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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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Korrespondenz=Nachrichten.
London, November.

Theater.

[Beginn Spaltensatz]

Wie man es im Princeß'stheater versteht, den Shak-
spere ( ich muß mich gewöhnen, den Namen nach Colliers
Autorität zu schreiben ) auf glänzende Weise, mit Erlaub-
niß zu sagen, ein bischen geistlos zu machen! Das " Star-
stück " desselben war längere Zeit: " the Winter's Tale."
Allein es ist so eigentlich nicht das Wintermährchen von
Shakspere, sondern das Wintermährchen von H. Scharf,
Esquire, vom brittischen Museum, der in Verbindung mit
C. Kean, dem Direktor des Theaters, und ein paar ar-
chäologischen Freunden die meisterhafte Anordnung des
Stücks zu Wege gebracht hat. Und dieses archäologische
und scenisch dekorative Element, verbunden mit antiker
Musik und antikem Tanze, ist denn auch das eigentlich
bedeutende Moment der ganzen Aufführung. Jnsofern
lohnte sich die Darstellung wohl eben so gut, wie die von
Byrons "Sardanapal," oder die von Shaksperes Hein-
rich VIII. eines Besuchs. Jndessen doch nicht so ganz
wie das zuletzt genannte Stück. Die Darstellung Hein-
richs VIII. ( vom verflossenen Sommer bis spät in den
Herbst hinein fortgesetzt ) war eine der besten Shakspere-
Aufführungen, welche wir in London mit angesehen. Das
dekorative und scenische Element trug darin nur die Poesie,
allerdings in glänzender Weise. Das Stück bewegt sich
zudem auf dem Boden der englischen Geschichte, und
wo es gilt, Charaktere aus dem Kreise seines National-
lebens, aus dem es ihm so schwer wird herauszutreten,
zu reproduciren, weiß der Engländer immer ganz gut
darzustellen. Das Stück packte auch das Publikum ge-
waltig; die Ausstattung war so recht eines " Königsdra-
mas " würdig; das Ensemble des Spiels ( Mrs. C. Kean
ließ als Königin Katharina ihre Kunst noch einmal in all
ihrer Vollendung aufleuchten ) ließ nichts zu wünschen
übrig.

Bei dem Wintermährchen wird die Darstellung schon
darum ungleich mißlicher, weil Engländern darin die Auf-
gabe zufällt, Hellenen zu spielen. Jch spreche indessen
nur von der Unfähigkeit des männlichen Geschlechts in
England, als griechische Männer oder Jünglinge aufzu-
treten. Englische Mädchen dagegen eignen sich ganz vor-
trefflich dazu, junge hellenische Krieger oder Helden dar-
zustellen. C. Kean als Leontes, König von Sicilien --
nein, das geht ganz und gar nicht an! Eben so wenig
kann Mrs. Kean als Hermione befriedigen. Man fühlt
überhaupt bei der ganzen Aufführung ein schmerzlich dop-
peltes Jnteresse: einmal das Jnteresse, ein Shakspere-
sches Stück so sorgfältig in Scene gesetzt zu sehen, und
auf der andern Seite den Schmerz, allen feineren Schmelz
von den Flügeldecken der Muse weggewischt zu finden.

[Spaltenumbruch]

