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Marburger Zeitung. Nr. 121, Marburg, 10.10.1911.

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Marburger Zeitung.

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Keiner Partei dienstbar.


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Freies Wort jedem Deutschen.




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Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg:
Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat-
lich 1 K. Bei Zustellung ins Haus monatlich 20 h mehr.

Mit Postversendung:
Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h.
Das Abonnement dauert bis zur schriftlichen Abbestellung.


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Erscheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

Sprechstunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von
11--12 Uhr vorm. und von 5--6 Uhr nachm. Postgasse 4.

Die Verwaltung befindet sich: Postgasse 4. (Telephon Nr. 24.)


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Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von
allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen
und kostet die fünfmal gespaltene Kleinzeile 12 h.

Schluß für Einschaltungen:
Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags.

Die Einzelnummer kostet 10 Heller.




Nr. 121 Dienstag, 10. Oktober 1911 50. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Die Pläne des Dr. Meyer.


Der letzte Schluß der österreichischen Finanz-
weisheit läuft immer darauf hinaus, neue Steuern
zu ersinnen und die alten zu erhöhen. Diese lieb-
liche Staatsverwaltungspraxis, deren geistiges
Nahrungselement in Bedürfnissen zu suchen ist,
welche die Bevölkerung keineswegs teilt, wird auch
in dieser Zeit der Teuerung weiter geübt und
schließlich ist ja anch die Teuerung ein Produkt
jener Bestrebungen, welche das Einkommen der
Bevölkerung auf dem adriatischen Meer und in Kriegs-
rüstungen investiert, die weit über unsere Kräfte
gehen. In der Samstagnummer haben wir die
von der Regierung vorgeschlagenen neuen Steuern
verzeichnet. Sie wirken wie ein phantastischer Kon-
trast zur allgemeinen Not, zur stetig steigenden
Teuerung und zugleich sind sie auch, wie wir schon
betonten, geeignet, einen Stand gegen den anderen
auszuspielen, denn die stärkere Belastung des Reich-
tumes und der in Österreich so spärlichen leistungs-
fähigen Menschen wurde, wie ein Wiener Blatt
bemerkt, nur als Aufputz dazugenommen.

Der abenteuerliche Gedanke, sagt jenes Blatt,
daß die Versorgungsbedürftigen in Österreich, die
sich für das Alter oder für den Todesfall zu
Gunsten ihrer Frauen und Kinder versichern, diese
soziale Fürsorge mit einer jährlichen Mehrlast von
dreleinhalb Millionen büßen sollen, ist so antisozial,
daß nur ein fesselloser Fiskalismus darauf verfallen
konnte. Auch das trifft den Mittelstand, der vom
Staate keinen Beitrag zur Versicherung bekommt,
[Spaltenumbruch] wie dies bei der Altersversicherung der Arbeiter
und der kleinen Unternehmer geplant wird. Das
wird sich der Mittelstand nicht gefallen lassen. Er
hat es um den Staat nicht verdient, derart ge-
quält zu werden.

Nach den staatsfinanziellen Ergebnissen des
Jahres 1910 ist auch die unvermeidliche Notwendig-
keit durchaus nicht bewiesen, daß den Angestellten
gegen die Teuerung nur durch solche Kriegssteuern auf
den Mittelstand geholfen werden könnte. Das
ganze Defizit betrug rund fünf Millionen. Wenn
der Finanzminister gewollt hätte, so wären auch
diese fünf Millionen noch hereinzubringen oder zu
ersparen gewesen. Bei einem Defizit von 5 Mil-
lionen müssen 33 Millionen für die Angestellten
nicht bloß durch den Mittelstand aufgebracht werden.
Eine Finanzpolitik, die den Angestellten gibt, was
sie nach Billigkeit verlangen dürfen, aber dabei den
Mittelstand nicht so rücksichtslos preßt, ist bei
diesem Stande der Finanzen gewiß kein unlösliches
Problem.

