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Reichspost. Nr. 227, Wien, 05.10.1906.

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227 Wien, Freitag Reichspost 5. Oktober 1906

[Spaltenumbruch]
Aus dem Gerichtssaale.
Der jüngste Dieb.

Die Mutter als
Hehlerin eines dreijährigen Diebes
--
ein Fall, der kaum jemals dagewesen sein dürfte!
Vor dem Leopoldstädter Bezirksgerichte hatte sich
die Agnes Stehlik zu verantworten, weil sie ihre
Kinder, darunter den dreijährigen Stefan
zum Diebstahl verleitete und, als der kleine Junge
einem Mädchen die Börse stahl, das Geld in Ver-
wahrung nahm. Der dreijährige Knabe, in dem
jetzt schon die schlimmsten Instinkte unglaublich
entwickelt sind, wurde als Zeuge vorgerufen. Er
wirft scheue und verbissene Blicke um sich.
Richter: Hast Du das Börsel genommen? --
Knabe (trotzig): Nein! -- Richter: Es liegt ja
nichts dran, wenn Du 's sagst, Dir geschieht ja nichts.
Hast Du der Mutter Geld gegeben? -- Knabe:
Na, wenn i nix genommen hab'! Der zehnjährige
Josef Stehlik sagt, daß nicht sein Bruder,
sondern der gleichfalls noch nicht zehn Jahre alte
Pantschochar das Geldtäschchen gestohlen habe.
Er habe nur das Geld bekommen. Pantschochar,
der als Zeuge geladen war, war nicht erschienen.
Der Richter bemerkt, daß die Pantschochar-
Kinder
ein Schrecken der Brigittenau
seien, und sogar schon Verbrechen des Diebstahls
begangen hätten. Das bestohlene Mädchen gab aber
mit Bestimmtheit an, daß der dreijährige
Stefan
den Diebstahl verübt habe. -- Richter:
So sag 's doch, wenn Du's getan hast. -- Stefan:
Na. -- Richter: Es ist schrecklich, welche Ver-
stocktheit in dem Kinde steckt. Der zehnjährige
Andreas Zuber erzählt, daß er zugesehen
habe, wie der Stefan die Börse stahl und daß
er ihn vorher, offenbar um seine Aufmerksamkeit
abzulenken, wegschicken wollte und ihm einen Stock
versprach. Stefan schreit wieder: Na! Zur Vor-
ladung des Pantschochar wurde die Ver-
handlung vertagt.




Volkswirtschaftlicher Teil.
Die Nordbahnverstaatlichung.

Gestern und heute fand im Eisenbahnausschusse
die Generaldebatte über den Bericht des Subkomitees
betreffend die Vorlage über die Nordbahnverstaat-
lichung statt. Der Bericht wurde vom Abg. Hofrat
Suklje erstattet; er kommt zu folgendem Er-
gebnis:

Möglich wären im Falle der Ablehnung des
Uebereinkommens folgende Alternativen: a) Anbahnung
neuer Verhandlungen; b) Aufschub der Ver-
staatlichung und Abwarten eines neuen Septennats,
um inzwischen durch Ausnützung der staatlichen Tarif-
hoheit (§ 21 K. U.) und des staatlichen Bahnaufsichts-
rea tes (§ 36 K. U.) die Reinertragsziffer zu drücken
[Spaltenumbruch] und den auf die einzelne Nordbahnaktie entfallenden
Rentenbetrag auf 200 Kronen anstatt der jetzt
konzedierten 220 Kronen zu reduzieren; c) kon-
zessionsmäßige Einlösung.
Hiebei
wurde von den Bekämpfern des Abkommens die
Ansicht geäußert, es solle die Legislative die Re-
gierung auffordern, mit 1. Jänner 1907 die Nordbahn
in Betrieb und Besitz zu nehmen. Was die sub a)
erwähnte Eventualität betrifft, konnte sich die Mehr-
heit des Subkomitees nach der Erklärung des
Ministers der Erwägung nicht verschließen, daß die
Neuaufnahme der Verhandlungen von keinem Erfolg
begleitet sein werde. Die Alternative sub b) würde
die seitens der Bevölkerung gewünschte Verstaatlichung
der Nordbahn auf lange Jahre hinausschieben und
voraussichtlich zu einem wesentlich ungünstigeren Re-
sultat führen. Aus diesen Gründen konnte nur die
Alternative sub c) ernstlich in Betracht kommen.
Die Erörterung dieser Alternative bot Anlaß zu einer
weitausgreifenden Diskussion, an der sich auch der
Eisenbahnminister beteiligte. Im Hinblick auf die
außerordentliche Wichtigkeit des Gegenstandes wurde
die Regierung ersucht, ihren Standpunkt klar zu
präzisieren, und glaubt das Subkomitee, die Entgegen-
nahme dieser Erklärung dem Ausschuß selbst vor-
behalten zu sollen.

Gestern sprach zunächst Abg. Dr. Steinwender;
er kritisiert die Höhe der Einlösungsrente. Nicht zu-
gerechnet werden dürfen die Tantiemen des Ver-
waltungsrates, die künftigen Auslagen für die Ver-
waltung des Vermögens der Nordbahn, auch nicht die
Zinsen der Betriebsgelder. Diese nicht gerechtfertigten
Zurechnungen betragen jährlich 400.000 Kronen,
repräsentieren also einen Anfangswert von 71/2 Mil-
lionen. Ganz unzulässig erscheine die Privilegierung
der Rente gegen jede künftige Reform der
Steuergesetzgebung auf eine ganze Generation
hinaus und ebenso die Gebührenfreiheit. Daher
beantragt Redner, daß über das Uebereinkommen
zur Tagesordnung übergegangen und die Re-
gierung ermächtigt werde, von dem Einlösungsrechte
mit 1. Jänner 1907 auf Grund der konzessions-
mäßigen Bestimmungen
Gebrauch zu machen. --
Abg. Dr. Götz ist gegen das Uebereinkommen, weil
die mährische Industrie die Erhöhung der Tarife
fürchte und weil die Einlösungssumme zu hoch sei.
Abg. Kaftan wird trotz aller Bedenken gegen das
vorliegende Uebereinkommen für dasselbe stimmen; er
verlangt die sofortige Einleitung von Verhandlungen
zum Zwecke der Verstaatlichung der Staatseisenbahn,
der Nordwestbahn und der Kaschau--Oderberger Bahn.
Abg. Dr. Ellenbogen ist im Prinzip für die Vor-
lage, will aber, da das Uebereinkommen große Fehler
habe, für den Antrag Steinwender stimmen. Abge-
ordneter Dr. Kolischer ist ohne Rücksicht, ob die
Nordbahn um einige Perzent teurer oder billiger ist,
für die Einlösung. Abg. Dr. v. Demel ist für den
Antrag Steinwenders.




Ein Leimkartell.

