Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] Bohnen, Zwiebeln krank in ihren Beeten neben einander
lagen.

Des Menschen Herz muß ein leichtsinnig Ding seyn,
daß es unter solchen Umständen noch immer lachen, lieben,
Zeitungen lesen, Domino spielen, in Aktien spekuliren
und ähnliche Allotria treiben konnte. Man denke sich den
durchaus nicht unmöglichen Fall, daß einmal über Nacht
sämmtliche Getreidefelder schwarz geworden wären, und
zwar in derselben geographischen Ausbreitung, in welcher
die Kartoffelseuche herrschte, -- was dann? -- Womit
würden dann die paar hundert Millionen hungriger Mä-
gen beschwichtigt worden seyn, welche jeden Morgen die
Hände nach ihrem täglichen Brode ausstrecken? Hätten sich
die Menschen nicht in ebenso viele reißende Tiger verwandelt,
von denen der stärkere den schwächeren aufgefressen? --
Schwindelt einem nicht bei dem Gedanken, daß das ganze,
in mehr denn tausend Jahren mühselig Stein um Stein
aufgerichtete Gebäude unserer Civilisation, die Existenz
mehr denn eines Dutzends von Nationen, davon abhängt,
ob ein mikroskopischer Pilz sich im Zellgewebe der Pflan-
zenfamilie der Gramineen ebenso einnistet, wie er sich im
Zellgewebe des solanum tuberosum eingenistet hat!

Glücklicherweise hat es nun aber geerdbebt, der Krank-
heitsstoff, der unserem runzlichten Mütterchen Erde im
Leibe steckte, hat sich Luft gemacht, die Kartoffeln sind
wieder gerathen und der mikroskopische Pilz, der in den
Solaneen steckte, wird, so Gott will, nicht in unsere Korn-
äcker hinübersiedeln. Unsere Civilisation und unsere Haut
sind für einmal wieder gerettet.

Nachträglich und ergänzend muß ich noch von einigen
abweichenden Erklärungsarten der herrschenden Pflanzen-
epidemien Kenntniß geben. Von einem fanatischen An-
hänger des Feuersteins und Stahls wurde die Landplage
den Streichzündhölzchen in die Schuhe geschüttet und in
einer besondern Broschüre sehr scharfsinnig auseinander
gesetzt, daß durch den massenhaften Gebrauch jenes ge-
fährlichen Feuerzeugs die Atmosphäre dermaßen mit schäd-
lichen Stoffen geschwängert werde, daß die zarte Consti-
tution einer Kartoffelstaude unmöglich dabei bestehen könne.
Consequenterweise wurden unsere eidgenössischen Behörden
aufgefordert, den Gebrauch der Streichzündhölzchen von
Bundeswegen zu verbieten und dafür zu sorgen, daß künf-
tig auf Schweizerboden die Cigarre oder die Pfeife nicht
anders als nach alter Vätersitte angezündet werde, näm-
lich mittelst eines Stücks Schwamm. Aber das Streich-
feuerzeug ist eine Macht geworden, und ich möchte sehen,
ob Kaiser Napoleon mit sammt seinen Staatsstreichen im
Stande wäre, das Streichhölzchen aus Frankreich zu ver-
bannen. Wie viel weniger vermöchte unser republikani-
scher Bundesrath etwas gegen diesen Zündstoff auszurichten!
weßhalb die scharfsinnige Broschüre einfach zu den Akten
gelegt wurden. -- Ein anderer schrieb das Mißrathen der
zu unserer physischen und bürgerlichen Existenz nothwendi-
gen Knollenfrucht den Eisenbahnen und Telegraphendrähten
zu. Das Gleichgewicht des elektrisch magnetischen Fluidums
[Spaltenumbruch] in der Luft und im Boden erleide dadurch wesentliche
Störungen, welche nachtheilig auf die Vegetation wir-
ken müßten. Dabei bedachte dieser Herr dreierlei nicht
nämlich erstens, daß wir in der Schweiz schon Anno fünf-
undvierzig von der Kartoffelseuche heimgesucht wurden, wo,
die Eisenbahnen bei uns noch nirgends als in den Zeitun-
gen und in den Köpfen der Spekulanten spukten, aber
noch keine einzige Schiene gelegt war, und wo die elektro-
magnetische Post, welche sich nun von Pfahl zu
Pfahl durch alle unsere Gauen zieht, erst noch durch
den Sonderbundskrieg und die neue Bundesverfassung vor-
bereitet werden mußte. Zweitens bedachte er nicht,
daß viel kräftigere elektrische Leiter als Schienen und
Drähte schon seit Jahrtausenden unser und andere
Länder mit einem Netz überziehen, keineswegs zum Nach-
theil, sondern zum größten Nutzen des Pflanzenreichs,
nämlich unsere Flüsse und Bäche. Drittens bedachte er
nicht, daß seine veröffentliche Theorie nicht weniger als
ein offener Aufruf an die Massen sey, mit Knitteln und
Stecken über die Eisenbahnbauer herzufallen, die Dämme
zu zerstören und die Telegraphenstangen aus der Erde zu
reißen. Von all diesem geschah freilich nichts, woraus
wir entweder auf den "gesunden Sinn" unseres Volks
schließen dürfen, oder aber zu dem für einen Schreiber sehr
beschämenden und entmuthigenden Schlusse kommen, daß
Geschriebenes und Gedrucktes blutwenig auf die Massen
wirkt.

