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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Vorstellungen. Wenn das Kind einen Tisch, ein Haus
u. dgl. zeichnet, gibt es in seinen Linien nur die aller-
allgemeinsten und nothwendigsten Merkmale dieser Dinge
wieder; es zeichnet nicht irgend einen bestimmten Tisch,
nicht irgend ein besonderes Haus mit eigenthümlichen
Eigenschaften und von einem besondern Standpunkte
aus, sondern nur ein mehr oder weniger für alle Tische
und Häuser passendes Schema, gleichsam den Begriff
eines Tisches und Hauses. Dieß entspringt nicht bloß
aus dem Mangel an Fertigkeit in Handhabung des
Griffels, sondern auch aus dem allgemeinen, unent-
wickelten Zustande seiner Anschauungsweise, welche von
den besonderen Eigenschaften der verschiedenen einzelnen
Tische und Häuser noch gar keine Vorstellung besitzt,
sondern sie alle in ein Gemeinbild zusammen faßt, wel-
ches eben der Begriff dieser Dinge ist.

Wenn man daher gewöhnlich annimmt, daß die
unterschiedlichen, bestimmten Vorstellungen früher im
Bewußtseyn sind als die Begriffe, und daß diese erst
durch Abstraktion von den Vorstellungen oder von den
Unterschieden in denselben entstehen, so ist dieß, wie
selbst Czolbe in seiner "Darstellung des Sensualis-
mus " anerkennt, ein entschiedener Jrrthum, zu dem wir
verführt werden, wenn wir die Sache von späteren
Entwicklungsstadien aus betrachten. Jn diesen ist aller-
dings die Vorstellung dergestalt in den Vordergrund
getreten, daß wir in vielen Fällen nur durch eine Ab-
straktion zum reinen Begriff gelangen können. Auf
früheren Entwicklungsstufen bedarf es aber deren nicht;
vielmehr geht hier aus der Wahrnehmung unmittelbar
und zuerst der Begriff hervor, oder noch richtiger, er
wird in uns durch die Wahrnehmung nur geweckt: denn
das Erkennen und Begreifen besteht stets in einer Ver-
gleichung eines äußern Gegenstandes mit dem Gehalt
unseres Jnnern und in der Anerkennung dieses Aeußern
als eines auch in uns Existirenden. Der Begriff ist
daher nicht nur vor der Vorstellung, sondern auch vor
der Wahrnehmung vorhanden; denn er existirt eigent-
lich von Uranfang an in uns als rein ideelles Gemein-
bild, und die Wahrnehmung ist nur nothwendig, um
ihn aus seiner Ruhe aufzuregen und in's Leben zu ru-
fen, wie es eines anregenden, befruchtenden Elements
bedarf, wenn das Samenkorn aus dem Zustande der
schlummernden Lebensfähigkeit in den Zustand des wirk-
lichen Lebens übergehen soll.

Jn diesem Sinne ist es richtig, wenn man sagt:
Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, aber
auch nur in diesem. Sobald man hier das " est " in
seiner eigentlichen und wahren Bedeutung nimmt, wird
der Satz falsch; denn was auch immer in der Außen-
welt, die uns durch die Sinne zugeführt wird, existiren
[Spaltenumbruch] mag, es existirt in der Form des Seyns, d. h. in
seiner Allgemeinheit, in seinem generellen Grundtypus
zugleich auch in uns, gleichviel ob wir es bereits mit
den Sinnen wahrgenommen haben oder nicht. Wäre
dieß nicht so, so wäre eine Amalgamation des Aeußern
mit unserem Jnnern, eine Aufnahme des Objekts in
unsere Subjektivität schlechthin unmöglich, da nur das
in irgend einer Beziehung Gleichartige einer Mischung
und Vereinigung fähig ist. Nicht geschaffen also
wird der Begriff durch die sinnliche Wahrnehmung, son-
dern nur erweckt und in's Leben gerufen, d. h.
zur näheren Vereinigung und lebendigen Wechselbezie-
hung mit den Außendingen und dadurch zugleich zur
Consolidation und Ausbildung seiner selbst zur Vor-
stellung fähig gemacht. Statt des est sollte daher in
dem obigen Satze eigentlich ein nascitur stehen.

