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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Entdeckungsreisen in dieses zweite Naturreich sind heute
in vollem Gange, und die verschiedenen Zweige des
Wissens leihen einander dazu Mannschaft und Ausrü-
stung. Besonnene Kraft thut auch hier das Beste, wie
immer, aber auch der abenteuernde Muth hat sein Ver-
dienst an den raschesten Erfolgen. Fast Tag für Tag
entdeckt man Durchfahrten durch bisher undurchdring-
liche Gebiete oder erblickt von den Masten festes Land
in zum erstenmal betretenen Meeren; schon manche fa-
belhafte Atlantis ist verschwunden, und wo die alten
Geschichtskartenzeichner auf weite leere Meeresstrecken
Seeungeheuer und in das Jnnere unbekannter Conti-
nente fabelhafte Menschen= und Thierbilder spielend
hingezeichnet, da finden sich jetzt vermessene Archipele
und Gebirgszüge eingetragen. Sieht man auch nicht
ab, ob die eigentliche Weltumseglung gelingen wird und
kann, so meint man doch die Figur der Geisteswelt
bestimmt gefaßt zu haben, und sieht man den Eifer, mit
dem die historische Wissenschaft im weitesten Sinn nach
allen Richtungen ihre Arbeiten vorwärts treibt, so meint
man, das Zeitalter wolle nicht ruhen, als bis Alles,
was noch unsere Großväter von menschlichem Geschick
und aller Geschichte wußten und glaubten, sich zu dem jetzt
dem Auge vorschwebenden Ziele verhält wie der orbis
antiquis notus
mit dem Fluß Oceanus ringsum zu einer
Seekarte in Mercators Projektion, oder wie die Peutin-
gersche Tafel zu einem strategischen Atlas.

Ganz analog dem Gang der äußern Naturbeob-
achtung macht sich nun aber bei diesem Studium der
innern Natur eine doppelte Richtung geltend. Mit der
eigentlichen geschichtlichen Forschung geht die philoso-
phische Arbeit Hand in Hand; neben und über der
historischen Naturgeschichte, der äußern Formkenntniß,
steht die Physiologie. Man schifft den Strom der Ge-
schichte immer weiter hinauf und in immer mehr Zweige
desselben hinein; man durchsucht die Ufer von der Mün-
dung in die Gegenwart immer weiter rückwärts immer
sorgfältiger; man sammelt Alles, was an organischen
Bildungen in Sprache, Kunst, Religion, Sitte, Staats-
leben noch irgend kenntlich seyn mag. Daneben aber
besteht die Aufgabe, zum ursprünglichen, unveränder-
lichen Substrat, das jeder diese verschiedenen Formen
in allen ihren Wechseln zum Grunde liegt, mit dem
Begriff vorzudringen, mit allen Mitteln geistiger Secir-
und Scheidekunst und mit dem Mikroskop des innern
Auges den feinsten Bau derselben zu verfolgen und wo
möglich die Naturgesetze zu entdecken, nach denen diese
Gebilde aus dem Wesen des Menschen geboren sind
und sich umwandeln.

Wie weit es die Zeit auf diesem Wege gebracht
hat, auf welcher Station einer unendlichen Laufbahn
[Spaltenumbruch] wir heute augelangt sind, das wissen wir mitten in der
Bewegung weder zu sagen noch zu schätzen. Wir fühlen
es nur, dieser rast= und rücksichtslose Trieb, in die
äußere und in die innere Natur zumal immer tiefer
einzudringen, ist der eigentliche Genius des Zeitalters
und beherrscht sein äußeres und sein inneres Geschick.
Die socialen Krämpfe und Fieberschauer, der innere Glau-
benszwiespalt, dem vor dreihundert Jahren so ähnlich und
unähnlich, das ganze tiefe Mißbehagen der Zeit, hat sichtbar
seine nächste Ursache darin, daß sich niemals in der Ge-
schichte rasch gewonnene Erkenntniß in solcher Masse und
Mannigfaltigkeit durch einen Gesellschaftskörper ergossen
hat. Während das materielle Leben im besten Zuge
scheint, mit Hülfe der Wissenschaft sich auf neuen
Grundlagen in einheitlichem Style umzubauen, wird
das geistige im Kampf neuer und alter Begriffe und
Gefühle, Forderungen und Nöthigungen von Wider-
sprüchen ohne Zahl zerrissen. Daß unter diesen Um-
ständen Kunst und Poesie heutzutage gar nicht anders
seyn können, als sie eben sind, das wird die rückwärts
gewendete Prophetie einer noch feineren Geschichtsbe-
trachtung als die unsrige dereinst auf's anschaulichste
darthun. Aber schon uns dünkt es sehr natürlich, daß
eine Zeit, die ein so schweres Hauptamt überkommen
hat, Kunst und Poesie im Grunde nur des Anstands
halber treibt, weil sie zum Schmucke des Lebens nicht
nur wünschenswerth, sondern unentbehrlich sind. Und
wenn auf eine Kunst und Poesie, die man so treibt,
das Tagesgeschäft vielfach abfärbt, so ist dieß wiederum
nicht zu verwundern.

