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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] auf, um es sich vorzuwerfen. Einzeln hütet jeder seine
Reigungen, und nur bei großen Gelegenheiten über-
windet er die Scheu, sich öffentlich am Allgemeinen zu
betheiligen.

Die kirchlichen Gemälde der altdeutschen Schule
enthalten Porträts mit ganz individuellen Gestalten, oft
von hinreißender Schönheit, immer jedoch Porträts.
Wo später berühmte Meister ihren Figuren das Jndi-
viduelle zu nehmen suchten, gelang es ihnen nicht, die
so entstandene Leere auszufüllen. Van Dyk's und Ru-
bens religiöse Bilder sind meistens äußerlicher gemalt
als ihre andern, und was wir bewundern, ist mehr
die Kühnheit der Composition und der Pinselführung,
als die Jnnigkeit der Empfindung. Wenn wir aber
die Christusbilder der neueren Zeit betrachten: entwe-
der ahmt man direkt den romanischen Typus nach,
oder man borgt heimlich die fremden Formen, und sucht
sie auf diese oder jene Weise deutsch zu machen. Bald
möchte man durch einen süßlichen Ausdruck ( welcher
niemals auf den italienischen Bildern anzutreffen ist ) ,
bald durch wohlgepflegtes Haar und geglätteten Bart,
auch durch wildverzerrte Stirnmuskeln das Unmögliche
erreichen oder wenigstens umgehen. Nirgends ( so viel
mir bekannt ist ) hat ein deutscher Künstler einen Chri-
stus hervorgebracht, der so unschuldig schön, so absichts-
los rührend im Ausdrucke erscheint, als auf so vielen
Bildern der Spanier und Jtaliener. Wie wäre es
auch möglich! Jene malten aus der Fülle ihrer eigenen
Natur die Verklärung ihres Volks, Bilder, in denen
Gedanke und Farbe in eins verschwimmen; bei uns
aber trennt sich der Gedanke vom Bilde, und das
höchste, was das Bild darstellt, ist die Seele seines
Meisters. Goethes Gedichte entzücken uns, aber im
Gedanken an den Dichter; Beethovens Musik trägt unsere
Seele mit sich fort, aber zu Beethoven; Cornelius
Werke erfüllen mich mit Ehrfurcht, aber vor Cornelius.
Was er darstellt, ist nur die Straße zu ihm hin. Jch
habe Goethes Bildniß über meinem Tische, aber lese
ich seine Werke, so sehe ich ihn anders. Wer weiß,
wie Shakespeare aussah, und wer, wenn er ihn liest
und empfindet, vermißte den Besitz eines Porträts, das
ihn treu darstellt? Und wenn wir an Christus denken
und von ihm lesen, wozu da noch die Vermittlung
eines fremden Künstlers, und wäre er der größte von
allen? Welche Hand vermöchte es, die Lippen zu ma-
len, über die seine Worte gegangen sind?

Wäre die Bibel noch ein verschlossenes, unzugäng-
liches Buch für uns, dann möchte die Kirchenmalerei
nothwendiger und angebrachter seyn. Der Protestan-
tismus aber beruht auf dem Lesen der heiligen Schrift,
und jeder hat sie in Händen, dem daran gelegen ist.
[Spaltenumbruch] Ein Künstler kann seine Stoffe wählen, wo er will,
und sie ausbeuten, wie er will. Entlehnt er sie dem
alten und neuen Testamente, so kann er großartige,
rührende Bilder daraus malen, allein weder er noch
ein anderer darf das Verlangen an mich stellen, ich
solle diese Dinge sehen, wie er sie sah, und empfinden,
wie er sie empfand. Hier haben wir vollkommene Frei-
heit. Was er gestaltete, sind stets nur individuelle
Anschauungen, keine officiellen Gemälde, wie sie die
katholische Kirche kennt. Die vom tiefsten Geiste er-
sonnenen, von der edelsten Hand gemalten Darstellun-
gen biblischer Motive müssen für unsere Augen jener
Weihe entbehren, welche das aus der gewöhnlichsten
Heiligenbilderfabrik hervorgegangene, noch so roh ge-
arbeitete Heiligenbild für den Katholiken besitzt.

