinſte lächelnd in ſeinen Bart. „Sie wiſſen ganz gut, Herr Lieutenant, daß ich nicht ſpreche von Mathilde Wallig.“ „Und von wem ſprechen Sie denn?“ „Gott der Gerechte, muß ich es Ihnen wirklich ſagen? Haben Sie nicht längſt gemerkt, daß die Baroneſſe von Clairville ....“ „Schweig, Salomon — woher weißt Du?“ „Weiß es doch in der Judenſchaft jedes Jüngelchen ...“ „Schweig, ſage ich Dir nochmals. Wenn man erfährt, daß Officiere bei ihr verkehren, wenn der Oberſt ...“ „Seien Sie doch ganz ruhig, Herr Lieutenant. Iſt ja doch durchaus anſtändiger Verkehr. Sie iſt Witwe, reich, macht ein Haus. Warum ſollen nicht verkehren dürfen Officiere in dieſem Haus? Und ſchön iſt ſie, dieſe Clairville, Herr Lieutenant ein Weib, wie für Sie geſchaffen.“ „Was faſeln Sie da, Salomon, zuſammen? Wer ſagt Ihnen, daß ſie überhaupt zu haben iſt?“ „Na, weiß es doch die ganze Judenſchaft, daß die Baroneſſe offen hält ihre Salons, nur um zu fangen wieder einen Fiſch in die Netze ihrer Schönheit.“ „Na, ich denke, Salomon, ſie macht ohnehin einen reichen Fiſchzug. Aber daß ſie heirathen will — Salomon, wer glaubt das?“ „Wenn ſich findet ein adeliger Cavalier, ſchön und flott, wie Sie, wird ſie heirathen.“ „Und das wiſſen Sie?“ „Das weiß die ganze Judenſchaft.“ „Und Sie wollen nun ein Geſchäft machen, ſchlauer Salomon? Sie wollen mich verkuppeln an die Clairville? Nicht wahr?“ Der Jude lachte. „Wie haißt ä Geſchäft? Ein Paar Percentchen für die Vermittelung. Im übrigen meine ich’s gut mit Ihnen. Greifen Sie zu, Herr Lieutenant, und es iſt Ihnen aus aller Verlegenheit geholfen, und ich komme zu meinem Geld.“ „Und Mathilde?“ „Was wollen Sie ketten Ihre Exiſtenz an das Mädel!“ „Aber ich habe ihr mein Wort gegeben.“ „Wie haißt Wort geben? Erſt leben, dann ...“ „Dann Wort halten, meinen Sie. Sie haben im Grunde recht, Salomon. Ich mache Sie und mich unglücklich. Wie komme ich aber los von ihr?“ „Sind Sie doch ein erfindungsreicher Kopf, Herr Lieutenant. Erzählen Sie ihr irgend eine Geſchichte, daß die Verhältniſſe ſich geändert, daß der Onkel nicht erlegen will die Caution, Zuſchuß zurückzieht — oder das Beſte iſt“ — und der Jude grinſte wieder mit dem häßlichſten Lachen von der Welt — „ſagen Sie ihr, Onkel habe in ſeinen alten Tagen wieder gehei- rathet, Erbe ſei verloren, eheliche Verbindung un- möglich.“ Max von Finkenſtein’s Züge hellten ſich auf. „Sie ſind ein Erzhallunke, Salomon, ein geriebener Kerl!“ „Danke für das Compliment. Gott der Gerechte, man thut, was man kann, um ſeinen guten Kunden und Freunden zu helfen. Ueberlegen Sie ſich die Sache!“ Max von Finkenſtein überlegte ſie ſich auch. Er hatte es längſt gemerkt, daß das ſtattliche, herrliche Weib, welches vor einigen Monaten erſt nach der Stadt gekommen war, dort zuerſt in tiefſter Trauer und Zurückgezogenheit in ihren Appartements im erſten Stocke eines der feinſten Häuſer gelebt und dann auf einmal ihre Salons für adelige und nicht adelige Herren aus der beſten Geſellſchaft offen hielt, ihn vor der übrigen Geſellſchaft bevorzugte. Aber daß ſie er- warte, er werde ihr einen Antrag machen, das war ihm neu. Das mußte ihm erſt der Jude ſagen! Er wunderte ſich nun ſelbſt darüber, daß ihm der Ge- danke nicht gekommen war. (Fortſetzung folgt.)

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 280, Wien, 06.12.1894, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost280_1894/4>, abgerufen am 02.05.2024.