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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] obschon letztere Baumgattung seither allen Extremen der
Wärme und Kälte Trotz geboten hatte. Bei der hiesigen
guten Gewohnheit, die Straßen der Städte mit schatten-
den Bäumen zu bepflanzen, ist diese Erfahrung doppelt
empfindlich. Die Natur, und im engeren Sinne unsere
Mutter Erde geht oft recht revolutionär zu Werke, ohne
alle Rücksicht auf conservative Gefühle. Das beste ist,
sich an Voltaires Spott nicht zu kehren und des großen
Leibnitz Optimismus anzunehmen. Man kommt dabei
am besten weg und voran, namentlich auch im Gesell-
schaftstreiben. -- Vor einigen Wochen wurden zwei deutsche
Einwanderer, nachdem sie das Fegefeuer in Castlegarden
passirt hatten, auf offener Straße von einem irischen
Emigrantenrunner jämmerlich zerschlagen, weil sie sich
weigerten Billets zur Reise nach Jowa zu kaufen. Der
gemiethete Karrenfuhrmann fuhr unterdessen mit ihrer Ba-
gage davon und die geschlagenen Geplünderten bekamen
nichts wieder davon zu Gesicht. Der Runner, Namens
Luke Toole, wurde ausnahmsweise von der Polizei gepackt,
summarisch processirt und auf sechs Monate in's Buß-
gefängniß auf Blackwells Jsland geschickt, obschon er einer
sogenannten politischen Partei angehörte, die alles auf-
bot zu seiner Freisprechung. Von einem sehr gut unter-
richteten und ausnahmsweise offenherzigen Korrespondenten
des Philadelphia "Sunday Mercury" wird bei Erwähnung
des Falles angemerkt: "Die Autoritäten von Blackwells
Jsland haben ein prächtiges Leben dort. Sie leben gleich
Nabobs und sind von den bestaussehenden, verurtheilten
Dienern bedient, deren sich dort immer von fünfzig bis
zweihundert befinden. Die Autoritäten sind ermächtigt,
sich ihre Bedienung auszusuchen, und so wählen sie denn
die angenehmsten dieser Frauenzimmer. Sie haben ne-
benbei die besten Weine, Liqueure, Cigarren und andere
Dinge, und das Ausgesuchteste vom Wildpretmarkt. Auch
pecuniär fällt ein Hübsches ab, und kein Beamter kann
lange da seyn, ohne reich zu werden. Und wenn jener
Toole genug Geld aufbringen kann, was zweifelsohne
der Fall ist, so braucht er nur etwas von der zuerkann-
ten Strafzeit auf Blackwells Jsland zuzubringen. Natür-
lich muß er Newyork für sechs Monate meiden, aber dann
kann er von einer Vergnügungstour durch das Land zu-
rückkehren und seine Todtschlag=Operationen an Deutschen
wieder aufnehmen, wie er sie begonnen. So geht es in
dieser erleuchteten Stadt, in diesem erleuchteten Zeitalter."
-- Damit ist jedoch keineswegs alles zur Sache Gehö-
rende angegeben; denn Toole gehört einer politischen Partei
an, die seinetwegen Ausgaben hat. Um dieselben und
so manches andere zu decken, muß die Partei auf irgend
eine Weise an's Ruder, d. h. zu Staatsämtern zu kom-
men suchen. Sie wird somit ihre Mannschaften auch in
die Emigranten = Commission bringen, wie dieß gegen-
wärtig von anderer Seite geschehen ist. Wie jetzt andere
Runner als Beamte in Castlegarden das Privilegium der
Vorplünderung Einwandernder haben, so wird Toole
vielleicht auch ein ähnliches Monopol erlangen. Dann
[Spaltenumbruch] preßt er heraus, was ihm beim jetzigen Proceß darauf
gegangen, und was er der Partei für seinen Posten zahlte;
aber es ist natürlich, daß er noch möglichst viel darüber
"macht."

