Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] als Zeugen der geschilderten Vorgänge die ganze Erzäh-
lung in den Mund legt: "Jch behielt im Grunde meines
Herzens das Gefühl, als sey das schöne Mädchen kein
Mensch, sondern ein Elfe, eine Sirene oder sonst etwas
heimliches Unheimliches," ist der dämonische Zug, den wir
mehr oder weniger stark fast in sämmtlichen Dichtungen
des vorliegenden Bandes weiblichem Liebreiz beigemischt
finden, der übrigens bei der "Sängerin" durch das am
Ende tödtlich erwachende Schuldbewußtseyn wehmüthig ge-
mildert wird, treffend ausgesprochen. Dieser Familienzug
der Herzenshalbheit, welchen Reichthum der interessante-
sten und dabei durchaus poetisch verarbeiteten psychologi-
schen Beobachtungen auch der Dichter an ihm entwickelt
hat, läßt in der That zu oft, als daß es nicht dem To-
taleindruck so vieler glänzenden Eigenschaften doch zuletzt
einigen Abbruch thun sollte, einen Rest unbefriedigter
Ansprüche in uns zurück. Vermissen wir ungern das
volle Austönen der angeschlagenen Gefühlssaiten, das
muthig ehrliche Dransetzen des ganzen innern Menschen,
so können wir nicht immer die Willkür des Dichters darum
verklagen; aber es gibt Fälle, wo dieses Nichterschöpfen,
obgleich es in der Natur des Stoffs zu liegen scheint,
allerdings das Versäumniß einer künstlerischen Pflicht in
sich schließt. Wie ärgerlich berührt uns diese seltsame
Manier, die Streitkräfte der Jugend und Schönheit gleich-
sam aus dem kaum begonnenen Gefechte plötzlich zurück-
zuziehen, im "Cajetan," der, jenes Goethe'sche:

" Doch wem nichts daran gelegen
Scheinet, ob er reizt und rührt,
Der beleidigt, der verführt,"

trefflich illustrirend, das Hervorblitzen der Leidenschaft
aus schwüler, träumerischer Stimmung so wirksam ein-
geleitet hatte! Wo wir die Flamme eines prächtig ver-
wegen über alle Schranken hinstürmenden Gefühls zu
erblicken geglaubt -- auch wieder nur ein Spiel launen-
hafter Anwandlungen, das im entscheidenden Moment
seinen Gegenstand nicht zu behaupten wagt? Wenn wir
den jäh abbrechenden Schluß, womit der neu gereizten
Spannung des Lesers nun gerade ein Schnippchen ge-
schlagen wird, dem Dichter als eine verletzende Unart
vorwerfen, sind wir des von Ludwig Tieck der Novelle
zugesprochenen Rechtes, merkwürdige, vom Normalen ab-
weichende Begebenheiten in ihrer Vereinzelung zu behan-
deln, gewiß nicht uneingedenk. Für dieses plötzliche capri-
ciöse Fallenlassen der Sache, das uns auch die Lust an
Gottfried Kellers höchst bedeutenden Leistungen auf dem-
selben Gebiete mitunter verbittert, gewährt keine Theorie
Entschuldigung. Den besten Arbeiten wird dadurch ein
dilettantisches Gepräge aufgedrückt, von dem Talente wie
Herman Grimm und Keller ihre Erzeugnisse wahrlich rein
erhalten könnten. -- Die folgende Novelle, "das Kind,"
liefert den Beweis, welches Grades von sauberer, jedes
angeregte Verlangen der Seele erfüllender Abrundung
die Compositionsgabe des Dichters fähig ist. Der Cha-
[Spaltenumbruch] rakter des "Kindes," in stetigem Gange zu entschlossener
Selbstständigkeit und Klarheit des Empfindens heraus-
wachsend, treibt die Dinge zu einem nach allen Seiten