Sie wissen, daß nebst vielen andern hohen und höch-
sten Herrschaften auch jene mächtigste und gefürchtetste
Rani des Orients unser Schweizerländchen diesen Sommer
mit ihrem Besuche beehrt hat, die Cholera. Manchen
kam der hohe Besuch unerwartet, welche sich auf die Ver-
sicherungen des weiland berühmten Freischaarenhäuptlings
und nicht minder liebenswürdigen als beliebten Arztes
Dr. Jakob Robert Steiger verlassen hatten, der mit den
einleuchtendsten Gründen bewies, eine orientalische Despotin,
wie die Cholera, würde es in der reinen, freien Schweizer-
luft gar nicht aushalten können. Despoten kümmern sich
aber bekanntlich blutwenig um Gründe; die Cholera kam
trotz der freien Schweizerluft, und zwar nicht incognito,
sondern als Herrscherin, ihren Tribut zu fordern.

Die Seuche bracht zuerst in der Stadt Basel aus, wo
unter einer Bevölkerung von beinahe 30,000 Seelen 399
Erkrankungen vorkamen, von denen 205 den Tod zur
Folge hatten. Wenn ich recht berichtet bin, so zählte
man während der letzten Choleraepidemie in Augsburg,
dessen Bevölkerung derjenigen Basels ungefähr gleichkommt,
3600 Erkrankungs = und 1200 Todesfälle. Es läßt sich
aus diesen Zahlen ersehen, daß der Basler Todtentanz
des fünfundfünfziger Jahres noch gnädig genug ablief.
Jch könnte viel Rühmliches davon erzählen, wie Basels
Bürgersinn jener öffentlichen Calamität entgegen trat. Es
bildete sich ein Choleraausschuß, dessen Mitglieder mit
größter persönlicher Aufopferung die Seuche in ihren ge-
heimsten Schlupfwinkeln verfolgten, gesunde und kranke
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Bohnen, Zwiebeln krank in ihren Beeten neben einander
lagen.

Des Menschen Herz muß ein leichtsinnig Ding seyn,
daß es unter solchen Umständen noch immer lachen, lieben,
Zeitungen lesen, Domino spielen, in Aktien spekuliren
und ähnliche Allotria treiben konnte. Man denke sich den
durchaus nicht unmöglichen Fall, daß einmal über Nacht
sämmtliche Getreidefelder schwarz geworden wären, und
zwar in derselben geographischen Ausbreitung, in welcher
die Kartoffelseuche herrschte, — was dann? — Womit
würden dann die paar hundert Millionen hungriger Mä-
gen beschwichtigt worden seyn, welche jeden Morgen die
Hände nach ihrem täglichen Brode ausstrecken? Hätten sich
die Menschen nicht in ebenso viele reißende Tiger verwandelt,
von denen der stärkere den schwächeren aufgefressen? —
Schwindelt einem nicht bei dem Gedanken, daß das ganze,
in mehr denn tausend Jahren mühselig Stein um Stein
aufgerichtete Gebäude unserer Civilisation, die Existenz
mehr denn eines Dutzends von Nationen, davon abhängt,
ob ein mikroskopischer Pilz sich im Zellgewebe der Pflan-
zenfamilie der Gramineen ebenso einnistet, wie er sich im
Zellgewebe des solanum tuberosum eingenistet hat!