Jch habe Sie vor einiger Zeit benachrichtigt, daß wir
hier im Babel am Hudson, das von den Frommen als
ein Sodom ausgeschrieen wird, eine neue Censusaufnahme
beliebt haben. Es war dieß aber nichts als ein politisches
Parteimanöver, zu dem man griff, um 158 politischen
Parteileuten unter dem Vorwande der Anstellung als
Censusmarschälle ein Stück Geld aus dem Gemeindesäckel
zuzuwerfen. Für sechswöchentliche Bummelei, -- denn wei-
ter thaten die Leute eigentlich nichts -- bekam jeder 111
Dollars und zusammen kostete der Spaß nur 17,879
Dollars, wofür wir im Besitze von Angaben sind, an die
niemand glaubt und glauben kann, weil jeder die augen-
fälligsten Nachlässigkeiten zu beobachten Gelegenheit hatte.
Bei dieser, wie bei andern Gelegenheiten kreuzigt und
segnet sich die deutsche Gewissenhaftigkeit, hinter welcher
aber leider auch wieder zu viel grobe Selbstsucht steckt,
als daß man nicht von Pharisäerthum und Splitterrich-
terei zu reden allen Grund hätte. Auch die deutsche Na-
tur erleidet hier Umänderungen, welche bei vielfachen Ge-
legenheiten zu Tage kommen. Selbst deutsche Geselligkeit
nimmt hier zu Lande eine ganz eigene Richtung. Jch
will nur der Gesang = und Turnvereine erwähnen, welche
gerade jetzt wieder ihre Feste im Freien feiern. Es wird
da kein Anstand genommen, das Publikum zu besteuern
für's eigene Vergnügen, und das ist denn doch eine Art
Prostitution, wenn die in Deutschland geltende Sittlich-
keit als Maßstab genommen wird. Die Vereine geben
Feste im Freien, oder selbst förmliche Vorstellungen in
Theatern und dergleichen für Eintrittsgeld, von welchem
dann vor allen das vertilgte und zu vertilgende Lagerbier
bestritten wird. Das zahlende Publikum kann sich stets
dabei den trockenen Mund wischen. Dabei pochen diese
Söhne Germaniens laut genug auf ihr specifisches Ger-
manenthum.

Wer den Stab über solche Erscheinungen streng bre-
chen wollte, der würde den Umständen, die uns Menschen
doch so gewaltig beherrschen, nicht genug Rechnung tra-
gen. Wo das ganze Gesellschaftstreiben mehr nach außen
gerichtet und schauspielerhaft ist, da dürfen Einzelne und
Minderheiten nicht zu hart in's Gericht genommen wer-
den. Die Kirche selbst kann oder will sich der Schau-
spielerei nicht enthalten, wofür ich jüngst von einem ge-
riebenen Yankee=Buchhändler in Nassaustreet eine schla-
gende Bestätigung erhielt. Der Mann arbeitet nur in
"liberaler" Literatur und zu ihm geht alles, was derar-
tige literarische Bedürfnisse hat. Jch traf bei ihm stets
auffallend viel Männer mit weißen Halsbinden und konnte
nicht umhin, ihm meine Verwunderung über eine solche
Kundschaft auszusprechen. Lachend sagte mir diese Auto-
rität: "Jch versichere Sie, daß fünf Achtel unserer Geist-
lichen ungläubig ( infidel ) sind, und sie gehen viel weiter
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] obschon letztere Baumgattung seither allen Extremen der
Wärme und Kälte Trotz geboten hatte. Bei der hiesigen
guten Gewohnheit, die Straßen der Städte mit schatten-
den Bäumen zu bepflanzen, ist diese Erfahrung doppelt
empfindlich. Die Natur, und im engeren Sinne unsere
Mutter Erde geht oft recht revolutionär zu Werke, ohne
alle Rücksicht auf conservative Gefühle. Das beste ist,
sich an Voltaires Spott nicht zu kehren und des großen
Leibnitz Optimismus anzunehmen. Man kommt dabei
am besten weg und voran, namentlich auch im Gesell-