befriedigenden Ende, und so auf's Angenehmste mit der
heitern Vorstellung beschäftigt, daß jeder an seinen Platz
und zu seinem Rechte gelangt sey, zweifeln wir nicht,
diesem glücklichen Lebensbilde vor den übrigen theils pi-
kanter entworfenen, theils im Einzelnen reicher ausge-
statteten Dichtungen doch den Preis zuzuerkennen. --
"Das Abenteuer" und "der Landschaftsmaler" erneuern, in
sehr verschiedener Weise freilich, den oben bei Gelegen-
heit der "Sängerin" bezeichneten Eindruck, das erstere
mit bewußter künstlerischer Absicht und äußerster Schärfe
einer Erscheinung auf den Grund gehend, deren leise
Schatten im letzteren, an der völlig anders gemeinten Ge-
stalt der Lili wider Willen des Urhebers noch verräthe-
risch sichtbar, uns den geheimen Zusammenhang seiner
geistigen Eigenthümlichkeit mit diesen unter einander wahl-
verwandten Naturen wundersam bestätigen. -- Nirgends
haben wir bisher das Phänomen der räthselhaften See-
lenspaltung, welche uns bei den meisten durch das Talent
dramatischer Darstellung hervorragenden Frauen entgegen
tritt, so klar angeschaut und trotz der unerbittlichsten
Wahrheit, die ein empfindliches Auge wohl leicht zu grell
findet, so ganz und gar poetisch, als dieß in dem " Aben-
teuer " der Fall ist, erledigt gefunden. Lebhaft wird uns
hier Lenaus briefliches Wort über eine berühmte Bühnen-
künstlerin, die seinem Herzen eine Zeitlang sehr nahe
stand: "Eben weil sie eine große Schauspielerin war, und
je mehr ich es erkannte, um so furchtsamer wurde ich vor
einer Verbindung mit ihr. Jch wußte nicht mehr,
was ächt, was falsch an ihr sey,
" in's Gedächtniß
gerufen; es ist am besten geeignet, die etwaigen Einwände
zum Schweigen zu bringen, welche gegen die innere
Glaubwürdigkeit dieses kühnen Wurfes verlauten möch-
ten. Will man nach der "Versöhnung" fragen, deren der
Nachklang so hart ausgesprochener Enttäuschungen dann
doch ermangle, so sind wir der Ansicht, daß durch die
imponirende Freiheit des rückhaltlosen Selbstbekenntnisses,
womit Julie von dem verläugneten Freunde Abschied
nimmt, durch die Energie des absoluten Leichtsinns, die
unerschüttert den Blick in die Untiefen des eigenen Da-
seyns auszuhalten vermag, alle Dissonanz in eine der ge-
meinen moralischen Satisfaction zwar entbehrende, ästhe-
tisch dagegen völlig zufrieden gestellte Stimmung aufge-
löst wird. Nur hätte der äußerlich etwas zu starke Bruch
zwischen den beiden Hälften der Geschichte sich wohl ver-
meiden lassen, indem bei Zeiten vom Dichter besser in
das Jnnere der liebenswürdigen Unholdin wäre hinein-
geleuchtet worden. Dem angenehmen Erstaunen, uns dessen
ungeachtet von dem einmüthigen Zusammenspiel scheinbar
sich schlechterdings gegenseitig ausschließender Eigenschaften
gründlich überzeugt zu fühlen, entspricht das Befremden,
im Verhältniß Lili's zu dem "Landschaftsmaler" durch kei-
nen Hauch von Jronie das Bewußtseyn angedeutet zu
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] als Zeugen der geschilderten Vorgänge die ganze Erzäh-
lung in den Mund legt: „Jch behielt im Grunde meines
Herzens das Gefühl, als sey das schöne Mädchen kein
Mensch, sondern ein Elfe, eine Sirene oder sonst etwas
