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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] schönen, mit seltsamen Arabesken verzierten Saale des
Erdgeschosses die Fahnen der zwölf Zünfte, von der
Zeit verbleicht und zerfetzt, von den Wänden herab.

Nirgends spricht die alte Pracht und Macht der
italienischen Städte im Mittelalter so lebhaft zu uns,
als in den fast überall noch in ihrer alten Gestalt er-
haltenen Senatspalästen, in denen sich, wie sie im
Herzen der Stadt gelegen waren, auch das ganze Leben
des kleinen Staats concentrirte. Nie sollte der Rei-
sende, der einen offenen Sinn hat für die Geschichte
des Völkerlebens, für diese gewaltige Tragödie, deren
Acte nach Jahrhunderten zählen, diesen ernsten Palä-
sten mit ihren altersgrauen Steinhallen, ihren hohen
Bogenfenstern und Balkonen, überragt von dem schlan-
ken Thurme, achtlos vorüber gehen. Auch wo keine
Halle, von Orgagnas oder Palladios Genius entworfen,
wo kein Freskogemälde Domenico Ghirlandajos oder
Pinturicchios, oder gar der großen Meister des Cinque-
cento, wo keine Marmorgebilde von Niccolo Pisano bis
Michelangiolo und Giambologna ihn anziehen, umge-
ben ihn doch die unverkennbaren Spuren vergangener
Größe und Herrlichkeit, oft auch vergangener Schrecken,
wilder Leidenschaften und barbarisch blutiger Thaten.
Wildester Parteihaß neben heroischem Patriotismus,
heldenmüthige Selbstaufopferung neben tyrannischer
Willkür -- alles erscheint dicht an einander gedrängt,
ein großes Bild in kleinem Rahmen, an die Staaten
Altgriechenlands erinnernd und von gewaltig tragischer
Wirkung, wie immer da, wo das Jnteresse des Jndivi-
duums zurücktritt hinter dem des Gemeinwesens und
wo ein jeder sich mit seinem Vaterlande identificirt, sey
dieß Vaterland ein Weltreich oder eine Stadt, deren
Grenzen der Blick vom Rathhausthurm überschaut.

Die Diligence nach San Marcello, ein für ein
italienisches Privatunternehmen hinlänglich bequemes
Fuhrwerk, war bereits ziemlich besetzt, als wir unsere
Plätze einnahmen. Der junge Bauer oder Pächter in
der Landestracht -- der schwarzen Sammtjacke und
kurzen rothen Tuchweste -- wollte, wie er uns später
erzählte, mit seiner ihm erst vor Jahresfrist ange-
trauten Frau den ersten Besuch bei den Verwandten
derselben machen, die hoch oben im Gebirg unweit
der modenesischen Grenze wohnten. Die junge Frau
hatte eine so schlanke Gestalt und ein so zartes,
liebliches Gesichtchen, wie man es bei den Bewoh-
nerinnen der Hochthäler des Apennins nur in sel-
tenen Ausnahmsfällen antrifft. Mit dem Säugling im
Arm, dem sie auf das Ungenirteste ihre Brust reichte
und auf dem ihr Auge unablässig mit dem Ausdruck
der zärtlichsten Mutterliebe ruhte, lag etwas ungemein
Anziehendes, fast Madonnenhaftes in ihrer Erscheinung,
[Spaltenumbruch] dem das sanfte, wohlklingende Organ, wie es bei den
italienischen Frauen so selten, und der reine und edle
Dialekt, um dessenwillen die pistojesischen Berge in ganz
Jtalien berühmt sind, keinen Eintrag thaten. Auch
konnte ihr Gatte einen passenden Joseph abgeben, bis
auf die Doppelflinte, die, ein selten fehlendes Attribut
des toscanischen Bauern, zwischen seinen Knieen ruhte.
Die jünge Frau erzählte uns viel von ihrem Jugend-
leben in den Bergen, von dem rauhen Klima, mit dem
sie dort oben zu kämpfen gehabt, und den rohen Men-
schen, den Schmugglern und Räubern, mit denen sie
die Grenze und das Hochgebirg in unvermeidliche Be-
rührung gebracht. Aber trotz dieses rauhen Lebens
und dieser wilden Nachbarschaft, lag in allem, was
sie sagte, eine angeborene Anmuth und ein natür-
lich feiner Takt, Eigenschaften, in denen kein anderer
Stamm Jtaliens, ja vielleicht Europas mit den Tos-
canern wetteifern kann.