Ein wahrer Trost ist bei dieser Aufführung das
Ballet. Es fesselt uns gleich im ersten Akt in der antiken
Maske des pyrrhischen Tanzes. Die jungen, reizenden
englischen Mädchen nehmen sich als griechische Heldenjüng-
linge noch besser aus, als Madame J. Wagner, wenn
sie in Bellinis Montecchi und Capuletti aus dem krie-
gerischen Romeo einen bleichen preußischen Garderitter
in goldschimmernder Wehr macht. Dieser pyrrhische Tanz
ist in der That ein Musterstück praktisch gewordener Al-
terthumskunde. Die hochnasigen Jünger unserer sylben-
stechenden philologischen Seminare daheim sollte man in
den Ferien zur Aufführung des Wintermährchens nach
Professor Scharf oder in das Pompejanische Haus nach
Sydenham senden. Das sind praktische Commentare, Bil-
derfibeln zum Studium der Classiker. Freilich, vom Ge-
sichtspunkte der höheren dramatischen Kritik aufgefaßt,
sind es denn auch nur Bilderfibeln, und man muß so
naiv und so blasirt kindisch gelaunt seyn, wie es hier zu-
weilen auch das Logenpublikum der vornehmsten Theater
seyn soll, um eine solche Aufführung erträglich zu finden.
Man genießt bei diesem Glanze und dieser archäologischen
Treue das Shaksperesche Lustspiel nicht mehr als Ganzes,
das Jnteresse zersplittert sich völlig. Man kann sich recht
wohl Aufführungen Shaksperescher Stücke von gleicher
historischer Treue, aber von weit einer größeren Weihe der
Kunst umflossen vorstellen. Anstatt des sagen= und fabel-
haften Böhmens, welches im Stücke als zu Sicilien in
befreundeten Beziehungen stehend eingeführt wird, hat
man bei der Aufführung Bithynien gewählt. Shak-
spere hat bekanntlich, nach den unklaren geographischen
Begriffen seiner Zeit, Böhmen zu einem Lande mit See-
häfen gemacht. Sein poetisches Zeitalter glaubte noch an
"Zauberinseln" und der messende Verstand hatte auch in
Absicht auf die Länderkunde dem freien Spiele der dich-
terischen Phantasie damals noch keine allzu engen Grenzen
gezogen. Tieck sagt in den Anmerkungen zu der Ueber-
setzung des Stücks: "Man wollte eine dunkle, seltsame,
nicht oft genannte Gegend, und wählte dazu Böhmen."
Auch die Schäferscenen, welche der Dichter in jene Loka-
lität verlegt, hat man ganz in ein antikes Gewand ge-
kleidet. Aus dem Feste der Schafschur ist ein wildes, ächt
nach dem Antiken duftendes Bacchusfest der Hirten ge-
worden. Auch der heilige Bock, das symbolische Thier
des Dramas, und die Masken fehlen nicht. Mein ( nicht
classisch gebildeter ) Begleiter war naiv genug, die letzteren
für die Köpfe von Hingerichteten zu nehmen. Jch überge he
andere Scenen, in welchen ebenfalls alles in die archäo-
logische Pointe ausläuft, so die Aburtheilung der König in,
[Ende Spaltensatz]


Korrespondenz=Nachrichten.
London, November.

Theater.

[Beginn Spaltensatz]

Wie man es im Princeß'stheater versteht, den Shak-
spere ( ich muß mich gewöhnen, den Namen nach Colliers
Autorität zu schreiben ) auf glänzende Weise, mit Erlaub-
niß zu sagen, ein bischen geistlos zu machen! Das „ Star-
stück “ desselben war längere Zeit: » the Winter's Tale
Allein es ist so eigentlich nicht das Wintermährchen von
Shakspere, sondern das Wintermährchen von H. Scharf,
Esquire, vom brittischen Museum, der in Verbindung mit
C. Kean, dem Direktor des Theaters, und ein paar ar-
chäologischen Freunden die meisterhafte Anordnung des
Stücks zu Wege gebracht hat. Und dieses archäologische
und scenisch dekorative Element, verbunden mit antiker
Musik und antikem Tanze, ist denn auch das eigentlich
bedeutende Moment der ganzen Aufführung. Jnsofern
lohnte sich die Darstellung wohl eben so gut, wie die von
Byrons „Sardanapal,“ oder die von Shaksperes Hein-
rich VIII. eines Besuchs. Jndessen doch nicht so ganz
wie das zuletzt genannte Stück. Die Darstellung Hein-
richs VIII. ( vom verflossenen Sommer bis spät in den
Herbst hinein fortgesetzt ) war eine der besten Shakspere-
Aufführungen, welche wir in London mit angesehen. Das
dekorative und scenische Element trug darin nur die Poesie,
allerdings in glänzender Weise. Das Stück bewegt sich
zudem auf dem Boden der englischen Geschichte, und
wo es gilt, Charaktere aus dem Kreise seines National-
lebens, aus dem es ihm so schwer wird herauszutreten,
zu reproduciren, weiß der Engländer immer ganz gut
darzustellen. Das Stück packte auch das Publikum ge-
waltig; die Ausstattung war so recht eines „ Königsdra-
mas “ würdig; das Ensemble des Spiels ( Mrs. C. Kean
ließ als Königin Katharina ihre Kunst noch einmal in all
ihrer Vollendung aufleuchten ) ließ nichts zu wünschen
übrig.