heimliches Unheimliches,“ ist der dämonische Zug, den wir
mehr oder weniger stark fast in sämmtlichen Dichtungen
des vorliegenden Bandes weiblichem Liebreiz beigemischt
finden, der übrigens bei der „Sängerin“ durch das am
Ende tödtlich erwachende Schuldbewußtseyn wehmüthig ge-
mildert wird, treffend ausgesprochen. Dieser Familienzug
der Herzenshalbheit, welchen Reichthum der interessante-
sten und dabei durchaus poetisch verarbeiteten psychologi-
schen Beobachtungen auch der Dichter an ihm entwickelt
hat, läßt in der That zu oft, als daß es nicht dem To-
taleindruck so vieler glänzenden Eigenschaften doch zuletzt
einigen Abbruch thun sollte, einen Rest unbefriedigter
Ansprüche in uns zurück. Vermissen wir ungern das
volle Austönen der angeschlagenen Gefühlssaiten, das
muthig ehrliche Dransetzen des ganzen innern Menschen,
so können wir nicht immer die Willkür des Dichters darum
verklagen; aber es gibt Fälle, wo dieses Nichterschöpfen,
obgleich es in der Natur des Stoffs zu liegen scheint,
allerdings das Versäumniß einer künstlerischen Pflicht in
sich schließt. Wie ärgerlich berührt uns diese seltsame
Manier, die Streitkräfte der Jugend und Schönheit gleich-
sam aus dem kaum begonnenen Gefechte plötzlich zurück-
zuziehen, im „Cajetan,“ der, jenes Goethe'sche:

„ Doch wem nichts daran gelegen
Scheinet, ob er reizt und rührt,
Der beleidigt, der verführt,“

trefflich illustrirend, das Hervorblitzen der Leidenschaft
aus schwüler, träumerischer Stimmung so wirksam ein-
geleitet hatte! Wo wir die Flamme eines prächtig ver-
wegen über alle Schranken hinstürmenden Gefühls zu
erblicken geglaubt — auch wieder nur ein Spiel launen-
hafter Anwandlungen, das im entscheidenden Moment
seinen Gegenstand nicht zu behaupten wagt? Wenn wir
den jäh abbrechenden Schluß, womit der neu gereizten
Spannung des Lesers nun gerade ein Schnippchen ge-
schlagen wird, dem Dichter als eine verletzende Unart
vorwerfen, sind wir des von Ludwig Tieck der Novelle
zugesprochenen Rechtes, merkwürdige, vom Normalen ab-
weichende Begebenheiten in ihrer Vereinzelung zu behan-
deln, gewiß nicht uneingedenk. Für dieses plötzliche capri-
ciöse Fallenlassen der Sache, das uns auch die Lust an
Gottfried Kellers höchst bedeutenden Leistungen auf dem-
selben Gebiete mitunter verbittert, gewährt keine Theorie
Entschuldigung. Den besten Arbeiten wird dadurch ein
dilettantisches Gepräge aufgedrückt, von dem Talente wie
Herman Grimm und Keller ihre Erzeugnisse wahrlich rein
erhalten könnten. — Die folgende Novelle, „das Kind,“
liefert den Beweis, welches Grades von sauberer, jedes
angeregte Verlangen der Seele erfüllender Abrundung
die Compositionsgabe des Dichters fähig ist. Der Cha-
[Spaltenumbruch] rakter des „Kindes,“ in stetigem Gange zu entschlossener
Selbstständigkeit und Klarheit des Empfindens heraus-
wachsend, treibt die Dinge zu einem nach allen Seiten
befriedigenden Ende, und so auf's Angenehmste mit der
heitern Vorstellung beschäftigt, daß jeder an seinen Platz
und zu seinem Rechte gelangt sey, zweifeln wir nicht,
diesem glücklichen Lebensbilde vor den übrigen theils pi-
kanter entworfenen, theils im Einzelnen reicher ausge-
statteten Dichtungen doch den Preis zuzuerkennen. —