Eine Anzahl öster-
reichischer und ungarischer Leimfabrikanten, welche
zirka 95 % der Produktion repräsentieren, hat unter
Hinzutritt mehrerer ausländischer Fabriksfirmen
eine Gesellschaft m. b. H. gegründet, die auf mehr-
jährige Dauer den gesamten Einkauf von Knochen
und Verkauf von Leim, Knochenmehl und Knochen-
fett zu besorgeu hat. Mit dem kommissionsweisen
Ein- und Verkaufe wurde für Oesterreich mit Aus-
[Spaltenumbruch] nahme von Böhmen die Länderbank in Wien, für
Böhmen die Filiale dieses Institutes in Prag
und für Ungarn ein ungarisches Bankinstitut in
Ofen-Pest betraut. -- Es dürften also auch der
Leim, Knochenmehl und Knochenfett bald teurer,
die Preise für die Knochen aber gedrückt werden.




Amtliche Kurse der Börse für landwirt-
schaftliche Produkte.


Weizen, per 50 Kilo: Theiß, 78--82 Kilo,
Kr. 7.85 bis Kr. 8.35, neuer, 78--82 Kilo, Kr. --.--
bis Kr. --.--; Banater, 76--80 Kilo, Kr. 7.50 bis
Kr. 8.--: Südbahn, neuer 76 bis 79 Kilo, Kr. 7.50
bis Kr. 7.90; Marchfelder und andere Nieder-Oester-
reicher, neuer 76--79 Kilo, Kr. 7.45 bis Kr. 7.80.

Roggen, per 50 Kilo: slovakischer, neuer, 72 bis
74 Kilo, Kr. 6.55 bis Kr. 6.70; diverser ungarischer,
alter, 72--74 Kilo, Kr. --.-- bis Kr. --.--, neuer Kr.
6.45 bis Kr. 6.65; österreichischer, neuer, 71--74 Kilo,
Kr. 6.45 bis Kr. 6.70.

Gerste, per 50 Kilo: mährische, ab Stationen,
neu, Kr. 7.75 bis Kr. 8.80; Brenner- und Schälgerste
Kr. 6.30 bis Kr. 6.50.

Hafer, per 50 Kilo: ungarischer prima, neuer
Kr. 7.40 bis Kr. 7.60.

Reps, per 50 Kilo: Kohl prompt Kr. 16.-- bis
Kr. 16.50.

Malz, per 50 Kilo: prima Kr. --.-- bis Kr. --.--,
secunda Kr. --.-- bis Kr. --.--.

Mais, per 50 Kilo: ungarischer Kr. 6.75 bis
Kr. 6.95.

Mahlprodukte, per 50 Kilo: Wiener Weizen-
mehl-Type:
Nr. 0 Kr. 13.50 bis 13.70, Nr. 1
Kr. 12.[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]0 bis Kr. 13.20, Nr. 2 Kr. 12.50 bis Kr. 12.70,
Nr. 3 Kr. 11.70 bis Kr. 11.90, Nr. 7 Kr. 8.30 bis Kr. 8.70,
Nr. 71/2 Kr. 7.60 bis Kr. 8.10. Wiener Roggenmehl-
Type:
Nr. 0 Kr. 11.20 bis Kr. 11.60, Nr, 1 Kr. 9.60
bis Kr. 10.--, Nr. 3 Kr. 7.70 Kr. bis 8.10.




Die Getreidepreise in Pest.

(Offizielle Schlußkurse.)
Weizen per Oktober, Kronen 14.24 bis 14.26, per
April 14.84 bis 14.86, Roggen per April 12.94 bis 12.96,
per Oktober Kronen 12.40 bis 12.42, Hafer per
Oktober 13.78 bis 13.80, per April 13.78 bis 13.80,
Mais per Oktober nominell, per Mai 10.04 bis 10.06,
Kohlreps 23.90 bis 24.10.

Weizenofferte besser, Kauflust gut, Tendenz ruhig,
Umsatz 40.000 Meterzentner, schwach behauptet. Uebriges
ruhiger. Termine eröffneten auf Amerika matt, später
auf schwache Kündigungen gebessert, schließlich auf
Realisationen ruhiger. Schön.

Neuweizen 79 bis 81 Kilo: 14.25 bis 14.65, 14.45
bis 14.85, 14.70 bis 15.05; Neuroggen 14.85 bis 15.20;
Neugerste 12.-- bis 12.40; Hafer 12.50 bis 13.20;
Neumais 13.80 bis 14.40; Hirse 12.20 bis 12.40; Kohl-
reps --.-- bis --.--; Rübsen 30.50 bis 31.50.

Gekündigt wurden: 5000 Meterzentner Weizen,
7500 Meterzentner Roggen und 12.000 Meterzentner
Hafer.




Lottoziehungen vom 3. Oktober.

Prag 43 35 44 90 73
Lemberg 11 81 6 70 56


[Spaltenumbruch]

77 Nachdruck verboten.

Bezahlte Schuld.

Richtig, Wasser zum Trinken! Das, was sie
vorhin geholt hatte, war bis zum letzten Tropfen
verbraucht; sie mußte also neuen Vorrat schöpfen.
Mit einem befriedigtem Blick auf den Kochtopf,
dessen Deckel jetzt lustig auf- und absprang, machte
Marion sich mit einem Eimer auf den Weg zum
Brunnen. Als sie nach einer Weile zurückkehrte,
war ihr Gesicht blaß und von Schmerz verzogen;
das linke Handgelenk hatte sie mit ihrem Taschen-
tuche verbunden. Mit gesenktem Haupte, schwer
atmend, schleppte sie sich mit ihrer Last weiter,
als plötzlich jemand, von dessen Annäherung sie
nichts bemerkt hatte, ihr den Eimer aus der Hand
nahm.

"Sie sind schon da?" rief sie erschrocken,
Hartley Lyle erkennend. "Wo ist mein Vater?
Das Essen ist noch nicht fertig."

"Beruhigen Sie sich, Miß Ferrol; Ihr Vater
und Bill Morris werden wohl noch eine Viertel-
stunde ausbleiben. Ich bin vorausgerannt in der
Hoffnung, Ihnen behilflich sein zu können."

"Aber mein Vater will das nicht," rief
Marion. "Er wird wieder in Zorn ausbrechen.
Wenn der Auftritt von heute morgen sich wieder-
holen sollte -- ich ertrüge es nicht. Bitte, stellen
Sie den Eimer nieder, ich werde schon allein
fertig."

"Aber Sie können unmöglich alles allein
tun," entgegnete der junge Mann, ihre Hand ab-
wehrend. "Aengstigen Sie sich übrigens nicht, ich
kenne Ihren Vater; sein Auftreten heute morgen
war nichts anderes als eine Laune. Er wollte
uns zeigen, daß er der Herr im Hause sei; wir
haben uns seinem Willen gefügt, und er ist befriedigt.
[Spaltenumbruch] Lassen Sie mich also ruhig gewähren. Ich hatte
noch einen zweiten Grund, weshalb ich wünschte,
vor den beiden hier zu sein: ich wollte Ihnen
nämlich sagen, daß Ihr Vater sehr oft kürzere
oder längere Zeit abwesend sein wird -- einen
halben, einen ganzen Tag. zuweilen auch wochen-
lang -- das heißt, ich denke, die größeren Reisen
wird er vorläufig wohl aufgeben, da er Sie doch
schwerlich allein hier zurücklassen kann. Heute
nachmittag reitet er zu Murdocks Farm hinüber.
Sobald er fort ist, wird Ihr Zimmer vor-
genommen. -- Was haben Sie mit Ihrem Arm
angefangen?" unterbrach er sich selbst.