Glücklicherweise hat es nun aber geerdbebt, der Krank-
heitsstoff, der unserem runzlichten Mütterchen Erde im
Leibe steckte, hat sich Luft gemacht, die Kartoffeln sind
wieder gerathen und der mikroskopische Pilz, der in den
Solaneen steckte, wird, so Gott will, nicht in unsere Korn-
äcker hinübersiedeln. Unsere Civilisation und unsere Haut
sind für einmal wieder gerettet.

Nachträglich und ergänzend muß ich noch von einigen
abweichenden Erklärungsarten der herrschenden Pflanzen-
epidemien Kenntniß geben. Von einem fanatischen An-
hänger des Feuersteins und Stahls wurde die Landplage
den Streichzündhölzchen in die Schuhe geschüttet und in
einer besondern Broschüre sehr scharfsinnig auseinander
gesetzt, daß durch den massenhaften Gebrauch jenes ge-
fährlichen Feuerzeugs die Atmosphäre dermaßen mit schäd-
lichen Stoffen geschwängert werde, daß die zarte Consti-
tution einer Kartoffelstaude unmöglich dabei bestehen könne.
Consequenterweise wurden unsere eidgenössischen Behörden
aufgefordert, den Gebrauch der Streichzündhölzchen von
Bundeswegen zu verbieten und dafür zu sorgen, daß künf-
tig auf Schweizerboden die Cigarre oder die Pfeife nicht
anders als nach alter Vätersitte angezündet werde, näm-
lich mittelst eines Stücks Schwamm. Aber das Streich-
feuerzeug ist eine Macht geworden, und ich möchte sehen,
ob Kaiser Napoleon mit sammt seinen Staatsstreichen im
Stande wäre, das Streichhölzchen aus Frankreich zu ver-
bannen. Wie viel weniger vermöchte unser republikani-
scher Bundesrath etwas gegen diesen Zündstoff auszurichten!
weßhalb die scharfsinnige Broschüre einfach zu den Akten
gelegt wurden. — Ein anderer schrieb das Mißrathen der
zu unserer physischen und bürgerlichen Existenz nothwendi-
gen Knollenfrucht den Eisenbahnen und Telegraphendrähten
zu. Das Gleichgewicht des elektrisch magnetischen Fluidums
[Spaltenumbruch] in der Luft und im Boden erleide dadurch wesentliche
Störungen, welche nachtheilig auf die Vegetation wir-
ken müßten. Dabei bedachte dieser Herr dreierlei nicht
nämlich erstens, daß wir in der Schweiz schon Anno fünf-
undvierzig von der Kartoffelseuche heimgesucht wurden, wo,
die Eisenbahnen bei uns noch nirgends als in den Zeitun-
gen und in den Köpfen der Spekulanten spukten, aber
noch keine einzige Schiene gelegt war, und wo die elektro-
magnetische Post, welche sich nun von Pfahl zu
Pfahl durch alle unsere Gauen zieht, erst noch durch
den Sonderbundskrieg und die neue Bundesverfassung vor-
bereitet werden mußte. Zweitens bedachte er nicht,
daß viel kräftigere elektrische Leiter als Schienen und
Drähte schon seit Jahrtausenden unser und andere
Länder mit einem Netz überziehen, keineswegs zum Nach-
theil, sondern zum größten Nutzen des Pflanzenreichs,
nämlich unsere Flüsse und Bäche. Drittens bedachte er
nicht, daß seine veröffentliche Theorie nicht weniger als
ein offener Aufruf an die Massen sey, mit Knitteln und
Stecken über die Eisenbahnbauer herzufallen, die Dämme
zu zerstören und die Telegraphenstangen aus der Erde zu
reißen. Von all diesem geschah freilich nichts, woraus
wir entweder auf den „gesunden Sinn“ unseres Volks
schließen dürfen, oder aber zu dem für einen Schreiber sehr
beschämenden und entmuthigenden Schlusse kommen, daß
Geschriebenes und Gedrucktes blutwenig auf die Massen
wirkt.