„Das Abenteuer“ und „der Landschaftsmaler“ erneuern, in
sehr verschiedener Weise freilich, den oben bei Gelegen-
heit der „Sängerin“ bezeichneten Eindruck, das erstere
mit bewußter künstlerischer Absicht und äußerster Schärfe
einer Erscheinung auf den Grund gehend, deren leise
Schatten im letzteren, an der völlig anders gemeinten Ge-
stalt der Lili wider Willen des Urhebers noch verräthe-
risch sichtbar, uns den geheimen Zusammenhang seiner
geistigen Eigenthümlichkeit mit diesen unter einander wahl-
verwandten Naturen wundersam bestätigen. — Nirgends
haben wir bisher das Phänomen der räthselhaften See-
lenspaltung, welche uns bei den meisten durch das Talent
dramatischer Darstellung hervorragenden Frauen entgegen
tritt, so klar angeschaut und trotz der unerbittlichsten
Wahrheit, die ein empfindliches Auge wohl leicht zu grell
findet, so ganz und gar poetisch, als dieß in dem „ Aben-
teuer “ der Fall ist, erledigt gefunden. Lebhaft wird uns
hier Lenaus briefliches Wort über eine berühmte Bühnen-
künstlerin, die seinem Herzen eine Zeitlang sehr nahe
stand: „Eben weil sie eine große Schauspielerin war, und
je mehr ich es erkannte, um so furchtsamer wurde ich vor
einer Verbindung mit ihr. Jch wußte nicht mehr,
was ächt, was falsch an ihr sey,
“ in's Gedächtniß
gerufen; es ist am besten geeignet, die etwaigen Einwände
zum Schweigen zu bringen, welche gegen die innere
Glaubwürdigkeit dieses kühnen Wurfes verlauten möch-
ten. Will man nach der „Versöhnung“ fragen, deren der
Nachklang so hart ausgesprochener Enttäuschungen dann
doch ermangle, so sind wir der Ansicht, daß durch die
imponirende Freiheit des rückhaltlosen Selbstbekenntnisses,
womit Julie von dem verläugneten Freunde Abschied
nimmt, durch die Energie des absoluten Leichtsinns, die
unerschüttert den Blick in die Untiefen des eigenen Da-
seyns auszuhalten vermag, alle Dissonanz in eine der ge-
meinen moralischen Satisfaction zwar entbehrende, ästhe-
tisch dagegen völlig zufrieden gestellte Stimmung aufge-
löst wird. Nur hätte der äußerlich etwas zu starke Bruch
zwischen den beiden Hälften der Geschichte sich wohl ver-
meiden lassen, indem bei Zeiten vom Dichter besser in
das Jnnere der liebenswürdigen Unholdin wäre hinein-
geleuchtet worden. Dem angenehmen Erstaunen, uns dessen
ungeachtet von dem einmüthigen Zusammenspiel scheinbar
sich schlechterdings gegenseitig ausschließender Eigenschaften
gründlich überzeugt zu fühlen, entspricht das Befremden,
im Verhältniß Lili's zu dem „Landschaftsmaler“ durch kei-
nen Hauch von Jronie das Bewußtseyn angedeutet zu
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jCulturalNews" n="1">
        <p><pb facs="#f0021" n="1101"/><fw type="pageNum" place="top">1101</fw><cb type="start"/>
als Zeugen der geschilderten Vorgänge die ganze Erzäh-<lb/>
lung in den Mund legt: &#x201E;Jch behielt im Grunde meines<lb/>
Herzens das Gefühl, als sey das schöne Mädchen kein<lb/>
Mensch, sondern ein Elfe, eine Sirene oder sonst etwas<lb/>
heimliches Unheimliches,&#x201C; ist der dämonische Zug, den wir<lb/>
mehr oder weniger stark fast in sämmtlichen Dichtungen<lb/>
des vorliegenden Bandes weiblichem Liebreiz beigemischt<lb/>