Deßhalb können Cornelius' religiöse Compositionen
nur in einer Hinsicht Gegenstand bewundernder Be-
trachtung seyn: sie stehen da als die Denkmale seiner
ungemeinen Schöpfungskraft. Treten wir so vor sein
neuestes Werk, dann erblicken wir in ihm eine Arbeit,
die an das Erhabenste streift, was ein Künstler erzeu-
gen kann. Jede Körperwendung, jede Falte des Ge-
wandes zeigt, wie sehr trotz der verhältnißmäßigen Klein-
heit der Figuren das Ganze kolossal gedacht sey. Als
ich es länger ansah, schien es zurückzuweichen, und
endlich war mir, als erblickte ich aus der Ferne die
grandiosesten Verhältnisse, als läge es nur an mir, her-
anzutreten, und alles müsse wachsen und wachsen und
endlich die Höhe erreichen, in welcher es empfunden
ward und ausgeführt werden soll. Während ausge-
dehnte Bilder anderer Meister oft nur wie in's Unge-
heure ausgedehnte Genrebilder aussehen, welche den
Charakter ihrer ursprünglichen Kleinheit bewahren wür-
den, selbst wenn man ihren Maßstab auf das doppelte
erhöhen wollte, so ist bei Cornelius die kleinste Zeich-
nung von einer Fähigkeit beseelt, sich in's Große aus-
zudehnen, daß man bei seinen Arbeiten, welches For-
mat sie auch haben, die zufällige Höhe und Breite bald
völlig übersieht und sich rein dem Gedanken hingibt.
Diese Macht des Grundgedankens ist eine ganz durch-
dringende bei ihm; Einzelnheiten, welche uns unge-
gewohnt oder unschön erscheinen könnten, überstrahlt
sie; immer wieder dringt das Ganze des Werkes auf
uns ein und regt das dem Menschen so wohlthätige
Gefühl an, daß wir einem überlegenen Geiste gegen-
über stehen, dem sich hinzugeben keine Schwachheit,
sondern eine Stärke ist.

Wem dieß jetzt zuviel gesagt erschiene, wird sich
nach Jahren vielleicht, wenn Cornelius nicht mehr ist,
diesem Gefühle nicht mehr verschließen; denn es bleibt
nur allzuwahr, daß es für die meisten unmöglich ist,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] auf, um es sich vorzuwerfen. Einzeln hütet jeder seine
Reigungen, und nur bei großen Gelegenheiten über-
windet er die Scheu, sich öffentlich am Allgemeinen zu
betheiligen.

Die kirchlichen Gemälde der altdeutschen Schule
enthalten Porträts mit ganz individuellen Gestalten, oft
von hinreißender Schönheit, immer jedoch Porträts.
Wo später berühmte Meister ihren Figuren das Jndi-
viduelle zu nehmen suchten, gelang es ihnen nicht, die
so entstandene Leere auszufüllen. Van Dyk's und Ru-
bens religiöse Bilder sind meistens äußerlicher gemalt
als ihre andern, und was wir bewundern, ist mehr
die Kühnheit der Composition und der Pinselführung,
als die Jnnigkeit der Empfindung. Wenn wir aber
die Christusbilder der neueren Zeit betrachten: entwe-
der ahmt man direkt den romanischen Typus nach,
oder man borgt heimlich die fremden Formen, und sucht
sie auf diese oder jene Weise deutsch zu machen. Bald
möchte man durch einen süßlichen Ausdruck ( welcher
niemals auf den italienischen Bildern anzutreffen ist ) ,
bald durch wohlgepflegtes Haar und geglätteten Bart,
auch durch wildverzerrte Stirnmuskeln das Unmögliche
erreichen oder wenigstens umgehen. Nirgends ( so viel
mir bekannt ist ) hat ein deutscher Künstler einen Chri-
stus hervorgebracht, der so unschuldig schön, so absichts-
los rührend im Ausdrucke erscheint, als auf so vielen
Bildern der Spanier und Jtaliener. Wie wäre es
auch möglich! Jene malten aus der Fülle ihrer eigenen
Natur die Verklärung ihres Volks, Bilder, in denen
Gedanke und Farbe in eins verschwimmen; bei uns
aber trennt sich der Gedanke vom Bilde, und das
höchste, was das Bild darstellt, ist die Seele seines
Meisters. Goethes Gedichte entzücken uns, aber im
Gedanken an den Dichter; Beethovens Musik trägt unsere
Seele mit sich fort, aber zu Beethoven; Cornelius
Werke erfüllen mich mit Ehrfurcht, aber vor Cornelius.
Was er darstellt, ist nur die Straße zu ihm hin. Jch
habe Goethes Bildniß über meinem Tische, aber lese
ich seine Werke, so sehe ich ihn anders. Wer weiß,
wie Shakespeare aussah, und wer, wenn er ihn liest
und empfindet, vermißte den Besitz eines Porträts, das
ihn treu darstellt? Und wenn wir an Christus denken
und von ihm lesen, wozu da noch die Vermittlung
eines fremden Künstlers, und wäre er der größte von
allen? Welche Hand vermöchte es, die Lippen zu ma-
len, über die seine Worte gegangen sind?