Sie wissen, daß nebst vielen andern hohen und höch-
sten Herrschaften auch jene mächtigste und gefürchtetste
Rani des Orients unser Schweizerländchen diesen Sommer
mit ihrem Besuche beehrt hat, die Cholera. Manchen
kam der hohe Besuch unerwartet, welche sich auf die Ver-
sicherungen des weiland berühmten Freischaarenhäuptlings
und nicht minder liebenswürdigen als beliebten Arztes
Dr. Jakob Robert Steiger verlassen hatten, der mit den
einleuchtendsten Gründen bewies, eine orientalische Despotin,
wie die Cholera, würde es in der reinen, freien Schweizer-
luft gar nicht aushalten können. Despoten kümmern sich
aber bekanntlich blutwenig um Gründe; die Cholera kam
trotz der freien Schweizerluft, und zwar nicht incognito,
sondern als Herrscherin, ihren Tribut zu fordern.

Die Seuche bracht zuerst in der Stadt Basel aus, wo
unter einer Bevölkerung von beinahe 30,000 Seelen 399
Erkrankungen vorkamen, von denen 205 den Tod zur
Folge hatten. Wenn ich recht berichtet bin, so zählte
man während der letzten Choleraepidemie in Augsburg,
dessen Bevölkerung derjenigen Basels ungefähr gleichkommt,
3600 Erkrankungs = und 1200 Todesfälle. Es läßt sich
aus diesen Zahlen ersehen, daß der Basler Todtentanz
des fünfundfünfziger Jahres noch gnädig genug ablief.
Jch könnte viel Rühmliches davon erzählen, wie Basels
Bürgersinn jener öffentlichen Calamität entgegen trat. Es
bildete sich ein Choleraausschuß, dessen Mitglieder mit
größter persönlicher Aufopferung die Seuche in ihren ge-
heimsten Schlupfwinkeln verfolgten, gesunde und kranke
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="jArticle" n="2">
          <p><pb facs="#f0020" n="140"/><fw type="pageNum" place="top">140</fw><cb type="start"/>
Bohnen, Zwiebeln krank in ihren Beeten neben einander<lb/>
lagen.   </p><lb/>
          <p>Des Menschen Herz muß ein leichtsinnig Ding seyn,<lb/>
daß es unter solchen Umständen noch immer lachen, lieben,<lb/>
Zeitungen lesen, Domino spielen, in Aktien spekuliren<lb/>
und ähnliche Allotria treiben konnte. Man denke sich den<lb/>
durchaus nicht unmöglichen Fall, daß einmal über Nacht<lb/>
sämmtliche Getreidefelder schwarz geworden wären, und<lb/>
zwar in derselben geographischen Ausbreitung, in welcher<lb/>
die Kartoffelseuche herrschte, &#x2014; was dann? &#x2014; Womit<lb/>
würden dann die paar hundert Millionen hungriger Mä-<lb/>
gen beschwichtigt worden seyn, welche jeden Morgen die<lb/>
Hände nach ihrem täglichen Brode ausstrecken? Hätten sich<lb/>
die Menschen nicht in ebenso viele reißende Tiger verwandelt,<lb/>
von denen der stärkere den schwächeren aufgefressen? &#x2014;<lb/>
Schwindelt einem nicht bei dem Gedanken, daß das ganze,<lb/>
in mehr denn tausend Jahren mühselig Stein um Stein<lb/>
aufgerichtete Gebäude unserer Civilisation, die Existenz<lb/>
mehr denn eines Dutzends von Nationen, davon abhängt,<lb/>
ob ein mikroskopischer Pilz sich im Zellgewebe der Pflan-<lb/>
zenfamilie der Gramineen ebenso einnistet, wie er sich im<lb/>
Zellgewebe des <hi rendition="#aq">solanum tuberosum</hi> eingenistet hat!   </p><lb/>
          <p>Glücklicherweise hat es nun aber geerdbebt, der Krank-<lb/>
heitsstoff, der unserem runzlichten Mütterchen Erde im<lb/>
Leibe steckte, hat sich Luft gemacht, die Kartoffeln sind<lb/>
wieder gerathen und der mikroskopische Pilz, der in den<lb/>
Solaneen steckte, wird, so Gott will, nicht in unsere Korn-<lb/>
äcker hinübersiedeln. Unsere Civilisation und unsere Haut<lb/>
sind für einmal wieder gerettet.   </p><lb/>
          <p>Nachträglich und ergänzend muß ich noch von einigen<lb/>
abweichenden Erklärungsarten der herrschenden Pflanzen-<lb/>
epidemien Kenntniß geben. Von einem fanatischen An-<lb/>