finden, der übrigens bei der &#x201E;Sängerin&#x201C; durch das am<lb/>
Ende tödtlich erwachende Schuldbewußtseyn wehmüthig ge-<lb/>
mildert wird, treffend ausgesprochen. Dieser Familienzug<lb/>
der Herzenshalbheit, welchen Reichthum der interessante-<lb/>
sten und dabei durchaus poetisch verarbeiteten psychologi-<lb/>
schen Beobachtungen auch der Dichter an ihm entwickelt<lb/>
hat, läßt in der That zu oft, als daß es nicht dem To-<lb/>
taleindruck so vieler glänzenden Eigenschaften doch zuletzt<lb/>
einigen Abbruch thun sollte, einen Rest unbefriedigter<lb/>
Ansprüche in uns zurück. Vermissen wir ungern das<lb/>
volle Austönen der angeschlagenen Gefühlssaiten, das<lb/>
muthig ehrliche Dransetzen des ganzen innern Menschen,<lb/>
so können wir nicht immer die Willkür des Dichters darum<lb/>
verklagen; aber es gibt Fälle, wo dieses Nichterschöpfen,<lb/>
obgleich es in der Natur des Stoffs zu liegen scheint,<lb/>
allerdings das Versäumniß einer künstlerischen Pflicht in<lb/>
sich schließt. Wie ärgerlich berührt uns diese seltsame<lb/>
Manier, die Streitkräfte der Jugend und Schönheit gleich-<lb/>
sam aus dem kaum begonnenen Gefechte plötzlich zurück-<lb/>
zuziehen, im &#x201E;Cajetan,&#x201C; der, jenes Goethe'sche:   </p><lb/>
        <quote>
          <lg type="poem">
            <l>&#x201E; Doch wem nichts daran gelegen</l><lb/>
            <l>Scheinet, ob er reizt und rührt,</l><lb/>
            <l>Der beleidigt, der verführt,&#x201C;</l>
          </lg><lb/>
        </quote>
        <p>trefflich illustrirend, das Hervorblitzen der Leidenschaft<lb/>
aus schwüler, träumerischer Stimmung so wirksam ein-<lb/>
geleitet hatte! Wo wir die Flamme eines prächtig ver-<lb/>
wegen über alle Schranken hinstürmenden Gefühls zu<lb/>
erblicken geglaubt &#x2014; auch wieder nur ein Spiel launen-<lb/>
hafter Anwandlungen, das im entscheidenden Moment<lb/>
seinen Gegenstand nicht zu behaupten wagt? Wenn wir<lb/>
den jäh abbrechenden Schluß, womit der neu gereizten<lb/>
Spannung des Lesers nun gerade ein Schnippchen ge-<lb/>
schlagen wird, dem Dichter als eine verletzende Unart<lb/>
vorwerfen, sind wir des von Ludwig Tieck der Novelle<lb/>
zugesprochenen Rechtes, merkwürdige, vom Normalen ab-<lb/>
weichende Begebenheiten in ihrer Vereinzelung zu behan-<lb/>
deln, gewiß nicht uneingedenk. Für dieses plötzliche capri-<lb/>
ciöse Fallenlassen der Sache, das uns auch die Lust an<lb/>
Gottfried Kellers höchst bedeutenden Leistungen auf dem-<lb/>
selben Gebiete mitunter verbittert, gewährt keine Theorie<lb/>
Entschuldigung. Den besten Arbeiten wird dadurch ein<lb/>
dilettantisches Gepräge aufgedrückt, von dem Talente wie<lb/>
Herman Grimm und Keller ihre Erzeugnisse wahrlich rein<lb/>
erhalten könnten. &#x2014; Die folgende Novelle, &#x201E;das Kind,&#x201C;<lb/>
liefert den Beweis, welches Grades von sauberer, jedes<lb/>
angeregte Verlangen der Seele erfüllender Abrundung<lb/>
die Compositionsgabe des Dichters fähig ist. Der Cha-<lb/><cb n="2"/>
rakter des &#x201E;Kindes,&#x201C; in stetigem Gange zu entschlossener<lb/>
Selbstständigkeit und Klarheit des Empfindens heraus-<lb/>