Allein die fiskalischen Gelüste waren stärker in
Dr. Meyer als sein wissenschaftliches und sozial-
politisches Gewissen. Die passive Resistenz wird in
eine staatserhaltende Kraft umgewandelt. Sie droht
der Regierung und wurde vom Fiskus zu einer
Drohung gegen den Mittelstand benützt. Sie wird
als Vorwand gebraucht, um die Abgeordneten da-
für zu gewinnen, die entweder einen Vorwand
suchen oder naiv genug sind, ihn nicht zu erkennen.
Die Steuerpolitik läßt die Arbeiterbataillone gegen
den Mittelstand ausrücken, und die Nichtangestellten
müssen hergeben, was die Angestellten wollen. Die
[Spaltenumbruch] öffentliche Meinung ist für die Angestellten. Niemand
will ihnen nehmen, was der Staat ihnen zu geben
beabsichtigt. Aber das Junktim muß fallen. Die
Angestellten werden selbst nicht wollen, daß die
Waffe der passiven Resistenz in die Hände der Re-
gierung kommt und gegen den Mittelstand in der
Steuerpolitik geschwungen wird. Das Junktim ist
ganz undurchführbar. Die Angestellten sollen unter
dem Junktim nicht leiden und der Mittelstand auch nicht.

Aber es ist nicht nur eine Erhöhung der direkten
Steuersätze, welche die Regierung verlangt und die
zum allergrößten Teile wieder die deutsche Bevölkerung
zu zahlen hat; auch tarifarische Verteuerung will
die Regierung durchgeführt wissen, jetzt, wo ohne-
hin die Teuerung alle Gemüter erregt, tarifarische
Preissteigerungen in Österreich, dessen Verkehr
ohnehin ein relativ geringer ist und dessen Handel
und Industrie unter so vielen Übeln leiden, die
anderwärts fast unbekannt sind. Selbstredend sind
es auch hier wieder in erster Linie wir Deutsche,
welche auch auf diesem Gebiete den größten Teil
der Opfer zu bringen haben. In allen Provinzen
folgt eine Teuerungsdemonstration der anderen und
es gewinnt den Anschein, daß wir durch die passive
Resistenz von großen Berufsgruppen demnächst
argen wirtschaftlichen Gefahren ausgesetzt werden;
an verantwortlichen und unverantwortlichen Stellen
aber stellt man zugunsten übertriebener Großmacht-
spekulationen alle Volksforderungen zurück, ver-
teuert (und verschlechtert!) die Monopole des
Staates, wie den Tabak, schraubt die Steuern
empor und läßt die Raubzüge von Kartellen ruhig
gewähren. Das ist österreichische Staatspolitik!




[Spaltenumbruch]
Vorüber an Fels und Klippe.

12 (Nachdruck verboten.)

Mitteracht war vorüber, als das elegante
Steinsche Koupee auf der mondhellen Chaussee zur
Stadt rollte. -- Der alte Lewald schüttelte den
Kopf, als er den Leutnant von Warlow, der vor-
hin so nett mit ihm geredet, im Koupee laut über
die Schattenseiten des Soldatenstandes räsonieren
hörte. -- Es war dem alten Manne unverständlich,
daß der Sohn seines Hauptmanns sich mit einem
Menschen wie Stein so vertraut machen konnte.

Stein wußte Konrad zu überreden, ihn noch
in das Klubhaus, wo einige späte Gäste beim Skat
saßen, zu begleiten. -- Man trank und unterhielt
sich so lebhaft und herzlich, daß der Wirt und die
Kellner sich den Kopf zerbrachen, wie der armselige
junge Leutnant zu der Freundschaft mit dem Mil-
lionär gekommen.

Als die beiden sich endlich trennten, lud Stein
Konrad noch zur Jagd für einen der nächsten Tage
ein und gab ihm die Zersicherung, einen genuß-
reichen Abend gehabt zu haben.




Der schreckliche Tag, der 5. August, von dem
der arme Siegfried in jeder Nacht träumte, rückte
mit Riesenschritten näher. -- Jegliche Versuche, das
Geld aufzutreiben, waren gescheitert. Seine Lage,
das Geschick seines Vaters und die Not des Schwieger-
[Spaltenumbruch] vaters waren eben zu bekannt. Auf der Villa lastete
bereits eine enorme Schuld, alles wertvolle Moblar
war verkauft oder mit Beschlag belegt. -- Eines
Nachts war Siegfried ein Gedanke gekommen, an
den er jetzt seine letzte Hoffnung hing: Justizrat
Mündel, ein Bruder seiner Mutter, der in Eisenach
wohnte, sollte helfen. -- Dieser, ein äußerst selt-
samer Kauz, hatte sich zwar mit seiner Schwester,
als sie den wilden Junker von Rouland heiratete,
vollständig entzweit und Siegfried selber bei einem
Besuch die Tür gewiesen, aber dennoch wollte er
es versuchen, des reichen alten Herrn Herz. zu be-
wegen. -- Er nahm also Urlaub und reiste nach
Eisenach.