hänger des Feuersteins und Stahls wurde die Landplage<lb/>
den Streichzündhölzchen in die Schuhe geschüttet und in<lb/>
einer besondern Broschüre sehr scharfsinnig auseinander<lb/>
gesetzt, daß durch den massenhaften Gebrauch jenes ge-<lb/>
fährlichen Feuerzeugs die Atmosphäre dermaßen mit schäd-<lb/>
lichen Stoffen geschwängert werde, daß die zarte Consti-<lb/>
tution einer Kartoffelstaude unmöglich dabei bestehen könne.<lb/>
Consequenterweise wurden unsere eidgenössischen Behörden<lb/>
aufgefordert, den Gebrauch der Streichzündhölzchen von<lb/>
Bundeswegen zu verbieten und dafür zu sorgen, daß künf-<lb/>
tig auf Schweizerboden die Cigarre oder die Pfeife nicht<lb/>
anders als nach alter Vätersitte angezündet werde, näm-<lb/>
lich mittelst eines Stücks Schwamm. Aber das Streich-<lb/>
feuerzeug ist eine Macht geworden, und ich möchte sehen,<lb/>
ob Kaiser Napoleon mit sammt seinen Staatsstreichen im<lb/>
Stande wäre, das Streichhölzchen aus Frankreich zu ver-<lb/>
bannen. Wie viel weniger vermöchte unser republikani-<lb/>
scher Bundesrath etwas gegen diesen Zündstoff auszurichten!<lb/>
weßhalb die scharfsinnige Broschüre einfach zu den Akten<lb/>
gelegt wurden. &#x2014; Ein anderer schrieb das Mißrathen der<lb/>
zu unserer physischen und bürgerlichen Existenz nothwendi-<lb/>
gen Knollenfrucht den Eisenbahnen und Telegraphendrähten<lb/>
zu. Das Gleichgewicht des elektrisch magnetischen Fluidums<lb/><cb n="2"/>
in der Luft und im Boden erleide dadurch wesentliche<lb/>
Störungen, welche nachtheilig auf die Vegetation wir-<lb/>
ken müßten. Dabei bedachte dieser Herr dreierlei nicht<lb/>
nämlich erstens, daß wir in der Schweiz schon Anno fünf-<lb/>
undvierzig von der Kartoffelseuche heimgesucht wurden, wo,<lb/>
die Eisenbahnen bei uns noch nirgends als in den Zeitun-<lb/>
gen und in den Köpfen der Spekulanten spukten, aber<lb/>
noch keine einzige Schiene gelegt war, und wo die elektro-<lb/>
magnetische Post, welche sich nun von Pfahl zu<lb/>
Pfahl durch alle unsere Gauen zieht, erst noch durch<lb/>
den Sonderbundskrieg und die neue Bundesverfassung vor-<lb/>
bereitet werden mußte. Zweitens bedachte er nicht,<lb/>
daß viel kräftigere elektrische Leiter als Schienen und<lb/>
Drähte schon seit Jahrtausenden unser und andere<lb/>
Länder mit einem Netz überziehen, keineswegs zum Nach-<lb/>
theil, sondern zum größten Nutzen des Pflanzenreichs,<lb/>
nämlich unsere Flüsse und Bäche. Drittens bedachte er<lb/>
nicht, daß seine veröffentliche Theorie nicht weniger als<lb/>
ein offener Aufruf an die Massen sey, mit Knitteln und<lb/>
Stecken über die Eisenbahnbauer herzufallen, die Dämme<lb/>
zu zerstören und die Telegraphenstangen aus der Erde zu<lb/>
reißen. Von all diesem geschah freilich nichts, woraus<lb/>
wir entweder auf den &#x201E;gesunden Sinn&#x201C; unseres Volks<lb/>
schließen dürfen, oder aber zu dem für einen Schreiber sehr<lb/>
beschämenden und entmuthigenden Schlusse kommen, daß<lb/>
Geschriebenes und Gedrucktes blutwenig auf die Massen<lb/>
wirkt.   </p><lb/>
          <p>Sie wissen, daß nebst vielen andern hohen und höch-<lb/>
sten Herrschaften auch jene mächtigste und gefürchtetste<lb/>
Rani des Orients unser Schweizerländchen diesen Sommer<lb/>
mit ihrem Besuche beehrt hat, die Cholera. Manchen<lb/>
kam der hohe Besuch unerwartet, welche sich auf die Ver-<lb/>
sicherungen des weiland berühmten Freischaarenhäuptlings<lb/>
und nicht minder liebenswürdigen als beliebten Arztes<lb/><hi rendition="#aq">Dr</hi>. Jakob Robert Steiger verlassen hatten, der mit den<lb/>
einleuchtendsten Gründen bewies, eine orientalische Despotin,<lb/>
wie die Cholera, würde es in der reinen, freien Schweizer-<lb/>