Die Straße führte Anfangs das Thal des Om-
brone aufwärts durch eine lange, wohlbevölkerte Vor-
stadt, dem Garten P.....i vorüber, den Bergen zu.
Es ist die neue Chaussee, die, wie alle Straßen Tos-
canas, trefflich unterhalten, sich später theilt, um rechts
über die Porretta nach Bologna, links über San Mar-
cello und den Paß des Abetone nach Modena zu füh-
ren. Jn Schlangenwindungen aufwärts steigend, zieht
sie sich anfangs durch angebautes Land, durch Wein-
und Olivengehege, bis wir weiter oben den lichten
Wald dickstämmiger Kastanien erreichen, der sich wie
ein breiter Gürtel in etwa 1000 -- 2500 Fuß Mee-
reshöhe längs der Berghänge hinzieht. Berge und
Schluchten haben hier ein weit frischeres, grüneres
Aussehen und sind ungleich mehr mit Flecken, Dörfern
und vereinzelten Wohnungen besetzt, als in den östlichen
Gebirgen Toscanas, dessen vorherrschender Charakter
wilde, starrende Oede ist, nur selten von freundlichen
grünen Thälern gleich Oasen in der Wüste unterbrochen.
Unser dritter Reisegefährte, ein bei der eben stattfin-
denden Vermessung dieser Landestheile beschäftigter Jn-
genieur aus San Marcello erklärte diese Erscheinung
aus dem Reichthum der westlichen Kalk= und der Ar-
muth der östlichen Sandstein= und Grauwackengebirge
an nie versiegenden Quellen. Aber sollte nicht die Dürre
und Sterilität der östlichen Gebirge vielmehr umgekehrt
eine Folge der fast vollständigen Entholzung derselben
seyn?

Nachdem wir uns in einer schmutzstarrenden Spe-
lunke von Gebirgsschenke mit fast ungenießbarem Schinken
und desto besserem Weine restaurirt hatten, erreichten
wir nach dritthalbstündiger Steigung in etwa 3000 Fuß
Höhe die Wasserscheide zwischen dem adriatischen und
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] schönen, mit seltsamen Arabesken verzierten Saale des
Erdgeschosses die Fahnen der zwölf Zünfte, von der
Zeit verbleicht und zerfetzt, von den Wänden herab.

Nirgends spricht die alte Pracht und Macht der
italienischen Städte im Mittelalter so lebhaft zu uns,
als in den fast überall noch in ihrer alten Gestalt er-
haltenen Senatspalästen, in denen sich, wie sie im
Herzen der Stadt gelegen waren, auch das ganze Leben
des kleinen Staats concentrirte. Nie sollte der Rei-
sende, der einen offenen Sinn hat für die Geschichte
des Völkerlebens, für diese gewaltige Tragödie, deren
Acte nach Jahrhunderten zählen, diesen ernsten Palä-
sten mit ihren altersgrauen Steinhallen, ihren hohen
Bogenfenstern und Balkonen, überragt von dem schlan-
ken Thurme, achtlos vorüber gehen. Auch wo keine
Halle, von Orgagnas oder Palladios Genius entworfen,
wo kein Freskogemälde Domenico Ghirlandajos oder
Pinturicchios, oder gar der großen Meister des Cinque-
cento, wo keine Marmorgebilde von Niccolo Pisano bis
Michelangiolo und Giambologna ihn anziehen, umge-
ben ihn doch die unverkennbaren Spuren vergangener
Größe und Herrlichkeit, oft auch vergangener Schrecken,
wilder Leidenschaften und barbarisch blutiger Thaten.
Wildester Parteihaß neben heroischem Patriotismus,
heldenmüthige Selbstaufopferung neben tyrannischer
Willkür — alles erscheint dicht an einander gedrängt,
ein großes Bild in kleinem Rahmen, an die Staaten
Altgriechenlands erinnernd und von gewaltig tragischer
Wirkung, wie immer da, wo das Jnteresse des Jndivi-
duums zurücktritt hinter dem des Gemeinwesens und
wo ein jeder sich mit seinem Vaterlande identificirt, sey
dieß Vaterland ein Weltreich oder eine Stadt, deren
Grenzen der Blick vom Rathhausthurm überschaut.