Daß sich mit dem Hauptmetier der Zeit Geschichts-
malerei und Drama übel vertragen, das lehrt jede wie-
derkehrende Kunstausstellung und das deutsche National-
theater jeden Abend. Es ist als ob ein Bann auf diesen
obersten Gattungen läge, und was heute darin hervor-
gebracht wird, macht den Totaleindruck, wie wenn ein
guter Kopf aus Noth oder Laune oder Uebermuth sich
etwas abzwingt, das außer der Sphäre seines Talents
liegt. Jn andern Fächern dagegen ist wenigstens Lebens-
fähigkeit vorhanden: hier kann poetisch geschaffen wer-
den, wenn anders die Poeten dazu da sind. Wo es
sich nicht von tiefen Geisteshintergründen, von Verkör-
perung großer Jdeen handelt, wo vielmehr scharfe, feine
Beobachtung der Natur und des Menschen, und ver-
ständige oder auch nur witzige Anordnung den ganzen
Aufzug für die webende Poesie bilden, da fühlt sich der
Geist der Zeit sogleich zu Hause und die Kunstarbeit
geht ihm oft gar nicht so übel von der Hand. So zeigt
es sich namentlich, daß in Genre= und Landschaftsma-
lerei und in dem, was man den socialen Roman genannt
hat, Pinselstrich und Gedankengang dem allgemeinen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Entdeckungsreisen in dieses zweite Naturreich sind heute
in vollem Gange, und die verschiedenen Zweige des
Wissens leihen einander dazu Mannschaft und Ausrü-
stung. Besonnene Kraft thut auch hier das Beste, wie
immer, aber auch der abenteuernde Muth hat sein Ver-
dienst an den raschesten Erfolgen. Fast Tag für Tag
entdeckt man Durchfahrten durch bisher undurchdring-
liche Gebiete oder erblickt von den Masten festes Land
in zum erstenmal betretenen Meeren; schon manche fa-
belhafte Atlantis ist verschwunden, und wo die alten
Geschichtskartenzeichner auf weite leere Meeresstrecken
Seeungeheuer und in das Jnnere unbekannter Conti-
nente fabelhafte Menschen= und Thierbilder spielend
hingezeichnet, da finden sich jetzt vermessene Archipele
und Gebirgszüge eingetragen. Sieht man auch nicht
ab, ob die eigentliche Weltumseglung gelingen wird und
kann, so meint man doch die Figur der Geisteswelt
bestimmt gefaßt zu haben, und sieht man den Eifer, mit
dem die historische Wissenschaft im weitesten Sinn nach
allen Richtungen ihre Arbeiten vorwärts treibt, so meint
man, das Zeitalter wolle nicht ruhen, als bis Alles,
was noch unsere Großväter von menschlichem Geschick
und aller Geschichte wußten und glaubten, sich zu dem jetzt
dem Auge vorschwebenden Ziele verhält wie der orbis
antiquis notus
mit dem Fluß Oceanus ringsum zu einer
Seekarte in Mercators Projektion, oder wie die Peutin-
gersche Tafel zu einem strategischen Atlas.