Marion warf einen Blick auf das verbundene
Handgelenk und erinnerte sich plötzlich, daß ihr
Kostüm nichts weniger als salonfähig war.

"Mein Gott, ich -- ich beabsichtigte nicht,
mich so sehen zu lassen," stammelte sie in tödlicher
Verlegenheit.

"Warum denn nicht? Ihr Anzug ist ja
ganz allerliebst, sehr hübsch und sehr kleidsam!
Aber ich fürchte, die Stechmücken haben Sie arg
belästigt -- so lange man hier noch nicht akkli-
matisiert ist, hat man doppelt von ihnen zu leiden.
Doch Ihr Arm -- Sie haben sich hoffentlich nicht
ernstlich verletzt?"

"O nein, es hat nichts zu bedeuten," ent-
gegnete Marion. "Ich bin so ungeschickt; einen
Brunnen wie der hinter dem Hause hatte ich noch
nie gesehen, viel weniger noch Wasser daraus ge-
schöpft. Wie es eigentlich kam, kann ich Ihnen
nicht sagen; ich glaube, ich ließ die Stange zu
früh los, auf alle Fälle, das Ding fuhr plötzlich
herum und versetzte mir einen Schlag auf den
Arm, daß ich einen Augenblick glaubte, er sei ge-
brochen. So schlimm war es aber glücklicherweise
nicht; der Schmerz hat schon nachgelassen. -- Der
Topf kocht prächtig, finden Sie nicht?"

"Hm!" meinte Hartley Lyle mit einem be-
[Spaltenumbruch] sorgten Blick in der Richtung des Kochherdes.
"Sind Sie sicher, daß der Speck nicht hart sein
wird?"

"Hart?" rief Marion. "Er war schon weich,
ehe ich ihn hineinwarf. Ich gehe jetzt, um mich
umzukleiden. In zwei Minuten bin ich wieder
hier."

Sobald Marion die Türe hinter sich ge-
schlossen hatte, schob Hartley Lyle hastig den Koch-
topf mehr zurück und hob den Deckel ab.

"Gott im Himmel!" murmelte er, den
dünnen Brei betrachtend, aus welchem das Stück
Speck und die einsame Möhre wie zwei Inseln
aus dem Meere hervorragten. "Ferrol wird
wütend sein," fügte er hinzu, die Gabel nieder-
legend, mit welcher er die Beschaffenheit des Specks
erprobt hatte.

Marion wusch inzwischen Gesicht und Hände,
glättete ihr Haar, warf rasch ihr Kleid über und
kehrte in den vorderen Raum zurück. Unmittelbar
darauf traten auch ihr Vater und Bill Morris ein.

"Der Tausend!" rief Ferrol, erst den ge-
deckten Tisch und dann seine Tochter mit unge-
heuchelter Verwunderung betrachtend. "So fein
hat es bei unserem Mittagsmahl hier noch nie
ausgesehen, selbst nicht zur Zeit, wo meine Frau
noch lebte. Ich gratuliere, mein liebes Kind! Du
bist ein wahrer Phönix von einer Haushälterin.
Jim Murdocks vielgepriesene Sal Peters reicht
ihr das Wasser nicht -- eh Bill?"

"Meinetwegen," brummte dieser. Aber vom
Schwätzen wird man nicht satt, und ich
habe Hunger. Wenn man den ganzen
Vormittag wie ein Neger gearbeitet und
sich halbtot geschunden hat, dann wird's
Zeit, daß man 'was zwischen die Zähne bekommt.
Wartet, Miß; ich will Euch helfen. Der Topf
ist zu schwer für Euch; haltet Ihr die Schüssel,
dann schütte ich ein."     Forts. f.


227 Wien, Freitag Reichspoſt 5. Oktober 1906

[Spaltenumbruch]
Aus dem Gerichtsſaale.
Der jüngſte Dieb.

Die Mutter als
Hehlerin eines dreijährigen Diebes

ein Fall, der kaum jemals dageweſen ſein dürfte!
Vor dem Leopoldſtädter Bezirksgerichte hatte ſich
die Agnes Stehlik zu verantworten, weil ſie ihre
Kinder, darunter den dreijährigen Stefan
zum Diebſtahl verleitete und, als der kleine Junge
einem Mädchen die Börſe ſtahl, das Geld in Ver-
wahrung nahm. Der dreijährige Knabe, in dem
jetzt ſchon die ſchlimmſten Inſtinkte unglaublich
entwickelt ſind, wurde als Zeuge vorgerufen. Er
wirft ſcheue und verbiſſene Blicke um ſich.
Richter: Haſt Du das Börſel genommen? —
Knabe (trotzig): Nein! — Richter: Es liegt ja
nichts dran, wenn Du ’s ſagſt, Dir geſchieht ja nichts.
Haſt Du der Mutter Geld gegeben? — Knabe:
Na, wenn i nix genommen hab’! Der zehnjährige
Joſef Stehlik ſagt, daß nicht ſein Bruder,
ſondern der gleichfalls noch nicht zehn Jahre alte
Pantſchochar das Geldtäſchchen geſtohlen habe.
Er habe nur das Geld bekommen. Pantſchochar,
der als Zeuge geladen war, war nicht erſchienen.
Der Richter bemerkt, daß die Pantſchochar-
Kinder
ein Schrecken der Brigittenau
ſeien, und ſogar ſchon Verbrechen des Diebſtahls
begangen hätten. Das beſtohlene Mädchen gab aber
mit Beſtimmtheit an, daß der dreijährige
Stefan
den Diebſtahl verübt habe. — Richter:
So ſag ’s doch, wenn Du’s getan haſt. — Stefan:
Na. — Richter: Es iſt ſchrecklich, welche Ver-
ſtocktheit in dem Kinde ſteckt. Der zehnjährige
Andreas Zuber erzählt, daß er zugeſehen
habe, wie der Stefan die Börſe ſtahl und daß
er ihn vorher, offenbar um ſeine Aufmerkſamkeit
abzulenken, wegſchicken wollte und ihm einen Stock
verſprach. Stefan ſchreit wieder: Na! Zur Vor-
ladung des Pantſchochar wurde die Ver-
handlung vertagt.




Volkswirtſchaftlicher Teil.
Die Nordbahnverſtaatlichung.