Bei dem Wintermährchen wird die Darstellung schon
darum ungleich mißlicher, weil Engländern darin die Auf-
gabe zufällt, Hellenen zu spielen. Jch spreche indessen
nur von der Unfähigkeit des männlichen Geschlechts in
England, als griechische Männer oder Jünglinge aufzu-
treten. Englische Mädchen dagegen eignen sich ganz vor-
trefflich dazu, junge hellenische Krieger oder Helden dar-
zustellen. C. Kean als Leontes, König von Sicilien —
nein, das geht ganz und gar nicht an! Eben so wenig
kann Mrs. Kean als Hermione befriedigen. Man fühlt
überhaupt bei der ganzen Aufführung ein schmerzlich dop-
peltes Jnteresse: einmal das Jnteresse, ein Shakspere-
sches Stück so sorgfältig in Scene gesetzt zu sehen, und
auf der andern Seite den Schmerz, allen feineren Schmelz
von den Flügeldecken der Muse weggewischt zu finden.

[Spaltenumbruch]

Ein wahrer Trost ist bei dieser Aufführung das
Ballet. Es fesselt uns gleich im ersten Akt in der antiken
Maske des pyrrhischen Tanzes. Die jungen, reizenden
englischen Mädchen nehmen sich als griechische Heldenjüng-
linge noch besser aus, als Madame J. Wagner, wenn
sie in Bellinis Montecchi und Capuletti aus dem krie-
gerischen Romeo einen bleichen preußischen Garderitter
in goldschimmernder Wehr macht. Dieser pyrrhische Tanz
ist in der That ein Musterstück praktisch gewordener Al-
terthumskunde. Die hochnasigen Jünger unserer sylben-
stechenden philologischen Seminare daheim sollte man in
den Ferien zur Aufführung des Wintermährchens nach
Professor Scharf oder in das Pompejanische Haus nach
Sydenham senden. Das sind praktische Commentare, Bil-
derfibeln zum Studium der Classiker. Freilich, vom Ge-
sichtspunkte der höheren dramatischen Kritik aufgefaßt,
sind es denn auch nur Bilderfibeln, und man muß so
naiv und so blasirt kindisch gelaunt seyn, wie es hier zu-
weilen auch das Logenpublikum der vornehmsten Theater
seyn soll, um eine solche Aufführung erträglich zu finden.
Man genießt bei diesem Glanze und dieser archäologischen
Treue das Shaksperesche Lustspiel nicht mehr als Ganzes,
das Jnteresse zersplittert sich völlig. Man kann sich recht
wohl Aufführungen Shaksperescher Stücke von gleicher
historischer Treue, aber von weit einer größeren Weihe der
Kunst umflossen vorstellen. Anstatt des sagen= und fabel-
haften Böhmens, welches im Stücke als zu Sicilien in
befreundeten Beziehungen stehend eingeführt wird, hat
man bei der Aufführung Bithynien gewählt. Shak-
spere hat bekanntlich, nach den unklaren geographischen
Begriffen seiner Zeit, Böhmen zu einem Lande mit See-
häfen gemacht. Sein poetisches Zeitalter glaubte noch an
„Zauberinseln“ und der messende Verstand hatte auch in
Absicht auf die Länderkunde dem freien Spiele der dich-
terischen Phantasie damals noch keine allzu engen Grenzen
gezogen. Tieck sagt in den Anmerkungen zu der Ueber-
setzung des Stücks: „Man wollte eine dunkle, seltsame,
nicht oft genannte Gegend, und wählte dazu Böhmen.“
Auch die Schäferscenen, welche der Dichter in jene Loka-
lität verlegt, hat man ganz in ein antikes Gewand ge-
kleidet. Aus dem Feste der Schafschur ist ein wildes, ächt
nach dem Antiken duftendes Bacchusfest der Hirten ge-
worden. Auch der heilige Bock, das symbolische Thier
des Dramas, und die Masken fehlen nicht. Mein ( nicht
classisch gebildeter ) Begleiter war naiv genug, die letzteren