Die Diligence nach San Marcello, ein für ein
italienisches Privatunternehmen hinlänglich bequemes
Fuhrwerk, war bereits ziemlich besetzt, als wir unsere
Plätze einnahmen. Der junge Bauer oder Pächter in
der Landestracht — der schwarzen Sammtjacke und
kurzen rothen Tuchweste — wollte, wie er uns später
erzählte, mit seiner ihm erst vor Jahresfrist ange-
trauten Frau den ersten Besuch bei den Verwandten
derselben machen, die hoch oben im Gebirg unweit
der modenesischen Grenze wohnten. Die junge Frau
hatte eine so schlanke Gestalt und ein so zartes,
liebliches Gesichtchen, wie man es bei den Bewoh-
nerinnen der Hochthäler des Apennins nur in sel-
tenen Ausnahmsfällen antrifft. Mit dem Säugling im
Arm, dem sie auf das Ungenirteste ihre Brust reichte
und auf dem ihr Auge unablässig mit dem Ausdruck
der zärtlichsten Mutterliebe ruhte, lag etwas ungemein
Anziehendes, fast Madonnenhaftes in ihrer Erscheinung,
[Spaltenumbruch] dem das sanfte, wohlklingende Organ, wie es bei den
italienischen Frauen so selten, und der reine und edle
Dialekt, um dessenwillen die pistojesischen Berge in ganz
Jtalien berühmt sind, keinen Eintrag thaten. Auch
konnte ihr Gatte einen passenden Joseph abgeben, bis
auf die Doppelflinte, die, ein selten fehlendes Attribut
des toscanischen Bauern, zwischen seinen Knieen ruhte.
Die jünge Frau erzählte uns viel von ihrem Jugend-
leben in den Bergen, von dem rauhen Klima, mit dem
sie dort oben zu kämpfen gehabt, und den rohen Men-
schen, den Schmugglern und Räubern, mit denen sie
die Grenze und das Hochgebirg in unvermeidliche Be-
rührung gebracht. Aber trotz dieses rauhen Lebens
und dieser wilden Nachbarschaft, lag in allem, was
sie sagte, eine angeborene Anmuth und ein natür-
lich feiner Takt, Eigenschaften, in denen kein anderer
Stamm Jtaliens, ja vielleicht Europas mit den Tos-
canern wetteifern kann.

Die Straße führte Anfangs das Thal des Om-
brone aufwärts durch eine lange, wohlbevölkerte Vor-
stadt, dem Garten P.....i vorüber, den Bergen zu.
Es ist die neue Chaussee, die, wie alle Straßen Tos-
canas, trefflich unterhalten, sich später theilt, um rechts
über die Porretta nach Bologna, links über San Mar-
cello und den Paß des Abetone nach Modena zu füh-
ren. Jn Schlangenwindungen aufwärts steigend, zieht
sie sich anfangs durch angebautes Land, durch Wein-
und Olivengehege, bis wir weiter oben den lichten
Wald dickstämmiger Kastanien erreichen, der sich wie
ein breiter Gürtel in etwa 1000 — 2500 Fuß Mee-
reshöhe längs der Berghänge hinzieht. Berge und
Schluchten haben hier ein weit frischeres, grüneres
Aussehen und sind ungleich mehr mit Flecken, Dörfern
und vereinzelten Wohnungen besetzt, als in den östlichen
Gebirgen Toscanas, dessen vorherrschender Charakter
wilde, starrende Oede ist, nur selten von freundlichen
grünen Thälern gleich Oasen in der Wüste unterbrochen.
Unser dritter Reisegefährte, ein bei der eben stattfin-
denden Vermessung dieser Landestheile beschäftigter Jn-
genieur aus San Marcello erklärte diese Erscheinung
aus dem Reichthum der westlichen Kalk= und der Ar-
muth der östlichen Sandstein= und Grauwackengebirge
an nie versiegenden Quellen. Aber sollte nicht die Dürre
und Sterilität der östlichen Gebirge vielmehr umgekehrt
eine Folge der fast vollständigen Entholzung derselben
seyn?