Alles spricht also dafür, daß die Entwicklung so-
wohl der objektiven Erscheinungen wie unserer subjek-
tiven Auffassung derselben von dem Gleichen, Allge-
meinen beginnt, und wo wir daher Unterschiede, Ge-
gensätze finden, müssen wir nothwendig schließen, daß
sich dieselben erst nach und nach aus irgend einem Ge-
meinsamen und Gleichartigen entwickelt haben. Daher
stammt denn auch der überall sich geltend machende,
unaustilgbare Trieb des Menschen, sich die Gegensätze
und Unterschiede, wie groß sie auch immer seyn mögen,
einheitlich zu erklären, d. h. aus einem gemeinsamen
Urquell abzuleiten. Selbst die exacten Wissenschaften,
obschon sie mehr als die Philosophie ihr Augenmerk auf
das Einzelne und Verschiedene als solches richten, haben
sich demselben nie entziehen können, und wenn sie ge-
rade in neuester Zeit ihre eifrigsten Forschungen dahin
gerichtet haben, das Organische aus dem Anorganischen
zu erklären und den Unterschied zwischen diesen beiden
Erscheinungsformen aufzuheben, so ist auch dieß nur
als eine Folge jenes unabweislichen Bedürfnisses auf-
zufassen. Und die ihnen hiebei vorschwebende Jdee ist
auch eine vollkommen richtige; sie irren nur darin, daß
sie das Organische als solches völlig aufheben und auf
ein Anorganisches reduciren wollen, während sie sich
vielmehr als Aufgabe stellen mußten, ein Höheres,
Primitiveres nachzuweisen, worin das Organische wie
das Anorganische gleichmäßig enthalten ist, oder worin
die Unterschiede des Organischen und Anorganischen
noch unentwickelt verborgen liegen, was, wie wir spä-
terhin sehen werden, in der That vorhanden ist.

Eben so wenig aber, wie sich der unvermittelte
Gegensatz des Anorganischen und Organischen ertragen
läßt, können all die übrigen Gegensätze und Differen-
zen, als ursprüngliche gedacht, dem wissenschaftlichen
Erkenntnißtriebe genügen, z. B. nach dem Besonderen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Vorstellungen. Wenn das Kind einen Tisch, ein Haus
u. dgl. zeichnet, gibt es in seinen Linien nur die aller-
allgemeinsten und nothwendigsten Merkmale dieser Dinge
wieder; es zeichnet nicht irgend einen bestimmten Tisch,
nicht irgend ein besonderes Haus mit eigenthümlichen
Eigenschaften und von einem besondern Standpunkte
aus, sondern nur ein mehr oder weniger für alle Tische
und Häuser passendes Schema, gleichsam den Begriff
eines Tisches und Hauses. Dieß entspringt nicht bloß
aus dem Mangel an Fertigkeit in Handhabung des
Griffels, sondern auch aus dem allgemeinen, unent-
wickelten Zustande seiner Anschauungsweise, welche von
den besonderen Eigenschaften der verschiedenen einzelnen
Tische und Häuser noch gar keine Vorstellung besitzt,
sondern sie alle in ein Gemeinbild zusammen faßt, wel-
ches eben der Begriff dieser Dinge ist.