Der Herr Rat Mündel hatte soeben mit dem
üblichen Nörgeln und Schelten, an das sich Susanna
Stennhold, seine langjährige Wirtschafterin, längst
gewöhnt, das Frühstück verzehrt und verlangte jetzt
nach seinen beiden Überziehern.

"Aber Herr Rat, bei der Hitze und bei dem
steilen Berg, heute die dicken Mäntel!" rief die
alte Dame händeringend aus, während ihr feuer-
rotes, gutmütiges Vollmondgesicht die deutlichen
Zeichen des Entsetzens trug.

"Halten Sie --! Ich bin Herr im Hause!"
wetterte der fünfundsiebzigjährige Herr, mit voller
Wucht seinen dicken Ziegenhainer auf den Fuß-
boden stoßend, daß die kleine Stube zitterte. Es
half nichts, Frau Stennhold mußte ihm die beiden
ausgebleichten, gelbgrünschimmernden, altmodischen
Kleidungsstücke anzwängen. Er pustete und stöhnte
[Spaltenumbruch] dabei, denn er war wohlbeleibt und die Hitze war
schier unerträglich. -- Seinen grauen Zylinderhut
aufsetzend und die Bernsteinspitze in den fast zahn-
losen Mund steckend, machte er sich auf den Weg,
nachdem er sich noch überzeugt, ob auch die wild-
ledernen Handschuhe und das wollene Tuch in der
Tasche steckten, Die Eisenacher kannten ihn seit
fünfzig Jahren und hatten sich an seine Sonder-
barkeiten, deren es unendlich viele gab, gewöhnt.
Fremde aber blieben unwillkürlich stehen und
schauten dem alten Manne mit den dicken Filz-
schuhen und den [ ]altertümlichen Überziehern, deren
unterer an den längeren Ärmeln und Schößen nur
allzu sichtbar war, lächelnd nach.

"Neugieriges Affenvolk aus Berlin", pflegte
er dann zu murmeln. "Scherrt Euch in Euren
Tiergarten!" --

Jeden Morgen Schlag neun Uhr pilgerte der
Justizrat zur Wartburg empor, trank ein Glas
Wasser und wanderte dann in dem Tempo einer
Schnecke zurück. -- Seine weit ausgedehnte Proxis
hatte er vor zehn Jahren, als ihm eine Klientin
ihr ansehnliches Vermögen vermachte, so ziemlich
aufgegeben. Nur in ganz seltenen Fällen setzte er
die juristische Welt noch einmal durch seinen
Scharssinn und seine Beredsamkeit in Staunen,
wenn es galt, einen armen Teufel, den er für
unschuldig hielt, herauszubeißen.

Als Siegfried sich gegen 12 Uhr in dem ein-
stöckigen, nicht gerade geschmackvollen Häuschen ein-
fand, das sein Oheim in einer der alten, ruhigeren


Marburger Zeitung.

[Spaltenumbruch]

Keiner Partei dienſtbar.


[Spaltenumbruch]

Freies Wort jedem Deutſchen.




[Spaltenumbruch]

Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg:
Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat-
lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr.

Mit Poſtverſendung:
Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h.
Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung.


[Spaltenumbruch]

Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von
11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4.

Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.)


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Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von
allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen
und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h.

Schluß für Einſchaltungen:
Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags.

Die Einzelnummer koſtet 10 Heller.




Nr. 121 Dienstag, 10. Oktober 1911 50. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Die Pläne des Dr. Meyer.


Der letzte Schluß der öſterreichiſchen Finanz-
weisheit läuft immer darauf hinaus, neue Steuern
zu erſinnen und die alten zu erhöhen. Dieſe lieb-
liche Staatsverwaltungspraxis, deren geiſtiges
Nahrungselement in Bedürfniſſen zu ſuchen iſt,
welche die Bevölkerung keineswegs teilt, wird auch
in dieſer Zeit der Teuerung weiter geübt und
ſchließlich iſt ja anch die Teuerung ein Produkt
jener Beſtrebungen, welche das Einkommen der
Bevölkerung auf dem adriatiſchen Meer und in Kriegs-
rüſtungen inveſtiert, die weit über unſere Kräfte
gehen. In der Samstagnummer haben wir die
von der Regierung vorgeſchlagenen neuen Steuern
verzeichnet. Sie wirken wie ein phantaſtiſcher Kon-
traſt zur allgemeinen Not, zur ſtetig ſteigenden
Teuerung und zugleich ſind ſie auch, wie wir ſchon
betonten, geeignet, einen Stand gegen den anderen
auszuſpielen, denn die ſtärkere Belaſtung des Reich-
tumes und der in Öſterreich ſo ſpärlichen leiſtungs-
fähigen Menſchen wurde, wie ein Wiener Blatt
bemerkt, nur als Aufputz dazugenommen.