Geſtern und heute fand im Eiſenbahnausſchuſſe
die Generaldebatte über den Bericht des Subkomitees
betreffend die Vorlage über die Nordbahnverſtaat-
lichung ſtatt. Der Bericht wurde vom Abg. Hofrat
Suklje erſtattet; er kommt zu folgendem Er-
gebnis:

Möglich wären im Falle der Ablehnung des
Uebereinkommens folgende Alternativen: a) Anbahnung
neuer Verhandlungen; b) Aufſchub der Ver-
ſtaatlichung und Abwarten eines neuen Septennats,
um inzwiſchen durch Ausnützung der ſtaatlichen Tarif-
hoheit (§ 21 K. U.) und des ſtaatlichen Bahnaufſichts-
rea tes (§ 36 K. U.) die Reinertragsziffer zu drücken
[Spaltenumbruch] und den auf die einzelne Nordbahnaktie entfallenden
Rentenbetrag auf 200 Kronen anſtatt der jetzt
konzedierten 220 Kronen zu reduzieren; c) kon-
zeſſionsmäßige Einlöſung.
Hiebei
wurde von den Bekämpfern des Abkommens die
Anſicht geäußert, es ſolle die Legislative die Re-
gierung auffordern, mit 1. Jänner 1907 die Nordbahn
in Betrieb und Beſitz zu nehmen. Was die sub a)
erwähnte Eventualität betrifft, konnte ſich die Mehr-
heit des Subkomitees nach der Erklärung des
Miniſters der Erwägung nicht verſchließen, daß die
Neuaufnahme der Verhandlungen von keinem Erfolg
begleitet ſein werde. Die Alternative sub b) würde
die ſeitens der Bevölkerung gewünſchte Verſtaatlichung
der Nordbahn auf lange Jahre hinausſchieben und
vorausſichtlich zu einem weſentlich ungünſtigeren Re-
ſultat führen. Aus dieſen Gründen konnte nur die
Alternative sub c) ernſtlich in Betracht kommen.
Die Erörterung dieſer Alternative bot Anlaß zu einer
weitausgreifenden Diskuſſion, an der ſich auch der
Eiſenbahnminiſter beteiligte. Im Hinblick auf die
außerordentliche Wichtigkeit des Gegenſtandes wurde
die Regierung erſucht, ihren Standpunkt klar zu
präziſieren, und glaubt das Subkomitee, die Entgegen-
nahme dieſer Erklärung dem Ausſchuß ſelbſt vor-
behalten zu ſollen.

Geſtern ſprach zunächſt Abg. Dr. Steinwender;
er kritiſiert die Höhe der Einlöſungsrente. Nicht zu-
gerechnet werden dürfen die Tantiêmen des Ver-
waltungsrates, die künftigen Auslagen für die Ver-
waltung des Vermögens der Nordbahn, auch nicht die
Zinſen der Betriebsgelder. Dieſe nicht gerechtfertigten
Zurechnungen betragen jährlich 400.000 Kronen,
repräſentieren alſo einen Anfangswert von 7½ Mil-
lionen. Ganz unzuläſſig erſcheine die Privilegierung
der Rente gegen jede künftige Reform der
Steuergeſetzgebung auf eine ganze Generation
hinaus und ebenſo die Gebührenfreiheit. Daher
beantragt Redner, daß über das Uebereinkommen
zur Tagesordnung übergegangen und die Re-
gierung ermächtigt werde, von dem Einlöſungsrechte
mit 1. Jänner 1907 auf Grund der konzeſſions-
mäßigen Beſtimmungen
Gebrauch zu machen. —
Abg. Dr. Götz iſt gegen das Uebereinkommen, weil
die mähriſche Induſtrie die Erhöhung der Tarife
fürchte und weil die Einlöſungsſumme zu hoch ſei.
Abg. Kaftan wird trotz aller Bedenken gegen das
vorliegende Uebereinkommen für dasſelbe ſtimmen; er
verlangt die ſofortige Einleitung von Verhandlungen
zum Zwecke der Verſtaatlichung der Staatseiſenbahn,
der Nordweſtbahn und der Kaſchau—Oderberger Bahn.
Abg. Dr. Ellenbogen iſt im Prinzip für die Vor-
lage, will aber, da das Uebereinkommen große Fehler
habe, für den Antrag Steinwender ſtimmen. Abge-
ordneter Dr. Koliſcher iſt ohne Rückſicht, ob die
Nordbahn um einige Perzent teurer oder billiger iſt,
für die Einlöſung. Abg. Dr. v. Demel iſt für den
Antrag Steinwenders.




Ein Leimkartell.

Eine Anzahl öſter-
reichiſcher und ungariſcher Leimfabrikanten, welche
zirka 95 % der Produktion repräſentieren, hat unter
Hinzutritt mehrerer ausländiſcher Fabriksfirmen
eine Geſellſchaft m. b. H. gegründet, die auf mehr-
jährige Dauer den geſamten Einkauf von Knochen
und Verkauf von Leim, Knochenmehl und Knochen-
fett zu beſorgeu hat. Mit dem kommiſſionsweiſen
Ein- und Verkaufe wurde für Oeſterreich mit Aus-
[Spaltenumbruch] nahme von Böhmen die Länderbank in Wien, für
Böhmen die Filiale dieſes Inſtitutes in Prag
und für Ungarn ein ungariſches Bankinſtitut in
Ofen-Peſt betraut. — Es dürften alſo auch der
Leim, Knochenmehl und Knochenfett bald teurer,
die Preiſe für die Knochen aber gedrückt werden.




Amtliche Kurſe der Börſe für landwirt-
ſchaftliche Produkte.


Weizen, per 50 Kilo: Theiß, 78—82 Kilo,
Kr. 7.85 bis Kr. 8.35, neuer, 78—82 Kilo, Kr. —.—
bis Kr. —.—; Banater, 76—80 Kilo, Kr. 7.50 bis
Kr. 8.—: Südbahn, neuer 76 bis 79 Kilo, Kr. 7.50
bis Kr. 7.90; Marchfelder und andere Nieder-Oeſter-
reicher, neuer 76—79 Kilo, Kr. 7.45 bis Kr. 7.80.

Roggen, per 50 Kilo: ſlovakiſcher, neuer, 72 bis
74 Kilo, Kr. 6.55 bis Kr. 6.70; diverſer ungariſcher,
alter, 72—74 Kilo, Kr. —.— bis Kr. —.—, neuer Kr.
6.45 bis Kr. 6.65; öſterreichiſcher, neuer, 71—74 Kilo,
Kr. 6.45 bis Kr. 6.70.

Gerſte, per 50 Kilo: mähriſche, ab Stationen,
neu, Kr. 7.75 bis Kr. 8.80; Brenner- und Schälgerſte
Kr. 6.30 bis Kr. 6.50.

Hafer, per 50 Kilo: ungariſcher prima, neuer
Kr. 7.40 bis Kr. 7.60.

Reps, per 50 Kilo: Kohl prompt Kr. 16.— bis
Kr. 16.50.