wachsend, treibt die Dinge zu einem nach allen Seiten<lb/>
befriedigenden Ende, und so auf's Angenehmste mit der<lb/>
heitern Vorstellung beschäftigt, daß jeder an seinen Platz<lb/>
und zu seinem Rechte gelangt sey, zweifeln wir nicht,<lb/>
diesem glücklichen Lebensbilde vor den übrigen theils pi-<lb/>
kanter entworfenen, theils im Einzelnen reicher ausge-<lb/>
statteten Dichtungen doch den Preis zuzuerkennen. &#x2014;<lb/>
&#x201E;Das Abenteuer&#x201C; und &#x201E;der Landschaftsmaler&#x201C; erneuern, in<lb/>
sehr verschiedener Weise freilich, den oben bei Gelegen-<lb/>
heit der &#x201E;Sängerin&#x201C; bezeichneten Eindruck, das erstere<lb/>
mit bewußter künstlerischer Absicht und äußerster Schärfe<lb/>
einer Erscheinung auf den Grund gehend, deren leise<lb/>
Schatten im letzteren, an der völlig anders gemeinten Ge-<lb/>
stalt der Lili wider Willen des Urhebers noch verräthe-<lb/>
risch sichtbar, uns den geheimen Zusammenhang seiner<lb/>
geistigen Eigenthümlichkeit mit diesen unter einander wahl-<lb/>
verwandten Naturen wundersam bestätigen. &#x2014; Nirgends<lb/>
haben wir bisher das Phänomen der räthselhaften See-<lb/>
lenspaltung, welche uns bei den meisten durch das Talent<lb/>
dramatischer Darstellung hervorragenden Frauen entgegen<lb/>
tritt, so klar angeschaut und trotz der unerbittlichsten<lb/>
Wahrheit, die ein empfindliches Auge wohl leicht zu grell<lb/>
findet, so ganz und gar poetisch, als dieß in dem &#x201E; Aben-<lb/>
teuer &#x201C; der Fall ist, erledigt gefunden. Lebhaft wird uns<lb/>
hier Lenaus briefliches Wort über eine berühmte Bühnen-<lb/>
künstlerin, die seinem Herzen eine Zeitlang sehr nahe<lb/>
stand: &#x201E;Eben weil sie eine große Schauspielerin war, und<lb/>
je mehr ich es erkannte, um so furchtsamer wurde ich vor<lb/>
einer Verbindung mit ihr. <hi rendition="#g">Jch wußte nicht mehr,<lb/>
was ächt, was falsch an ihr sey,</hi> &#x201C; in's Gedächtniß<lb/>
gerufen; es ist am besten geeignet, die etwaigen Einwände<lb/>
zum Schweigen zu bringen, welche gegen die innere<lb/>
Glaubwürdigkeit dieses kühnen Wurfes verlauten möch-<lb/>
ten. Will man nach der &#x201E;Versöhnung&#x201C; fragen, deren der<lb/>
Nachklang so hart ausgesprochener Enttäuschungen dann<lb/>
doch ermangle, so sind wir der Ansicht, daß durch die<lb/>
imponirende Freiheit des rückhaltlosen Selbstbekenntnisses,<lb/>
womit Julie von dem verläugneten Freunde Abschied<lb/>
nimmt, durch die Energie des absoluten Leichtsinns, die<lb/>
unerschüttert den Blick in die Untiefen des eigenen Da-<lb/>
seyns auszuhalten vermag, alle Dissonanz in eine der ge-<lb/>
meinen moralischen Satisfaction zwar entbehrende, ästhe-<lb/>
tisch dagegen völlig zufrieden gestellte Stimmung aufge-<lb/>
löst wird. Nur hätte der äußerlich etwas zu starke Bruch<lb/>
zwischen den beiden Hälften der Geschichte sich wohl ver-<lb/>
meiden lassen, indem bei Zeiten vom Dichter besser in<lb/>
das Jnnere der liebenswürdigen Unholdin wäre hinein-<lb/>
geleuchtet worden. Dem angenehmen Erstaunen, uns dessen<lb/>
ungeachtet von dem einmüthigen Zusammenspiel scheinbar<lb/>
sich schlechterdings gegenseitig ausschließender Eigenschaften<lb/>