Wäre die Bibel noch ein verschlossenes, unzugäng-
liches Buch für uns, dann möchte die Kirchenmalerei
nothwendiger und angebrachter seyn. Der Protestan-
tismus aber beruht auf dem Lesen der heiligen Schrift,
und jeder hat sie in Händen, dem daran gelegen ist.
[Spaltenumbruch] Ein Künstler kann seine Stoffe wählen, wo er will,
und sie ausbeuten, wie er will. Entlehnt er sie dem
alten und neuen Testamente, so kann er großartige,
rührende Bilder daraus malen, allein weder er noch
ein anderer darf das Verlangen an mich stellen, ich
solle diese Dinge sehen, wie er sie sah, und empfinden,
wie er sie empfand. Hier haben wir vollkommene Frei-
heit. Was er gestaltete, sind stets nur individuelle
Anschauungen, keine officiellen Gemälde, wie sie die
katholische Kirche kennt. Die vom tiefsten Geiste er-
sonnenen, von der edelsten Hand gemalten Darstellun-
gen biblischer Motive müssen für unsere Augen jener
Weihe entbehren, welche das aus der gewöhnlichsten
Heiligenbilderfabrik hervorgegangene, noch so roh ge-
arbeitete Heiligenbild für den Katholiken besitzt.

Deßhalb können Cornelius' religiöse Compositionen
nur in einer Hinsicht Gegenstand bewundernder Be-
trachtung seyn: sie stehen da als die Denkmale seiner
ungemeinen Schöpfungskraft. Treten wir so vor sein
neuestes Werk, dann erblicken wir in ihm eine Arbeit,
die an das Erhabenste streift, was ein Künstler erzeu-
gen kann. Jede Körperwendung, jede Falte des Ge-
wandes zeigt, wie sehr trotz der verhältnißmäßigen Klein-
heit der Figuren das Ganze kolossal gedacht sey. Als
ich es länger ansah, schien es zurückzuweichen, und
endlich war mir, als erblickte ich aus der Ferne die
grandiosesten Verhältnisse, als läge es nur an mir, her-
anzutreten, und alles müsse wachsen und wachsen und
endlich die Höhe erreichen, in welcher es empfunden
ward und ausgeführt werden soll. Während ausge-
dehnte Bilder anderer Meister oft nur wie in's Unge-
heure ausgedehnte Genrebilder aussehen, welche den
Charakter ihrer ursprünglichen Kleinheit bewahren wür-
den, selbst wenn man ihren Maßstab auf das doppelte
erhöhen wollte, so ist bei Cornelius die kleinste Zeich-
nung von einer Fähigkeit beseelt, sich in's Große aus-
zudehnen, daß man bei seinen Arbeiten, welches For-
mat sie auch haben, die zufällige Höhe und Breite bald
völlig übersieht und sich rein dem Gedanken hingibt.
Diese Macht des Grundgedankens ist eine ganz durch-
dringende bei ihm; Einzelnheiten, welche uns unge-
gewohnt oder unschön erscheinen könnten, überstrahlt
sie; immer wieder dringt das Ganze des Werkes auf
uns ein und regt das dem Menschen so wohlthätige
Gefühl an, daß wir einem überlegenen Geiste gegen-
über stehen, dem sich hinzugeben keine Schwachheit,
sondern eine Stärke ist.