Malz, per 50 Kilo: prima Kr. —.— bis Kr. —.—,
ſecunda Kr. —.— bis Kr. —.—.

Mais, per 50 Kilo: ungariſcher Kr. 6.75 bis
Kr. 6.95.

Mahlprodukte, per 50 Kilo: Wiener Weizen-
mehl-Type:
Nr. 0 Kr. 13.50 bis 13.70, Nr. 1
Kr. 12.[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]0 bis Kr. 13.20, Nr. 2 Kr. 12.50 bis Kr. 12.70,
Nr. 3 Kr. 11.70 bis Kr. 11.90, Nr. 7 Kr. 8.30 bis Kr. 8.70,
Nr. 7½ Kr. 7.60 bis Kr. 8.10. Wiener Roggenmehl-
Type:
Nr. 0 Kr. 11.20 bis Kr. 11.60, Nr, 1 Kr. 9.60
bis Kr. 10.—, Nr. 3 Kr. 7.70 Kr. bis 8.10.




Die Getreidepreiſe in Peſt.

(Offizielle Schlußkurſe.)
Weizen per Oktober, Kronen 14.24 bis 14.26, per
April 14.84 bis 14.86, Roggen per April 12.94 bis 12.96,
per Oktober Kronen 12.40 bis 12.42, Hafer per
Oktober 13.78 bis 13.80, per April 13.78 bis 13.80,
Mais per Oktober nominell, per Mai 10.04 bis 10.06,
Kohlreps 23.90 bis 24.10.

Weizenofferte beſſer, Kaufluſt gut, Tendenz ruhig,
Umſatz 40.000 Meterzentner, ſchwach behauptet. Uebriges
ruhiger. Termine eröffneten auf Amerika matt, ſpäter
auf ſchwache Kündigungen gebeſſert, ſchließlich auf
Realiſationen ruhiger. Schön.

Neuweizen 79 bis 81 Kilo: 14.25 bis 14.65, 14.45
bis 14.85, 14.70 bis 15.05; Neuroggen 14.85 bis 15.20;
Neugerſte 12.— bis 12.40; Hafer 12.50 bis 13.20;
Neumais 13.80 bis 14.40; Hirſe 12.20 bis 12.40; Kohl-
reps —.— bis —.—; Rübſen 30.50 bis 31.50.

Gekündigt wurden: 5000 Meterzentner Weizen,
7500 Meterzentner Roggen und 12.000 Meterzentner
Hafer.




Lottoziehungen vom 3. Oktober.

Prag 43 35 44 90 73
Lemberg 11 81 6 70 56


[Spaltenumbruch]

77 Nachdruck verboten.

Bezahlte Schuld.

Richtig, Waſſer zum Trinken! Das, was ſie
vorhin geholt hatte, war bis zum letzten Tropfen
verbraucht; ſie mußte alſo neuen Vorrat ſchöpfen.
Mit einem befriedigtem Blick auf den Kochtopf,
deſſen Deckel jetzt luſtig auf- und abſprang, machte
Marion ſich mit einem Eimer auf den Weg zum
Brunnen. Als ſie nach einer Weile zurückkehrte,
war ihr Geſicht blaß und von Schmerz verzogen;
das linke Handgelenk hatte ſie mit ihrem Taſchen-
tuche verbunden. Mit geſenktem Haupte, ſchwer
atmend, ſchleppte ſie ſich mit ihrer Laſt weiter,
als plötzlich jemand, von deſſen Annäherung ſie
nichts bemerkt hatte, ihr den Eimer aus der Hand
nahm.

„Sie ſind ſchon da?“ rief ſie erſchrocken,
Hartley Lyle erkennend. „Wo iſt mein Vater?
Das Eſſen iſt noch nicht fertig.“

„Beruhigen Sie ſich, Miß Ferrol; Ihr Vater
und Bill Morris werden wohl noch eine Viertel-
ſtunde ausbleiben. Ich bin vorausgerannt in der
Hoffnung, Ihnen behilflich ſein zu können.“

„Aber mein Vater will das nicht,“ rief
Marion. „Er wird wieder in Zorn ausbrechen.
Wenn der Auftritt von heute morgen ſich wieder-
holen ſollte — ich ertrüge es nicht. Bitte, ſtellen
Sie den Eimer nieder, ich werde ſchon allein
fertig.“

„Aber Sie können unmöglich alles allein
tun,“ entgegnete der junge Mann, ihre Hand ab-
wehrend. „Aengſtigen Sie ſich übrigens nicht, ich
kenne Ihren Vater; ſein Auftreten heute morgen
war nichts anderes als eine Laune. Er wollte
uns zeigen, daß er der Herr im Hauſe ſei; wir
haben uns ſeinem Willen gefügt, und er iſt befriedigt.
[Spaltenumbruch] Laſſen Sie mich alſo ruhig gewähren. Ich hatte
noch einen zweiten Grund, weshalb ich wünſchte,
vor den beiden hier zu ſein: ich wollte Ihnen
nämlich ſagen, daß Ihr Vater ſehr oft kürzere
oder längere Zeit abweſend ſein wird — einen
halben, einen ganzen Tag. zuweilen auch wochen-
lang — das heißt, ich denke, die größeren Reiſen
wird er vorläufig wohl aufgeben, da er Sie doch
ſchwerlich allein hier zurücklaſſen kann. Heute
nachmittag reitet er zu Murdocks Farm hinüber.
Sobald er fort iſt, wird Ihr Zimmer vor-
genommen. — Was haben Sie mit Ihrem Arm
angefangen?“ unterbrach er ſich ſelbſt.

Marion warf einen Blick auf das verbundene
Handgelenk und erinnerte ſich plötzlich, daß ihr
Koſtüm nichts weniger als ſalonfähig war.

„Mein Gott, ich — ich beabſichtigte nicht,
mich ſo ſehen zu laſſen,“ ſtammelte ſie in tödlicher
Verlegenheit.

„Warum denn nicht? Ihr Anzug iſt ja
ganz allerliebſt, ſehr hübſch und ſehr kleidſam!
Aber ich fürchte, die Stechmücken haben Sie arg
beläſtigt — ſo lange man hier noch nicht akkli-
matiſiert iſt, hat man doppelt von ihnen zu leiden.
Doch Ihr Arm — Sie haben ſich hoffentlich nicht
ernſtlich verletzt?“

„O nein, es hat nichts zu bedeuten,“ ent-
gegnete Marion. „Ich bin ſo ungeſchickt; einen
Brunnen wie der hinter dem Hauſe hatte ich noch
nie geſehen, viel weniger noch Waſſer daraus ge-
ſchöpft. Wie es eigentlich kam, kann ich Ihnen
nicht ſagen; ich glaube, ich ließ die Stange zu
früh los, auf alle Fälle, das Ding fuhr plötzlich
herum und verſetzte mir einen Schlag auf den
Arm, daß ich einen Augenblick glaubte, er ſei ge-
brochen. So ſchlimm war es aber glücklicherweiſe
nicht; der Schmerz hat ſchon nachgelaſſen. — Der
Topf kocht prächtig, finden Sie nicht?“

„Hm!“ meinte Hartley Lyle mit einem be-
[Spaltenumbruch] ſorgten Blick in der Richtung des Kochherdes.
„Sind Sie ſicher, daß der Speck nicht hart ſein
wird?“

„Hart?“ rief Marion. „Er war ſchon weich,
ehe ich ihn hineinwarf. Ich gehe jetzt, um mich
umzukleiden. In zwei Minuten bin ich wieder
hier.“

Sobald Marion die Türe hinter ſich ge-
ſchloſſen hatte, ſchob Hartley Lyle haſtig den Koch-
topf mehr zurück und hob den Deckel ab.