schaftstreiben. — Vor einigen Wochen wurden zwei deutsche
Einwanderer, nachdem sie das Fegefeuer in Castlegarden
passirt hatten, auf offener Straße von einem irischen
Emigrantenrunner jämmerlich zerschlagen, weil sie sich
weigerten Billets zur Reise nach Jowa zu kaufen. Der
gemiethete Karrenfuhrmann fuhr unterdessen mit ihrer Ba-
gage davon und die geschlagenen Geplünderten bekamen
nichts wieder davon zu Gesicht. Der Runner, Namens
Luke Toole, wurde ausnahmsweise von der Polizei gepackt,
summarisch processirt und auf sechs Monate in's Buß-
gefängniß auf Blackwells Jsland geschickt, obschon er einer
sogenannten politischen Partei angehörte, die alles auf-
bot zu seiner Freisprechung. Von einem sehr gut unter-
richteten und ausnahmsweise offenherzigen Korrespondenten
des Philadelphia „Sunday Mercury“ wird bei Erwähnung
des Falles angemerkt: „Die Autoritäten von Blackwells
Jsland haben ein prächtiges Leben dort. Sie leben gleich
Nabobs und sind von den bestaussehenden, verurtheilten
Dienern bedient, deren sich dort immer von fünfzig bis
zweihundert befinden. Die Autoritäten sind ermächtigt,
sich ihre Bedienung auszusuchen, und so wählen sie denn
die angenehmsten dieser Frauenzimmer. Sie haben ne-
benbei die besten Weine, Liqueure, Cigarren und andere
Dinge, und das Ausgesuchteste vom Wildpretmarkt. Auch
pecuniär fällt ein Hübsches ab, und kein Beamter kann
lange da seyn, ohne reich zu werden. Und wenn jener
Toole genug Geld aufbringen kann, was zweifelsohne
der Fall ist, so braucht er nur etwas von der zuerkann-
ten Strafzeit auf Blackwells Jsland zuzubringen. Natür-
lich muß er Newyork für sechs Monate meiden, aber dann
kann er von einer Vergnügungstour durch das Land zu-
rückkehren und seine Todtschlag=Operationen an Deutschen
wieder aufnehmen, wie er sie begonnen. So geht es in
dieser erleuchteten Stadt, in diesem erleuchteten Zeitalter.“
— Damit ist jedoch keineswegs alles zur Sache Gehö-
rende angegeben; denn Toole gehört einer politischen Partei
an, die seinetwegen Ausgaben hat. Um dieselben und
so manches andere zu decken, muß die Partei auf irgend
eine Weise an's Ruder, d. h. zu Staatsämtern zu kom-
men suchen. Sie wird somit ihre Mannschaften auch in
die Emigranten = Commission bringen, wie dieß gegen-
wärtig von anderer Seite geschehen ist. Wie jetzt andere
Runner als Beamte in Castlegarden das Privilegium der
Vorplünderung Einwandernder haben, so wird Toole
vielleicht auch ein ähnliches Monopol erlangen. Dann
[Spaltenumbruch] preßt er heraus, was ihm beim jetzigen Proceß darauf
gegangen, und was er der Partei für seinen Posten zahlte;
aber es ist natürlich, daß er noch möglichst viel darüber
„macht.“

Jch habe Sie vor einiger Zeit benachrichtigt, daß wir
hier im Babel am Hudson, das von den Frommen als
ein Sodom ausgeschrieen wird, eine neue Censusaufnahme
beliebt haben. Es war dieß aber nichts als ein politisches
Parteimanöver, zu dem man griff, um 158 politischen
Parteileuten unter dem Vorwande der Anstellung als
Censusmarschälle ein Stück Geld aus dem Gemeindesäckel
zuzuwerfen. Für sechswöchentliche Bummelei, — denn wei-
ter thaten die Leute eigentlich nichts — bekam jeder 111
Dollars und zusammen kostete der Spaß nur 17,879
Dollars, wofür wir im Besitze von Angaben sind, an die
niemand glaubt und glauben kann, weil jeder die augen-
fälligsten Nachlässigkeiten zu beobachten Gelegenheit hatte.