Wenn man daher gewöhnlich annimmt, daß die
unterschiedlichen, bestimmten Vorstellungen früher im
Bewußtseyn sind als die Begriffe, und daß diese erst
durch Abstraktion von den Vorstellungen oder von den
Unterschieden in denselben entstehen, so ist dieß, wie
selbst Czolbe in seiner „Darstellung des Sensualis-
mus “ anerkennt, ein entschiedener Jrrthum, zu dem wir
verführt werden, wenn wir die Sache von späteren
Entwicklungsstadien aus betrachten. Jn diesen ist aller-
dings die Vorstellung dergestalt in den Vordergrund
getreten, daß wir in vielen Fällen nur durch eine Ab-
straktion zum reinen Begriff gelangen können. Auf
früheren Entwicklungsstufen bedarf es aber deren nicht;
vielmehr geht hier aus der Wahrnehmung unmittelbar
und zuerst der Begriff hervor, oder noch richtiger, er
wird in uns durch die Wahrnehmung nur geweckt: denn
das Erkennen und Begreifen besteht stets in einer Ver-
gleichung eines äußern Gegenstandes mit dem Gehalt
unseres Jnnern und in der Anerkennung dieses Aeußern
als eines auch in uns Existirenden. Der Begriff ist
daher nicht nur vor der Vorstellung, sondern auch vor
der Wahrnehmung vorhanden; denn er existirt eigent-
lich von Uranfang an in uns als rein ideelles Gemein-
bild, und die Wahrnehmung ist nur nothwendig, um
ihn aus seiner Ruhe aufzuregen und in's Leben zu ru-
fen, wie es eines anregenden, befruchtenden Elements
bedarf, wenn das Samenkorn aus dem Zustande der
schlummernden Lebensfähigkeit in den Zustand des wirk-
lichen Lebens übergehen soll.

Jn diesem Sinne ist es richtig, wenn man sagt:
Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, aber
auch nur in diesem. Sobald man hier das » est « in
seiner eigentlichen und wahren Bedeutung nimmt, wird
der Satz falsch; denn was auch immer in der Außen-
welt, die uns durch die Sinne zugeführt wird, existiren
[Spaltenumbruch] mag, es existirt in der Form des Seyns, d. h. in
seiner Allgemeinheit, in seinem generellen Grundtypus
zugleich auch in uns, gleichviel ob wir es bereits mit
den Sinnen wahrgenommen haben oder nicht. Wäre
dieß nicht so, so wäre eine Amalgamation des Aeußern
mit unserem Jnnern, eine Aufnahme des Objekts in
unsere Subjektivität schlechthin unmöglich, da nur das
in irgend einer Beziehung Gleichartige einer Mischung
und Vereinigung fähig ist. Nicht geschaffen also
wird der Begriff durch die sinnliche Wahrnehmung, son-
dern nur erweckt und in's Leben gerufen, d. h.
zur näheren Vereinigung und lebendigen Wechselbezie-
hung mit den Außendingen und dadurch zugleich zur
Consolidation und Ausbildung seiner selbst zur Vor-
stellung fähig gemacht. Statt des est sollte daher in
dem obigen Satze eigentlich ein nascitur stehen.

Alles spricht also dafür, daß die Entwicklung so-
wohl der objektiven Erscheinungen wie unserer subjek-
tiven Auffassung derselben von dem Gleichen, Allge-
meinen beginnt, und wo wir daher Unterschiede, Ge-
gensätze finden, müssen wir nothwendig schließen, daß
sich dieselben erst nach und nach aus irgend einem Ge-
meinsamen und Gleichartigen entwickelt haben. Daher
stammt denn auch der überall sich geltend machende,
unaustilgbare Trieb des Menschen, sich die Gegensätze
und Unterschiede, wie groß sie auch immer seyn mögen,
einheitlich zu erklären, d. h. aus einem gemeinsamen
Urquell abzuleiten. Selbst die exacten Wissenschaften,
obschon sie mehr als die Philosophie ihr Augenmerk auf
das Einzelne und Verschiedene als solches richten, haben
sich demselben nie entziehen können, und wenn sie ge-
rade in neuester Zeit ihre eifrigsten Forschungen dahin
gerichtet haben, das Organische aus dem Anorganischen
zu erklären und den Unterschied zwischen diesen beiden
Erscheinungsformen aufzuheben, so ist auch dieß nur
als eine Folge jenes unabweislichen Bedürfnisses auf-
zufassen. Und die ihnen hiebei vorschwebende Jdee ist
auch eine vollkommen richtige; sie irren nur darin, daß
sie das Organische als solches völlig aufheben und auf
ein Anorganisches reduciren wollen, während sie sich
vielmehr als Aufgabe stellen mußten, ein Höheres,
Primitiveres nachzuweisen, worin das Organische wie
das Anorganische gleichmäßig enthalten ist, oder worin
die Unterschiede des Organischen und Anorganischen
noch unentwickelt verborgen liegen, was, wie wir spä-
terhin sehen werden, in der That vorhanden ist.