Nachdem wir uns in einer schmutzstarrenden Spe-
lunke von Gebirgsschenke mit fast ungenießbarem Schinken
und desto besserem Weine restaurirt hatten, erreichten
wir nach dritthalbstündiger Steigung in etwa 3000 Fuß
Höhe die Wasserscheide zwischen dem adriatischen und
[Ende Spaltensatz]

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Auch wo keine Halle, von Orgagnas oder Palladios Genius entworfen, wo kein Freskogemälde Domenico Ghirlandajos oder Pinturicchios, oder gar der großen Meister des Cinque- cento, wo keine Marmorgebilde von Niccolo Pisano bis Michelangiolo und Giambologna ihn anziehen, umge- ben ihn doch die unverkennbaren Spuren vergangener Größe und Herrlichkeit, oft auch vergangener Schrecken, wilder Leidenschaften und barbarisch blutiger Thaten. Wildester Parteihaß neben heroischem Patriotismus, heldenmüthige Selbstaufopferung neben tyrannischer Willkür — alles erscheint dicht an einander gedrängt, ein großes Bild in kleinem Rahmen, an die Staaten Altgriechenlands erinnernd und von gewaltig tragischer Wirkung, wie immer da, wo das Jnteresse des Jndivi- duums zurücktritt hinter dem des Gemeinwesens und wo ein jeder sich mit seinem Vaterlande identificirt, sey dieß Vaterland ein Weltreich oder eine Stadt, deren Grenzen der Blick vom Rathhausthurm überschaut. Die Diligence nach San Marcello, ein für ein italienisches Privatunternehmen hinlänglich bequemes Fuhrwerk, war bereits ziemlich besetzt, als wir unsere Plätze einnahmen. Der junge Bauer oder Pächter in der Landestracht — der schwarzen Sammtjacke und kurzen rothen Tuchweste — wollte, wie er uns später erzählte, mit seiner ihm erst vor Jahresfrist ange- trauten Frau den ersten Besuch bei den Verwandten derselben machen, die hoch oben im Gebirg unweit der modenesischen Grenze wohnten. Die junge Frau hatte eine so schlanke Gestalt und ein so zartes, liebliches Gesichtchen, wie man es bei den Bewoh- nerinnen der Hochthäler des Apennins nur in sel- tenen Ausnahmsfällen antrifft. 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Berge und Schluchten haben hier ein weit frischeres, grüneres Aussehen und sind ungleich mehr mit Flecken, Dörfern und vereinzelten Wohnungen besetzt, als in den östlichen Gebirgen Toscanas, dessen vorherrschender Charakter wilde, starrende Oede ist, nur selten von freundlichen grünen Thälern gleich Oasen in der Wüste unterbrochen. Unser dritter Reisegefährte, ein bei der eben stattfin- denden Vermessung dieser Landestheile beschäftigter Jn- genieur aus San Marcello erklärte diese Erscheinung aus dem Reichthum der westlichen Kalk= und der Ar- muth der östlichen Sandstein= und Grauwackengebirge an nie versiegenden Quellen. Aber sollte nicht die Dürre und Sterilität der östlichen Gebirge vielmehr umgekehrt eine Folge der fast vollständigen Entholzung derselben seyn? 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 706. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/10>, abgerufen am 21.11.2024.