luft gar nicht aushalten können. Despoten kümmern sich<lb/>
aber bekanntlich blutwenig um Gründe; die Cholera kam<lb/>
trotz der freien Schweizerluft, und zwar nicht incognito,<lb/>
sondern als Herrscherin, ihren Tribut zu fordern. </p><lb/>
          <p>Die Seuche bracht zuerst in der Stadt Basel aus, wo<lb/>
unter einer Bevölkerung von beinahe 30,000 Seelen 399<lb/>
Erkrankungen vorkamen, von denen 205 den Tod zur<lb/>
Folge hatten. Wenn ich recht berichtet bin, so zählte<lb/>
man während der letzten Choleraepidemie in Augsburg,<lb/>
dessen Bevölkerung derjenigen Basels ungefähr gleichkommt,<lb/>
3600 Erkrankungs = und 1200 Todesfälle. Es läßt sich<lb/>
aus diesen Zahlen ersehen, daß der Basler Todtentanz<lb/>
des fünfundfünfziger Jahres noch gnädig genug ablief.<lb/>
Jch könnte viel Rühmliches davon erzählen, wie Basels<lb/>
Bürgersinn jener öffentlichen Calamität entgegen trat. Es<lb/>
bildete sich ein Choleraausschuß, dessen Mitglieder mit<lb/>
größter persönlicher Aufopferung die Seuche in ihren ge-<lb/>
heimsten Schlupfwinkeln verfolgten, gesunde und kranke<lb/><cb type="end"/>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0020] 140 Bohnen, Zwiebeln krank in ihren Beeten neben einander lagen. Des Menschen Herz muß ein leichtsinnig Ding seyn, daß es unter solchen Umständen noch immer lachen, lieben, Zeitungen lesen, Domino spielen, in Aktien spekuliren und ähnliche Allotria treiben konnte. Man denke sich den durchaus nicht unmöglichen Fall, daß einmal über Nacht sämmtliche Getreidefelder schwarz geworden wären, und zwar in derselben geographischen Ausbreitung, in welcher die Kartoffelseuche herrschte, — was dann? — Womit würden dann die paar hundert Millionen hungriger Mä- gen beschwichtigt worden seyn, welche jeden Morgen die Hände nach ihrem täglichen Brode ausstrecken? Hätten sich die Menschen nicht in ebenso viele reißende Tiger verwandelt, von denen der stärkere den schwächeren aufgefressen? — Schwindelt einem nicht bei dem Gedanken, daß das ganze, in mehr denn tausend Jahren mühselig Stein um Stein aufgerichtete Gebäude unserer Civilisation, die Existenz mehr denn eines Dutzends von Nationen, davon abhängt, ob ein mikroskopischer Pilz sich im Zellgewebe der Pflan- zenfamilie der Gramineen ebenso einnistet, wie er sich im Zellgewebe des solanum tuberosum eingenistet hat! Glücklicherweise hat es nun aber geerdbebt, der Krank- heitsstoff, der unserem runzlichten Mütterchen Erde im Leibe steckte, hat sich Luft gemacht, die Kartoffeln sind wieder gerathen und der mikroskopische Pilz, der in den Solaneen steckte, wird, so Gott will, nicht in unsere Korn- äcker hinübersiedeln. Unsere Civilisation und unsere Haut sind für einmal wieder gerettet. Nachträglich und ergänzend muß ich noch von einigen abweichenden Erklärungsarten der herrschenden Pflanzen- epidemien Kenntniß geben. Von einem fanatischen An- hänger des Feuersteins und Stahls wurde die Landplage den Streichzündhölzchen in die Schuhe geschüttet und in einer besondern Broschüre sehr scharfsinnig auseinander gesetzt, daß durch den massenhaften Gebrauch jenes ge- fährlichen Feuerzeugs die Atmosphäre dermaßen mit schäd- lichen Stoffen geschwängert werde, daß die zarte Consti- tution einer Kartoffelstaude unmöglich dabei bestehen könne. Consequenterweise wurden unsere eidgenössischen Behörden aufgefordert, den Gebrauch der Streichzündhölzchen von Bundeswegen zu verbieten und dafür zu sorgen, daß künf- tig auf Schweizerboden die Cigarre oder die Pfeife nicht anders als nach alter Vätersitte angezündet werde, näm- lich mittelst eines Stücks Schwamm. Aber das Streich- feuerzeug ist eine Macht