„Gott im Himmel!“ murmelte er, den
dünnen Brei betrachtend, aus welchem das Stück
Speck und die einſame Möhre wie zwei Inſeln
aus dem Meere hervorragten. „Ferrol wird
wütend ſein,“ fügte er hinzu, die Gabel nieder-
legend, mit welcher er die Beſchaffenheit des Specks
erprobt hatte.

Marion wuſch inzwiſchen Geſicht und Hände,
glättete ihr Haar, warf raſch ihr Kleid über und
kehrte in den vorderen Raum zurück. Unmittelbar
darauf traten auch ihr Vater und Bill Morris ein.

„Der Tauſend!“ rief Ferrol, erſt den ge-
deckten Tiſch und dann ſeine Tochter mit unge-
heuchelter Verwunderung betrachtend. „So fein
hat es bei unſerem Mittagsmahl hier noch nie
ausgeſehen, ſelbſt nicht zur Zeit, wo meine Frau
noch lebte. Ich gratuliere, mein liebes Kind! Du
biſt ein wahrer Phönix von einer Haushälterin.
Jim Murdocks vielgeprieſene Sal Peters reicht
ihr das Waſſer nicht — eh Bill?“

„Meinetwegen,“ brummte dieſer. Aber vom
Schwätzen wird man nicht ſatt, und ich
habe Hunger. Wenn man den ganzen
Vormittag wie ein Neger gearbeitet und
ſich halbtot geſchunden hat, dann wird’s
Zeit, daß man ’was zwiſchen die Zähne bekommt.
Wartet, Miß; ich will Euch helfen. Der Topf
iſt zu ſchwer für Euch; haltet Ihr die Schüſſel,
dann ſchütte ich ein.“     Fortſ. f.