Ganz analog dem Gang der äußern Naturbeob-
achtung macht sich nun aber bei diesem Studium der
innern Natur eine doppelte Richtung geltend. Mit der
eigentlichen geschichtlichen Forschung geht die philoso-
phische Arbeit Hand in Hand; neben und über der
historischen Naturgeschichte, der äußern Formkenntniß,
steht die Physiologie. Man schifft den Strom der Ge-
schichte immer weiter hinauf und in immer mehr Zweige
desselben hinein; man durchsucht die Ufer von der Mün-
dung in die Gegenwart immer weiter rückwärts immer
sorgfältiger; man sammelt Alles, was an organischen
Bildungen in Sprache, Kunst, Religion, Sitte, Staats-
leben noch irgend kenntlich seyn mag. Daneben aber
besteht die Aufgabe, zum ursprünglichen, unveränder-
lichen Substrat, das jeder diese verschiedenen Formen
in allen ihren Wechseln zum Grunde liegt, mit dem
Begriff vorzudringen, mit allen Mitteln geistiger Secir-
und Scheidekunst und mit dem Mikroskop des innern
Auges den feinsten Bau derselben zu verfolgen und wo
möglich die Naturgesetze zu entdecken, nach denen diese
Gebilde aus dem Wesen des Menschen geboren sind
und sich umwandeln.

Wie weit es die Zeit auf diesem Wege gebracht
hat, auf welcher Station einer unendlichen Laufbahn
[Spaltenumbruch] wir heute augelangt sind, das wissen wir mitten in der
Bewegung weder zu sagen noch zu schätzen. Wir fühlen
es nur, dieser rast= und rücksichtslose Trieb, in die
äußere und in die innere Natur zumal immer tiefer
einzudringen, ist der eigentliche Genius des Zeitalters
und beherrscht sein äußeres und sein inneres Geschick.
Die socialen Krämpfe und Fieberschauer, der innere Glau-
benszwiespalt, dem vor dreihundert Jahren so ähnlich und
unähnlich, das ganze tiefe Mißbehagen der Zeit, hat sichtbar
seine nächste Ursache darin, daß sich niemals in der Ge-
schichte rasch gewonnene Erkenntniß in solcher Masse und
Mannigfaltigkeit durch einen Gesellschaftskörper ergossen
hat. Während das materielle Leben im besten Zuge
scheint, mit Hülfe der Wissenschaft sich auf neuen
Grundlagen in einheitlichem Style umzubauen, wird
das geistige im Kampf neuer und alter Begriffe und
Gefühle, Forderungen und Nöthigungen von Wider-
sprüchen ohne Zahl zerrissen. Daß unter diesen Um-
ständen Kunst und Poesie heutzutage gar nicht anders
seyn können, als sie eben sind, das wird die rückwärts
gewendete Prophetie einer noch feineren Geschichtsbe-
trachtung als die unsrige dereinst auf's anschaulichste
darthun. Aber schon uns dünkt es sehr natürlich, daß
eine Zeit, die ein so schweres Hauptamt überkommen
hat, Kunst und Poesie im Grunde nur des Anstands
halber treibt, weil sie zum Schmucke des Lebens nicht
nur wünschenswerth, sondern unentbehrlich sind. Und
wenn auf eine Kunst und Poesie, die man so treibt,
das Tagesgeschäft vielfach abfärbt, so ist dieß wiederum
nicht zu verwundern.

Daß sich mit dem Hauptmetier der Zeit Geschichts-
malerei und Drama übel vertragen, das lehrt jede wie-
derkehrende Kunstausstellung und das deutsche National-
theater jeden Abend. Es ist als ob ein Bann auf diesen
obersten Gattungen läge, und was heute darin hervor-
gebracht wird, macht den Totaleindruck, wie wenn ein
guter Kopf aus Noth oder Laune oder Uebermuth sich
etwas abzwingt, das außer der Sphäre seines Talents
liegt. Jn andern Fächern dagegen ist wenigstens Lebens-
fähigkeit vorhanden: hier kann poetisch geschaffen wer-
den, wenn anders die Poeten dazu da sind. Wo es
sich nicht von tiefen Geisteshintergründen, von Verkör-
perung großer Jdeen handelt, wo vielmehr scharfe, feine
Beobachtung der Natur und des Menschen, und ver-
ständige oder auch nur witzige Anordnung den ganzen
Aufzug für die webende Poesie bilden, da fühlt sich der
Geist der Zeit sogleich zu Hause und die Kunstarbeit
geht ihm oft gar nicht so übel von der Hand. So zeigt
es sich namentlich, daß in Genre= und Landschaftsma-
lerei und in dem, was man den socialen Roman genannt
hat, Pinselstrich und Gedankengang dem allgemeinen
[Ende Spaltensatz]