Wem dieß jetzt zuviel gesagt erschiene, wird sich
nach Jahren vielleicht, wenn Cornelius nicht mehr ist,
diesem Gefühle nicht mehr verschließen; denn es bleibt
nur allzuwahr, daß es für die meisten unmöglich ist,
[Ende Spaltensatz]

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Was er darstellt, ist nur die Straße zu ihm hin. Jch habe Goethes Bildniß über meinem Tische, aber lese ich seine Werke, so sehe ich ihn anders. Wer weiß, wie Shakespeare aussah, und wer, wenn er ihn liest und empfindet, vermißte den Besitz eines Porträts, das ihn treu darstellt? Und wenn wir an Christus denken und von ihm lesen, wozu da noch die Vermittlung eines fremden Künstlers, und wäre er der größte von allen? Welche Hand vermöchte es, die Lippen zu ma- len, über die seine Worte gegangen sind? Wäre die Bibel noch ein verschlossenes, unzugäng- liches Buch für uns, dann möchte die Kirchenmalerei nothwendiger und angebrachter seyn. Der Protestan- tismus aber beruht auf dem Lesen der heiligen Schrift, und jeder hat sie in Händen, dem daran gelegen ist. Ein Künstler kann seine Stoffe wählen, wo er will, und sie ausbeuten, wie er will. Entlehnt er sie dem alten und neuen Testamente, so kann er großartige, rührende Bilder daraus malen, allein weder er noch ein anderer darf das Verlangen an mich stellen, ich solle diese Dinge sehen, wie er sie sah, und empfinden, wie er sie empfand. Hier haben wir vollkommene Frei- heit. Was er gestaltete, sind stets nur individuelle Anschauungen, keine officiellen Gemälde, wie sie die katholische Kirche kennt. Die vom tiefsten Geiste er- sonnenen, von der edelsten Hand gemalten Darstellun- gen biblischer Motive müssen für unsere Augen jener Weihe entbehren, welche das aus der gewöhnlichsten Heiligenbilderfabrik hervorgegangene, noch so roh ge- arbeitete Heiligenbild für den Katholiken besitzt. Deßhalb können Cornelius' religiöse Compositionen nur in einer Hinsicht Gegenstand bewundernder Be- trachtung seyn: sie stehen da als die Denkmale seiner ungemeinen Schöpfungskraft. Treten wir so vor sein neuestes Werk, dann erblicken wir in ihm eine Arbeit, die an das Erhabenste streift, was ein Künstler erzeu- gen kann. Jede Körperwendung, jede Falte des Ge- wandes zeigt, wie sehr trotz der verhältnißmäßigen Klein- heit der Figuren das Ganze kolossal gedacht sey. Als ich es länger ansah, schien es zurückzuweichen, und endlich war mir, als erblickte ich aus der Ferne die grandiosesten Verhältnisse, als läge es nur an mir, her- anzutreten, und alles müsse wachsen und wachsen und endlich die Höhe erreichen, in welcher es empfunden ward und ausgeführt werden soll. Während ausge- dehnte Bilder anderer Meister oft nur wie in's Unge- heure ausgedehnte Genrebilder aussehen, welche den Charakter ihrer ursprünglichen Kleinheit bewahren wür- den, selbst wenn man ihren Maßstab auf das doppelte erhöhen wollte, so ist bei Cornelius die kleinste Zeich- nung von einer Fähigkeit beseelt, sich in's Große aus- zudehnen, daß man bei seinen Arbeiten, welches For- mat sie auch haben, die zufällige Höhe und Breite bald völlig übersieht und sich rein dem Gedanken hingibt. Diese Macht des Grundgedankens ist eine ganz durch- dringende bei ihm; Einzelnheiten, welche uns unge- gewohnt oder unschön erscheinen könnten, überstrahlt sie; immer wieder dringt das Ganze des Werkes auf uns ein und regt das dem Menschen so wohlthätige Gefühl an, daß wir einem überlegenen Geiste gegen- über stehen, dem sich hinzugeben keine Schwachheit, sondern eine Stärke ist. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 699. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/3>, abgerufen am 18.06.2024.