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[11/0011] 227 Wien, Freitag Reichspoſt 5. Oktober 1906 Aus dem Gerichtsſaale. Der jüngſte Dieb. Die Mutter als Hehlerin eines dreijährigen Diebes — ein Fall, der kaum jemals dageweſen ſein dürfte! Vor dem Leopoldſtädter Bezirksgerichte hatte ſich die Agnes Stehlik zu verantworten, weil ſie ihre Kinder, darunter den dreijährigen Stefan zum Diebſtahl verleitete und, als der kleine Junge einem Mädchen die Börſe ſtahl, das Geld in Ver- wahrung nahm. Der dreijährige Knabe, in dem jetzt ſchon die ſchlimmſten Inſtinkte unglaublich entwickelt ſind, wurde als Zeuge vorgerufen. Er wirft ſcheue und verbiſſene Blicke um ſich. Richter: Haſt Du das Börſel genommen? — Knabe (trotzig): Nein! — Richter: Es liegt ja nichts dran, wenn Du ’s ſagſt, Dir geſchieht ja nichts. Haſt Du der Mutter Geld gegeben? — Knabe: Na, wenn i nix genommen hab’! Der zehnjährige Joſef Stehlik ſagt, daß nicht ſein Bruder, ſondern der gleichfalls noch nicht zehn Jahre alte Pantſchochar das Geldtäſchchen geſtohlen habe. Er habe nur das Geld bekommen. Pantſchochar, der als Zeuge geladen war, war nicht erſchienen. Der Richter bemerkt, daß die Pantſchochar- Kinder ein Schrecken der Brigittenau ſeien, und ſogar ſchon Verbrechen des Diebſtahls begangen hätten. Das beſtohlene Mädchen gab aber mit Beſtimmtheit an, daß der dreijährige Stefan den Diebſtahl verübt habe. — Richter: So ſag ’s doch, wenn Du’s getan haſt. — Stefan: Na. — Richter: Es iſt ſchrecklich, welche Ver- ſtocktheit in dem Kinde ſteckt. Der zehnjährige Andreas Zuber erzählt, daß er zugeſehen habe, wie der Stefan die Börſe ſtahl und daß er ihn vorher, offenbar um ſeine Aufmerkſamkeit abzulenken, wegſchicken wollte und ihm einen Stock verſprach. Stefan ſchreit wieder: Na! Zur Vor- ladung des Pantſchochar wurde die Ver- handlung vertagt. Volkswirtſchaftlicher Teil. Die Nordbahnverſtaatlichung. Geſtern und heute fand im Eiſenbahnausſchuſſe die Generaldebatte über den Bericht des Subkomitees betreffend die Vorlage über die Nordbahnverſtaat- lichung ſtatt. Der Bericht wurde vom Abg. Hofrat Suklje erſtattet; er kommt zu folgendem Er- gebnis: Möglich wären im Falle der Ablehnung des Uebereinkommens folgende Alternativen: a) Anbahnung neuer Verhandlungen; b) Aufſchub der Ver- ſtaatlichung und Abwarten eines neuen Septennats, um inzwiſchen durch Ausnützung der ſtaatlichen Tarif- hoheit (§ 21 K. U.) und des ſtaatlichen Bahnaufſichts- rea tes (§ 36 K. U.) die Reinertragsziffer zu drücken und den auf die einzelne Nordbahnaktie entfallenden Rentenbetrag auf 200 Kronen anſtatt der jetzt konzedierten 220 Kronen zu reduzieren; c) kon- zeſſionsmäßige Einlöſung. Hiebei wurde von den Bekämpfern des Abkommens die Anſicht geäußert, es ſolle die Legislative die Re- gierung auffordern, mit 1. Jänner 1907 die Nordbahn in Betrieb und Beſitz zu nehmen. Was die sub a) erwähnte Eventualität betrifft, konnte ſich die Mehr- heit des Subkomitees nach der Erklärung des Miniſters der Erwägung nicht verſchließen, daß die Neuaufnahme der Verhandlungen von keinem Erfolg begleitet ſein werde. Die Alternative sub b) würde die ſeitens der Bevölkerung gewünſchte Verſtaatlichung der Nordbahn auf lange Jahre hinausſchieben und vorausſichtlich zu einem weſentlich ungünſtigeren Re- ſultat führen. Aus dieſen Gründen konnte nur die Alternative sub c) ernſtlich in Betracht kommen. Die Erörterung dieſer Alternative bot Anlaß zu einer weitausgreifenden Diskuſſion, an der ſich auch der Eiſenbahnminiſter beteiligte. Im Hinblick auf die außerordentliche Wichtigkeit des Gegenſtandes wurde die Regierung erſucht, ihren Standpunkt klar zu präziſieren, und glaubt das Subkomitee, die Entgegen- nahme dieſer Erklärung dem Ausſchuß ſelbſt vor- behalten zu ſollen. Geſtern ſprach zunächſt Abg. Dr. Steinwender; er kritiſiert die Höhe der Einlöſungsrente. Nicht zu- gerechnet werden dürfen die Tantiêmen des Ver- waltungsrates, die künftigen Auslagen für die Ver- waltung des Vermögens der Nordbahn, auch nicht die Zinſen der Betriebsgelder. Dieſe nicht gerechtfertigten Zurechnungen betragen jährlich 400.000 Kronen, repräſentieren alſo einen Anfangswert von 7½ Mil- lionen. Ganz unzuläſſig erſcheine die Privilegierung der Rente gegen jede künftige Reform der Steuergeſetzgebung auf eine ganze Generation hinaus und ebenſo die Gebührenfreiheit. Daher beantragt Redner, daß über das Uebereinkommen zur Tagesordnung übergegangen und die Re- gierung ermächtigt werde, von dem Einlöſungsrechte mit 1. Jänner 1907 auf Grund der konzeſſions- mäßigen Beſtimmungen Gebrauch zu machen. — Abg. Dr. Götz iſt gegen das Uebereinkommen, weil die mähriſche Induſtrie die Erhöhung der Tarife fürchte und weil die Einlöſungsſumme zu hoch ſei. Abg. Kaftan wird trotz aller Bedenken gegen das vorliegende Uebereinkommen für dasſelbe ſtimmen; er verlangt die ſofortige Einleitung von Verhandlungen zum Zwecke der Verſtaatlichung der Staatseiſenbahn, der Nordweſtbahn und der Kaſchau—Oderberger Bahn. Abg. Dr. Ellenbogen iſt im Prinzip für die Vor- lage, will aber, da das Uebereinkommen große Fehler habe, für den Antrag Steinwender ſtimmen. Abge- ordneter Dr. Koliſcher iſt ohne Rückſicht, ob die Nordbahn um einige Perzent teurer oder billiger iſt, für die Einlöſung. Abg. Dr. v. Demel iſt für den Antrag Steinwenders. Ein Leimkartell. Eine Anzahl öſter- reichiſcher und ungariſcher Leimfabrikanten, welche zirka 95 % der Produktion repräſentieren, hat unter Hinzutritt mehrerer ausländiſcher Fabriksfirmen eine Geſellſchaft m. b. H. gegründet, die auf mehr- jährige Dauer den geſamten Einkauf von Knochen und Verkauf von Leim, Knochenmehl und Knochen- fett zu beſorgeu hat. Mit dem kommiſſionsweiſen Ein- und Verkaufe wurde für Oeſterreich mit Aus- nahme von Böhmen die Länderbank in Wien, für Böhmen die Filiale dieſes Inſtitutes in Prag und für Ungarn ein ungariſches Bankinſtitut in Ofen-Peſt betraut. — Es dürften alſo auch der Leim, Knochenmehl und Knochenfett bald teurer, die Preiſe für die Knochen aber gedrückt werden. Amtliche Kurſe der Börſe für landwirt- ſchaftliche Produkte. Wien, 3. Oktober. Weizen, per 50 Kilo: Theiß, 78—82 Kilo, Kr. 7.85 bis Kr. 8.35, neuer, 78—82 Kilo, Kr. —.— bis Kr. —.—; Banater, 76—80 Kilo, Kr. 7.50 bis Kr. 8.—: Südbahn, neuer 76 bis 79 Kilo, Kr. 7.50 bis Kr. 7.90; Marchfelder und andere Nieder-Oeſter- reicher, neuer 76—79 Kilo, Kr. 7.45 bis Kr. 7.80. Roggen, per 50 Kilo: ſlovakiſcher, neuer, 72 bis 74 Kilo, Kr. 6.55 bis Kr. 6.70; diverſer ungariſcher, alter, 72—74 Kilo, Kr. —.— bis Kr. —.—, neuer Kr. 6.45 bis Kr. 6.65; öſterreichiſcher, neuer, 71—74 Kilo, Kr. 6.45 bis Kr. 6.70. Gerſte, per 50 Kilo: mähriſche, ab Stationen, neu, Kr. 7.75 bis Kr. 8.80; Brenner- und Schälgerſte Kr. 6.30 bis Kr. 6.50. Hafer, per 50 Kilo: ungariſcher prima, neuer Kr. 7.40 bis Kr. 7.60. Reps, per 50 Kilo: Kohl prompt Kr. 16.