geworden, und ich möchte sehen, ob Kaiser Napoleon mit sammt seinen Staatsstreichen im Stande wäre, das Streichhölzchen aus Frankreich zu ver- bannen. Wie viel weniger vermöchte unser republikani- scher Bundesrath etwas gegen diesen Zündstoff auszurichten! weßhalb die scharfsinnige Broschüre einfach zu den Akten gelegt wurden. — Ein anderer schrieb das Mißrathen der zu unserer physischen und bürgerlichen Existenz nothwendi- gen Knollenfrucht den Eisenbahnen und Telegraphendrähten zu. Das Gleichgewicht des elektrisch magnetischen Fluidums in der Luft und im Boden erleide dadurch wesentliche Störungen, welche nachtheilig auf die Vegetation wir- ken müßten. Dabei bedachte dieser Herr dreierlei nicht nämlich erstens, daß wir in der Schweiz schon Anno fünf- undvierzig von der Kartoffelseuche heimgesucht wurden, wo, die Eisenbahnen bei uns noch nirgends als in den Zeitun- gen und in den Köpfen der Spekulanten spukten, aber noch keine einzige Schiene gelegt war, und wo die elektro- magnetische Post, welche sich nun von Pfahl zu Pfahl durch alle unsere Gauen zieht, erst noch durch den Sonderbundskrieg und die neue Bundesverfassung vor- bereitet werden mußte. Zweitens bedachte er nicht, daß viel kräftigere elektrische Leiter als Schienen und Drähte schon seit Jahrtausenden unser und andere Länder mit einem Netz überziehen, keineswegs zum Nach- theil, sondern zum größten Nutzen des Pflanzenreichs, nämlich unsere Flüsse und Bäche. Drittens bedachte er nicht, daß seine veröffentliche Theorie nicht weniger als ein offener Aufruf an die Massen sey, mit Knitteln und Stecken über die Eisenbahnbauer herzufallen, die Dämme zu zerstören und die Telegraphenstangen aus der Erde zu reißen. Von all diesem geschah freilich nichts, woraus wir entweder auf den „gesunden Sinn“ unseres Volks schließen dürfen, oder aber zu dem für einen Schreiber sehr beschämenden und entmuthigenden Schlusse kommen, daß Geschriebenes und Gedrucktes blutwenig auf die Massen wirkt. Sie wissen, daß nebst vielen andern hohen und höch- sten Herrschaften auch jene mächtigste und gefürchtetste Rani des Orients unser Schweizerländchen diesen Sommer mit ihrem Besuche beehrt hat, die Cholera. Manchen kam der hohe Besuch unerwartet, welche sich auf die Ver- sicherungen des weiland berühmten Freischaarenhäuptlings und nicht minder liebenswürdigen als beliebten Arztes Dr. Jakob Robert Steiger verlassen hatten, der mit den einleuchtendsten Gründen bewies, eine orientalische Despotin, wie die Cholera, würde es in der reinen, freien Schweizer- luft gar nicht aushalten können. Despoten kümmern sich aber bekanntlich blutwenig um Gründe; die Cholera kam trotz der freien Schweizerluft, und zwar nicht incognito, sondern als Herrscherin, ihren Tribut zu fordern. Die Seuche bracht zuerst in der Stadt Basel aus, wo unter einer Bevölkerung von beinahe 30,000 Seelen 399 Erkrankungen vorkamen, von denen 205 den Tod zur Folge hatten. Wenn ich recht berichtet bin, so zählte man während der letzten Choleraepidemie in Augsburg, dessen Bevölkerung derjenigen Basels ungefähr gleichkommt, 3600 Erkrankungs = und 1200 Todesfälle. Es läßt sich aus diesen Zahlen ersehen, daß der Basler Todtentanz des fünfundfünfziger Jahres noch gnädig genug ablief. Jch könnte viel Rühmliches davon erzählen, wie Basels Bürgersinn jener öffentlichen Calamität entgegen trat. Es bildete sich ein Choleraausschuß, dessen Mitglieder mit größter persönlicher Aufopferung die Seuche in ihren ge- heimsten Schlupfwinkeln verfolgten, gesunde und kranke

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856/20
Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856/20>, abgerufen am 15.06.2024.