gründlich überzeugt zu fühlen, entspricht das Befremden,<lb/>
im Verhältniß Lili's zu dem &#x201E;Landschaftsmaler&#x201C; durch kei-<lb/>
nen Hauch von Jronie das Bewußtseyn angedeutet zu<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1101/0021] 1101 als Zeugen der geschilderten Vorgänge die ganze Erzäh- lung in den Mund legt: „Jch behielt im Grunde meines Herzens das Gefühl, als sey das schöne Mädchen kein Mensch, sondern ein Elfe, eine Sirene oder sonst etwas heimliches Unheimliches,“ ist der dämonische Zug, den wir mehr oder weniger stark fast in sämmtlichen Dichtungen des vorliegenden Bandes weiblichem Liebreiz beigemischt finden, der übrigens bei der „Sängerin“ durch das am Ende tödtlich erwachende Schuldbewußtseyn wehmüthig ge- mildert wird, treffend ausgesprochen. Dieser Familienzug der Herzenshalbheit, welchen Reichthum der interessante- sten und dabei durchaus poetisch verarbeiteten psychologi- schen Beobachtungen auch der Dichter an ihm entwickelt hat, läßt in der That zu oft, als daß es nicht dem To- taleindruck so vieler glänzenden Eigenschaften doch zuletzt einigen Abbruch thun sollte, einen Rest unbefriedigter Ansprüche in uns zurück. Vermissen wir ungern das volle Austönen der angeschlagenen Gefühlssaiten, das muthig ehrliche Dransetzen des ganzen innern Menschen, so können wir nicht immer die Willkür des Dichters darum verklagen; aber es gibt Fälle, wo dieses Nichterschöpfen, obgleich es in der Natur des Stoffs zu liegen scheint, allerdings das Versäumniß einer künstlerischen Pflicht in sich schließt. Wie ärgerlich berührt uns diese seltsame Manier, die Streitkräfte der Jugend und Schönheit gleich- sam aus dem kaum begonnenen Gefechte plötzlich zurück- zuziehen, im „Cajetan,“ der, jenes Goethe'sche: „ Doch wem nichts daran gelegen Scheinet, ob er reizt und rührt, Der beleidigt, der verführt,“ trefflich illustrirend, das Hervorblitzen der Leidenschaft aus schwüler, träumerischer Stimmung so wirksam ein- geleitet hatte! Wo wir die Flamme eines prächtig ver- wegen über alle Schranken hinstürmenden Gefühls zu erblicken geglaubt — auch wieder nur ein Spiel launen- hafter Anwandlungen, das im entscheidenden Moment seinen Gegenstand nicht zu behaupten wagt? Wenn wir den jäh abbrechenden Schluß, womit der neu gereizten Spannung des Lesers nun gerade ein Schnippchen ge- schlagen wird, dem Dichter als eine verletzende Unart vorwerfen, sind wir des von Ludwig Tieck der Novelle zugesprochenen Rechtes, merkwürdige, vom Normalen ab- weichende Begebenheiten in ihrer Vereinzelung zu behan- deln, gewiß nicht uneingedenk. Für dieses plötzliche capri- ciöse Fallenlassen der Sache, das uns auch die Lust an Gottfried Kellers höchst bedeutenden Leistungen auf dem- selben Gebiete mitunter verbittert, gewährt keine Theorie Entschuldigung. Den besten Arbeiten wird dadurch ein dilettantisches Gepräge aufgedrückt, von dem Talente wie Herman Grimm und Keller ihre Erzeugnisse wahrlich rein erhalten könnten. — Die folgende Novelle, „das Kind,“ liefert den Beweis, welches Grades von sauberer, jedes angeregte Verlangen der Seele erfüllender Abrundung die Compositionsgabe des Dichters fähig ist. Der Cha- rakter des „Kindes,“ in stetigem