— bis Kr. 16.50. Malz, per 50 Kilo: prima Kr. —.— bis Kr. —.—, ſecunda Kr. —.— bis Kr. —.—. Mais, per 50 Kilo: ungariſcher Kr. 6.75 bis Kr. 6.95. Mahlprodukte, per 50 Kilo: Wiener Weizen- mehl-Type: Nr. 0 Kr. 13.50 bis 13.70, Nr. 1 Kr. 12._0 bis Kr. 13.20, Nr. 2 Kr. 12.50 bis Kr. 12.70, Nr. 3 Kr. 11.70 bis Kr. 11.90, Nr. 7 Kr. 8.30 bis Kr. 8.70, Nr. 7½ Kr. 7.60 bis Kr. 8.10. Wiener Roggenmehl- Type: Nr. 0 Kr. 11.20 bis Kr. 11.60, Nr, 1 Kr. 9.60 bis Kr. 10.—, Nr. 3 Kr. 7.70 Kr. bis 8.10. Die Getreidepreiſe in Peſt. Ofen-Peſt, 3. Oktober. (Offizielle Schlußkurſe.) Weizen per Oktober, Kronen 14.24 bis 14.26, per April 14.84 bis 14.86, Roggen per April 12.94 bis 12.96, per Oktober Kronen 12.40 bis 12.42, Hafer per Oktober 13.78 bis 13.80, per April 13.78 bis 13.80, Mais per Oktober nominell, per Mai 10.04 bis 10.06, Kohlreps 23.90 bis 24.10. Weizenofferte beſſer, Kaufluſt gut, Tendenz ruhig, Umſatz 40.000 Meterzentner, ſchwach behauptet. Uebriges ruhiger. Termine eröffneten auf Amerika matt, ſpäter auf ſchwache Kündigungen gebeſſert, ſchließlich auf Realiſationen ruhiger. Schön. Neuweizen 79 bis 81 Kilo: 14.25 bis 14.65, 14.45 bis 14.85, 14.70 bis 15.05; Neuroggen 14.85 bis 15.20; Neugerſte 12.— bis 12.40; Hafer 12.50 bis 13.20; Neumais 13.80 bis 14.40; Hirſe 12.20 bis 12.40; Kohl- reps —.— bis —.—; Rübſen 30.50 bis 31.50. Gekündigt wurden: 5000 Meterzentner Weizen, 7500 Meterzentner Roggen und 12.000 Meterzentner Hafer. Lottoziehungen vom 3. Oktober. Prag 43 35 44 90 73 Lemberg 11 81 6 70 56 77 Nachdruck verboten. Bezahlte Schuld. Dem Engliſchen nacherzählt von J. Nemo. Richtig, Waſſer zum Trinken! Das, was ſie vorhin geholt hatte, war bis zum letzten Tropfen verbraucht; ſie mußte alſo neuen Vorrat ſchöpfen. Mit einem befriedigtem Blick auf den Kochtopf, deſſen Deckel jetzt luſtig auf- und abſprang, machte Marion ſich mit einem Eimer auf den Weg zum Brunnen. Als ſie nach einer Weile zurückkehrte, war ihr Geſicht blaß und von Schmerz verzogen; das linke Handgelenk hatte ſie mit ihrem Taſchen- tuche verbunden. Mit geſenktem Haupte, ſchwer atmend, ſchleppte ſie ſich mit ihrer Laſt weiter, als plötzlich jemand, von deſſen Annäherung ſie nichts bemerkt hatte, ihr den Eimer aus der Hand nahm. „Sie ſind ſchon da?“ rief ſie erſchrocken, Hartley Lyle erkennend. „Wo iſt mein Vater? Das Eſſen iſt noch nicht fertig.“ „Beruhigen Sie ſich, Miß Ferrol; Ihr Vater und Bill Morris werden wohl noch eine Viertel- ſtunde ausbleiben. Ich bin vorausgerannt in der Hoffnung, Ihnen behilflich ſein zu können.“ „Aber mein Vater will das nicht,“ rief Marion. „Er wird wieder in Zorn ausbrechen. Wenn der Auftritt von heute morgen ſich wieder- holen ſollte — ich ertrüge es nicht. Bitte, ſtellen Sie den Eimer nieder, ich werde ſchon allein fertig.“ „Aber Sie können unmöglich alles allein tun,“ entgegnete der junge Mann, ihre Hand ab- wehrend. „Aengſtigen Sie ſich übrigens nicht, ich kenne Ihren Vater; ſein Auftreten heute morgen war nichts anderes als eine Laune. Er wollte uns zeigen, daß er der Herr im Hauſe ſei; wir haben uns ſeinem Willen gefügt, und er iſt befriedigt. Laſſen Sie mich alſo ruhig gewähren. Ich hatte noch einen zweiten Grund, weshalb ich wünſchte, vor den beiden hier zu ſein: ich wollte Ihnen nämlich ſagen, daß Ihr Vater ſehr oft kürzere oder längere Zeit abweſend ſein wird — einen halben, einen ganzen Tag. zuweilen auch wochen- lang — das heißt, ich denke, die größeren Reiſen wird er vorläufig wohl aufgeben, da er Sie doch ſchwerlich allein hier zurücklaſſen kann. Heute nachmittag reitet er zu Murdocks Farm hinüber. Sobald er fort iſt, wird Ihr Zimmer vor- genommen. — Was haben Sie mit Ihrem Arm angefangen?“ unterbrach er ſich ſelbſt. Marion warf einen Blick auf das verbundene Handgelenk und erinnerte ſich plötzlich, daß ihr Koſtüm nichts weniger als ſalonfähig war. „Mein Gott, ich — ich beabſichtigte nicht, mich ſo ſehen zu laſſen,“ ſtammelte ſie in tödlicher Verlegenheit. „Warum denn nicht? Ihr Anzug iſt ja ganz allerliebſt, ſehr hübſch und ſehr kleidſam! Aber ich fürchte, die Stechmücken haben Sie arg beläſtigt — ſo lange man hier noch nicht akkli- matiſiert iſt, hat man doppelt von ihnen zu leiden. Doch Ihr Arm — Sie haben ſich hoffentlich nicht ernſtlich verletzt?“ „O nein, es hat nichts zu bedeuten,“ ent- gegnete Marion. „Ich bin ſo ungeſchickt; einen Brunnen wie der hinter dem Hauſe hatte ich noch nie geſehen, viel weniger noch Waſſer daraus ge- ſchöpft. Wie es eigentlich kam, kann ich Ihnen nicht ſagen; ich glaube, ich ließ die Stange zu früh los, auf alle Fälle, das Ding fuhr plötzlich herum und verſetzte mir einen Schlag auf den Arm, daß ich einen Augenblick glaubte, er ſei ge- brochen. So ſchlimm war es aber glücklicherweiſe nicht; der Schmerz hat ſchon nachgelaſſen. — Der Topf kocht prächtig, finden Sie nicht?“ „Hm!“ meinte Hartley Lyle mit einem be- ſorgten Blick in der Richtung des Kochherdes. „Sind Sie ſicher, daß der Speck nicht hart ſein wird?“ „Hart?“ rief Marion. „Er war ſchon weich, ehe ich ihn hineinwarf. Ich gehe jetzt, um mich umzukleiden. In zwei Minuten bin ich wieder hier.“ Sobald Marion die Türe hinter ſich ge- ſchloſſen hatte, ſchob Hartley Lyle haſtig den Koch- topf mehr zurück und hob den Deckel ab. „Gott im Himmel!“ murmelte er, den dünnen Brei betrachtend, aus welchem das Stück Speck und die einſame Möhre wie zwei Inſeln aus dem Meere hervorragten. „Ferrol wird wütend ſein,“ fügte er hinzu, die Gabel nieder- legend, mit welcher er die Beſchaffenheit des Specks erprobt hatte. Marion wuſch inzwiſchen Geſicht und Hände, glättete ihr Haar, warf raſch ihr Kleid über und kehrte in den vorderen Raum zurück. Unmittelbar darauf traten auch ihr Vater und Bill Morris ein. „Der Tauſend!“ rief Ferrol, erſt den ge- deckten Tiſch und dann ſeine Tochter mit unge- heuchelter Verwunderung betrachtend. „So fein hat es bei unſerem Mittagsmahl hier noch nie ausgeſehen, ſelbſt nicht zur Zeit, wo meine Frau noch lebte. Ich gratuliere, mein liebes Kind! Du biſt ein wahrer Phönix von einer Haushälterin. Jim Murdocks vielgeprieſene Sal Peters reicht ihr das Waſſer nicht — eh Bill?“ „Meinetwegen,“ brummte dieſer. Aber vom Schwätzen wird man nicht ſatt, und ich habe Hunger. Wenn man den ganzen Vormittag wie ein Neger gearbeitet und ſich halbtot geſchunden hat, dann wird’s Zeit, daß man ’was zwiſchen die Zähne bekommt. Wartet, Miß; ich will Euch helfen. Der Topf iſt zu ſchwer für Euch; haltet Ihr die Schüſſel, dann ſchütte ich ein.“ Fortſ. f.

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 227, Wien, 05.10.1906, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost227_1906/11>, abgerufen am 03.12.2024.