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Man schifft den Strom der Ge- schichte immer weiter hinauf und in immer mehr Zweige desselben hinein; man durchsucht die Ufer von der Mün- dung in die Gegenwart immer weiter rückwärts immer sorgfältiger; man sammelt Alles, was an organischen Bildungen in Sprache, Kunst, Religion, Sitte, Staats- leben noch irgend kenntlich seyn mag. Daneben aber besteht die Aufgabe, zum ursprünglichen, unveränder- lichen Substrat, das jeder diese verschiedenen Formen in allen ihren Wechseln zum Grunde liegt, mit dem Begriff vorzudringen, mit allen Mitteln geistiger Secir- und Scheidekunst und mit dem Mikroskop des innern Auges den feinsten Bau derselben zu verfolgen und wo möglich die Naturgesetze zu entdecken, nach denen diese Gebilde aus dem Wesen des Menschen geboren sind und sich umwandeln. Wie weit es die Zeit auf diesem Wege gebracht hat, auf welcher Station einer unendlichen Laufbahn wir heute augelangt sind, das wissen wir mitten in der Bewegung weder zu sagen noch zu schätzen. Wir fühlen es nur, dieser rast= und rücksichtslose Trieb, in die äußere und in die innere Natur zumal immer tiefer einzudringen, ist der eigentliche Genius des Zeitalters und beherrscht sein äußeres und sein inneres Geschick. Die socialen Krämpfe und Fieberschauer, der innere Glau- benszwiespalt, dem vor dreihundert Jahren so ähnlich und unähnlich, das ganze tiefe Mißbehagen der Zeit, hat sichtbar seine nächste Ursache darin, daß sich niemals in der Ge- schichte rasch gewonnene Erkenntniß in solcher Masse und Mannigfaltigkeit durch einen Gesellschaftskörper ergossen hat. Während das materielle Leben im besten Zuge scheint, mit Hülfe der Wissenschaft sich auf neuen Grundlagen in einheitlichem Style umzubauen, wird das geistige im Kampf neuer und alter Begriffe und Gefühle, Forderungen und Nöthigungen von Wider- sprüchen ohne Zahl zerrissen. Daß unter diesen Um- ständen Kunst und Poesie heutzutage gar nicht anders seyn können, als sie eben sind, das wird die rückwärts gewendete Prophetie einer noch feineren Geschichtsbe- trachtung als die unsrige dereinst auf's anschaulichste darthun. Aber schon uns dünkt es sehr natürlich, daß eine Zeit, die ein so schweres Hauptamt überkommen hat, Kunst und Poesie im Grunde nur des Anstands halber treibt, weil sie zum Schmucke des Lebens nicht nur wünschenswerth, sondern unentbehrlich sind. Und wenn auf eine Kunst und Poesie, die man so treibt, das Tagesgeschäft vielfach abfärbt, so ist dieß wiederum nicht zu verwundern. Daß sich mit dem Hauptmetier der Zeit Geschichts- malerei und Drama übel vertragen, das lehrt jede wie- derkehrende Kunstausstellung und das deutsche National- theater jeden Abend. Es ist als ob ein Bann auf diesen obersten Gattungen läge, und was heute darin hervor- gebracht wird, macht den Totaleindruck, wie wenn ein guter Kopf aus Noth oder Laune oder Uebermuth sich etwas abzwingt, das außer der Sphäre seines Talents liegt. Jn andern Fächern dagegen ist wenigstens Lebens- fähigkeit vorhanden: hier kann poetisch geschaffen wer- den, wenn anders die Poeten dazu da sind. Wo es sich nicht von tiefen Geisteshintergründen, von Verkör- perung großer Jdeen handelt, wo vielmehr scharfe, feine Beobachtung der Natur und des Menschen, und ver- ständige oder auch nur witzige Anordnung den ganzen Aufzug für die webende Poesie bilden, da fühlt sich der Geist der Zeit sogleich zu Hause und die Kunstarbeit geht ihm oft gar nicht so übel von der Hand. So zeigt es sich namentlich, daß in Genre= und Landschaftsma- lerei und in dem, was man den socialen Roman genannt hat, Pinselstrich und Gedankengang dem allgemeinen

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/3>, abgerufen am 14.08.2024.