Gange zu entschlossener Selbstständigkeit und Klarheit des Empfindens heraus- wachsend, treibt die Dinge zu einem nach allen Seiten befriedigenden Ende, und so auf's Angenehmste mit der heitern Vorstellung beschäftigt, daß jeder an seinen Platz und zu seinem Rechte gelangt sey, zweifeln wir nicht, diesem glücklichen Lebensbilde vor den übrigen theils pi- kanter entworfenen, theils im Einzelnen reicher ausge- statteten Dichtungen doch den Preis zuzuerkennen. — „Das Abenteuer“ und „der Landschaftsmaler“ erneuern, in sehr verschiedener Weise freilich, den oben bei Gelegen- heit der „Sängerin“ bezeichneten Eindruck, das erstere mit bewußter künstlerischer Absicht und äußerster Schärfe einer Erscheinung auf den Grund gehend, deren leise Schatten im letzteren, an der völlig anders gemeinten Ge- stalt der Lili wider Willen des Urhebers noch verräthe- risch sichtbar, uns den geheimen Zusammenhang seiner geistigen Eigenthümlichkeit mit diesen unter einander wahl- verwandten Naturen wundersam bestätigen. — Nirgends haben wir bisher das Phänomen der räthselhaften See- lenspaltung, welche uns bei den meisten durch das Talent dramatischer Darstellung hervorragenden Frauen entgegen tritt, so klar angeschaut und trotz der unerbittlichsten Wahrheit, die ein empfindliches Auge wohl leicht zu grell findet, so ganz und gar poetisch, als dieß in dem „ Aben- teuer “ der Fall ist, erledigt gefunden. Lebhaft wird uns hier Lenaus briefliches Wort über eine berühmte Bühnen- künstlerin, die seinem Herzen eine Zeitlang sehr nahe stand: „Eben weil sie eine große Schauspielerin war, und je mehr ich es erkannte, um so furchtsamer wurde ich vor einer Verbindung mit ihr. Jch wußte nicht mehr, was ächt, was falsch an ihr sey, “ in's Gedächtniß gerufen; es ist am besten geeignet, die etwaigen Einwände zum Schweigen zu bringen, welche gegen die innere Glaubwürdigkeit dieses kühnen Wurfes verlauten möch- ten. Will man nach der „Versöhnung“ fragen, deren der Nachklang so hart ausgesprochener Enttäuschungen dann doch ermangle, so sind wir der Ansicht, daß durch die imponirende Freiheit des rückhaltlosen Selbstbekenntnisses, womit Julie von dem verläugneten Freunde Abschied nimmt, durch die Energie des absoluten Leichtsinns, die unerschüttert den Blick in die Untiefen des eigenen Da- seyns auszuhalten vermag, alle Dissonanz in eine der ge- meinen moralischen Satisfaction zwar entbehrende, ästhe- tisch dagegen völlig zufrieden gestellte Stimmung aufge- löst wird. Nur hätte der äußerlich etwas zu starke Bruch zwischen den beiden Hälften der Geschichte sich wohl ver- meiden lassen, indem bei Zeiten vom Dichter besser in das Jnnere der liebenswürdigen Unholdin wäre hinein- geleuchtet worden. Dem angenehmen Erstaunen, uns dessen ungeachtet von dem einmüthigen Zusammenspiel scheinbar sich schlechterdings gegenseitig ausschließender Eigenschaften gründlich überzeugt zu fühlen, entspricht das Befremden, im Verhältniß Lili's zu dem „Landschaftsmaler“ durch kei- nen Hauch von Jronie das Bewußtseyn angedeutet zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/21
Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/21>, abgerufen am 25.06.2024.