Bei dieser, wie bei andern Gelegenheiten kreuzigt und
segnet sich die deutsche Gewissenhaftigkeit, hinter welcher
aber leider auch wieder zu viel grobe Selbstsucht steckt,
als daß man nicht von Pharisäerthum und Splitterrich-
terei zu reden allen Grund hätte. Auch die deutsche Na-
tur erleidet hier Umänderungen, welche bei vielfachen Ge-
legenheiten zu Tage kommen. Selbst deutsche Geselligkeit
nimmt hier zu Lande eine ganz eigene Richtung. Jch
will nur der Gesang = und Turnvereine erwähnen, welche
gerade jetzt wieder ihre Feste im Freien feiern. Es wird
da kein Anstand genommen, das Publikum zu besteuern
für's eigene Vergnügen, und das ist denn doch eine Art
Prostitution, wenn die in Deutschland geltende Sittlich-
keit als Maßstab genommen wird. Die Vereine geben
Feste im Freien, oder selbst förmliche Vorstellungen in
Theatern und dergleichen für Eintrittsgeld, von welchem
dann vor allen das vertilgte und zu vertilgende Lagerbier
bestritten wird. Das zahlende Publikum kann sich stets
dabei den trockenen Mund wischen. Dabei pochen diese
Söhne Germaniens laut genug auf ihr specifisches Ger-
manenthum.

Wer den Stab über solche Erscheinungen streng bre-
chen wollte, der würde den Umständen, die uns Menschen
doch so gewaltig beherrschen, nicht genug Rechnung tra-
gen. Wo das ganze Gesellschaftstreiben mehr nach außen
gerichtet und schauspielerhaft ist, da dürfen Einzelne und
Minderheiten nicht zu hart in's Gericht genommen wer-
den. Die Kirche selbst kann oder will sich der Schau-
spielerei nicht enthalten, wofür ich jüngst von einem ge-
riebenen Yankee=Buchhändler in Nassaustreet eine schla-
gende Bestätigung erhielt. Der Mann arbeitet nur in
„liberaler“ Literatur und zu ihm geht alles, was derar-
tige literarische Bedürfnisse hat. Jch traf bei ihm stets
auffallend viel Männer mit weißen Halsbinden und konnte
nicht umhin, ihm meine Verwunderung über eine solche
Kundschaft auszusprechen. Lachend sagte mir diese Auto-
rität: „Jch versichere Sie, daß fünf Achtel unserer Geist-
lichen ungläubig ( infidel ) sind, und sie gehen viel weiter
[Ende Spaltensatz]

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Es wird da kein Anstand genommen, das Publikum zu besteuern für's eigene Vergnügen, und das ist denn doch eine Art Prostitution, wenn die in Deutschland geltende Sittlich- keit als Maßstab genommen wird. Die Vereine geben Feste im Freien, oder selbst förmliche Vorstellungen in Theatern und dergleichen für Eintrittsgeld, von welchem dann vor allen das vertilgte und zu vertilgende Lagerbier bestritten wird. Das zahlende Publikum kann sich stets dabei den trockenen Mund wischen. Dabei pochen diese Söhne Germaniens laut genug auf ihr specifisches Ger- manenthum. Wer den Stab über solche Erscheinungen streng bre- chen wollte, der würde den Umständen, die uns Menschen doch so gewaltig beherrschen, nicht genug Rechnung tra- gen. Wo das ganze Gesellschaftstreiben mehr nach außen gerichtet und schauspielerhaft ist, da dürfen Einzelne und Minderheiten nicht zu hart in's Gericht genommen wer- den. Die Kirche selbst kann oder will sich der Schau- spielerei nicht enthalten, wofür ich jüngst von einem ge- riebenen Yankee=Buchhändler in Nassaustreet eine schla- gende Bestätigung erhielt. Der Mann arbeitet nur in „liberaler“ Literatur und zu ihm geht alles, was derar- tige literarische Bedürfnisse hat. Jch traf bei ihm stets auffallend viel Männer mit weißen Halsbinden und konnte nicht umhin, ihm meine Verwunderung über eine solche Kundschaft auszusprechen. Lachend sagte mir diese Auto- rität: „Jch versichere Sie, daß fünf Achtel unserer Geist- lichen ungläubig ( infidel ) sind, und sie gehen viel weiter

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 719. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/23>, abgerufen am 21.11.2024.