Eben so wenig aber, wie sich der unvermittelte
Gegensatz des Anorganischen und Organischen ertragen
läßt, können all die übrigen Gegensätze und Differen-
zen, als ursprüngliche gedacht, dem wissenschaftlichen
Erkenntnißtriebe genügen, z. B. nach dem Besonderen
[Ende Spaltensatz]

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[724/0004] 724 Vorstellungen. Wenn das Kind einen Tisch, ein Haus u. dgl. zeichnet, gibt es in seinen Linien nur die aller- allgemeinsten und nothwendigsten Merkmale dieser Dinge wieder; es zeichnet nicht irgend einen bestimmten Tisch, nicht irgend ein besonderes Haus mit eigenthümlichen Eigenschaften und von einem besondern Standpunkte aus, sondern nur ein mehr oder weniger für alle Tische und Häuser passendes Schema, gleichsam den Begriff eines Tisches und Hauses. Dieß entspringt nicht bloß aus dem Mangel an Fertigkeit in Handhabung des Griffels, sondern auch aus dem allgemeinen, unent- wickelten Zustande seiner Anschauungsweise, welche von den besonderen Eigenschaften der verschiedenen einzelnen Tische und Häuser noch gar keine Vorstellung besitzt, sondern sie alle in ein Gemeinbild zusammen faßt, wel- ches eben der Begriff dieser Dinge ist. Wenn man daher gewöhnlich annimmt, daß die unterschiedlichen, bestimmten Vorstellungen früher im Bewußtseyn sind als die Begriffe, und daß diese erst durch Abstraktion von den Vorstellungen oder von den Unterschieden in denselben entstehen, so ist dieß, wie selbst Czolbe in seiner „Darstellung des Sensualis- mus “ anerkennt, ein entschiedener Jrrthum, zu dem wir verführt werden, wenn wir die Sache von späteren Entwicklungsstadien aus betrachten. Jn diesen ist aller- dings die Vorstellung dergestalt in den Vordergrund getreten, daß wir in vielen Fällen nur durch eine Ab- straktion zum reinen Begriff gelangen können. 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Sobald man hier das » est « in seiner eigentlichen und wahren Bedeutung nimmt, wird der Satz falsch; denn was auch immer in der Außen- welt, die uns durch die Sinne zugeführt wird, existiren mag, es existirt in der Form des Seyns, d. h. in seiner Allgemeinheit, in seinem generellen Grundtypus zugleich auch in uns, gleichviel ob wir es bereits mit den Sinnen wahrgenommen haben oder nicht. Wäre dieß nicht so, so wäre eine Amalgamation des Aeußern mit unserem Jnnern, eine Aufnahme des Objekts in unsere Subjektivität schlechthin unmöglich, da nur das in irgend einer Beziehung Gleichartige einer Mischung und Vereinigung fähig ist. Nicht geschaffen also wird der Begriff durch die sinnliche Wahrnehmung, son- dern nur erweckt und in's Leben gerufen, d. h. zur näheren Vereinigung und lebendigen Wechselbezie- hung mit den Außendingen und dadurch zugleich zur Consolidation und Ausbildung seiner selbst zur Vor- stellung fähig gemacht. 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Eben so wenig aber, wie sich der unvermittelte Gegensatz des Anorganischen und Organischen ertragen läßt, können all die übrigen Gegensätze und Differen- zen, als ursprüngliche gedacht, dem wissenschaftlichen Erkenntnißtriebe genügen, z. B. nach dem Besonderen

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt31_1856/4>, abgerufen am 17.07.2024.