für die Köpfe von Hingerichteten zu nehmen. Jch überge he
andere Scenen, in welchen ebenfalls alles in die archäo-
logische Pointe ausläuft, so die Aburtheilung der König in,
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[1147/0019] 1147 Korrespondenz=Nachrichten. London, November. Theater. Wie man es im Princeß'stheater versteht, den Shak- spere ( ich muß mich gewöhnen, den Namen nach Colliers Autorität zu schreiben ) auf glänzende Weise, mit Erlaub- niß zu sagen, ein bischen geistlos zu machen! Das „ Star- stück “ desselben war längere Zeit: » the Winter's Tale.« Allein es ist so eigentlich nicht das Wintermährchen von Shakspere, sondern das Wintermährchen von H. Scharf, Esquire, vom brittischen Museum, der in Verbindung mit C. Kean, dem Direktor des Theaters, und ein paar ar- chäologischen Freunden die meisterhafte Anordnung des Stücks zu Wege gebracht hat. Und dieses archäologische und scenisch dekorative Element, verbunden mit antiker Musik und antikem Tanze, ist denn auch das eigentlich bedeutende Moment der ganzen Aufführung. Jnsofern lohnte sich die Darstellung wohl eben so gut, wie die von Byrons „Sardanapal,“ oder die von Shaksperes Hein- rich VIII. eines Besuchs. 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Jch spreche indessen nur von der Unfähigkeit des männlichen Geschlechts in England, als griechische Männer oder Jünglinge aufzu- treten. Englische Mädchen dagegen eignen sich ganz vor- trefflich dazu, junge hellenische Krieger oder Helden dar- zustellen. C. Kean als Leontes, König von Sicilien — nein, das geht ganz und gar nicht an! Eben so wenig kann Mrs. Kean als Hermione befriedigen. Man fühlt überhaupt bei der ganzen Aufführung ein schmerzlich dop- peltes Jnteresse: einmal das Jnteresse, ein Shakspere- sches Stück so sorgfältig in Scene gesetzt zu sehen, und auf der andern Seite den Schmerz, allen feineren Schmelz von den Flügeldecken der Muse weggewischt zu finden. Ein wahrer Trost ist bei dieser Aufführung das Ballet. Es fesselt uns gleich im ersten Akt in der antiken Maske des pyrrhischen Tanzes. Die jungen, reizenden englischen Mädchen nehmen sich als griechische Heldenjüng- linge noch besser aus, als Madame J. Wagner, wenn sie in Bellinis Montecchi und Capuletti aus dem krie- gerischen Romeo einen bleichen preußischen Garderitter in goldschimmernder Wehr macht. Dieser pyrrhische Tanz ist in der That ein Musterstück praktisch gewordener Al- terthumskunde. Die hochnasigen Jünger unserer sylben- stechenden philologischen Seminare daheim sollte man in den Ferien zur Aufführung des Wintermährchens nach Professor Scharf oder in das Pompejanische Haus nach Sydenham senden. Das sind praktische Commentare, Bil- derfibeln zum Studium der Classiker. Freilich, vom Ge- sichtspunkte der höheren dramatischen Kritik aufgefaßt, sind es denn auch nur Bilderfibeln, und man muß so naiv und so blasirt kindisch gelaunt seyn, wie es hier zu- weilen auch das Logenpublikum der vornehmsten Theater seyn soll, um eine solche Aufführung erträglich zu finden. Man genießt bei diesem Glanze und dieser archäologischen Treue das Shaksperesche Lustspiel nicht mehr als Ganzes, das Jnteresse zersplittert sich völlig. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/19>, abgerufen am 14.08.2024.