Der abenteuerliche Gedanke, ſagt jenes Blatt,
daß die Verſorgungsbedürftigen in Öſterreich, die
ſich für das Alter oder für den Todesfall zu
Gunſten ihrer Frauen und Kinder verſichern, dieſe
ſoziale Fürſorge mit einer jährlichen Mehrlaſt von
dreleinhalb Millionen büßen ſollen, iſt ſo antiſozial,
daß nur ein feſſelloſer Fiskalismus darauf verfallen
konnte. Auch das trifft den Mittelſtand, der vom
Staate keinen Beitrag zur Verſicherung bekommt,
[Spaltenumbruch] wie dies bei der Altersverſicherung der Arbeiter
und der kleinen Unternehmer geplant wird. Das
wird ſich der Mittelſtand nicht gefallen laſſen. Er
hat es um den Staat nicht verdient, derart ge-
quält zu werden.

Nach den ſtaatsfinanziellen Ergebniſſen des
Jahres 1910 iſt auch die unvermeidliche Notwendig-
keit durchaus nicht bewieſen, daß den Angeſtellten
gegen die Teuerung nur durch ſolche Kriegsſteuern auf
den Mittelſtand geholfen werden könnte. Das
ganze Defizit betrug rund fünf Millionen. Wenn
der Finanzminiſter gewollt hätte, ſo wären auch
dieſe fünf Millionen noch hereinzubringen oder zu
erſparen geweſen. Bei einem Defizit von 5 Mil-
lionen müſſen 33 Millionen für die Angeſtellten
nicht bloß durch den Mittelſtand aufgebracht werden.
Eine Finanzpolitik, die den Angeſtellten gibt, was
ſie nach Billigkeit verlangen dürfen, aber dabei den
Mittelſtand nicht ſo rückſichtslos preßt, iſt bei
dieſem Stande der Finanzen gewiß kein unlösliches
Problem.

Allein die fiskaliſchen Gelüſte waren ſtärker in
Dr. Meyer als ſein wiſſenſchaftliches und ſozial-
politiſches Gewiſſen. Die paſſive Reſiſtenz wird in
eine ſtaatserhaltende Kraft umgewandelt. Sie droht
der Regierung und wurde vom Fiskus zu einer
Drohung gegen den Mittelſtand benützt. Sie wird
als Vorwand gebraucht, um die Abgeordneten da-
für zu gewinnen, die entweder einen Vorwand
ſuchen oder naiv genug ſind, ihn nicht zu erkennen.
Die Steuerpolitik läßt die Arbeiterbataillone gegen
den Mittelſtand ausrücken, und die Nichtangeſtellten
müſſen hergeben, was die Angeſtellten wollen. Die
[Spaltenumbruch] öffentliche Meinung iſt für die Angeſtellten. Niemand
will ihnen nehmen, was der Staat ihnen zu geben
beabſichtigt. Aber das Junktim muß fallen. Die
Angeſtellten werden ſelbſt nicht wollen, daß die
Waffe der paſſiven Reſiſtenz in die Hände der Re-
gierung kommt und gegen den Mittelſtand in der
Steuerpolitik geſchwungen wird. Das Junktim iſt
ganz undurchführbar. Die Angeſtellten ſollen unter
dem Junktim nicht leiden und der Mittelſtand auch nicht.

Aber es iſt nicht nur eine Erhöhung der direkten
Steuerſätze, welche die Regierung verlangt und die
zum allergrößten Teile wieder die deutſche Bevölkerung
zu zahlen hat; auch tarifariſche Verteuerung will
die Regierung durchgeführt wiſſen, jetzt, wo ohne-
hin die Teuerung alle Gemüter erregt, tarifariſche
Preisſteigerungen in Öſterreich, deſſen Verkehr
ohnehin ein relativ geringer iſt und deſſen Handel
und Induſtrie unter ſo vielen Übeln leiden, die
anderwärts faſt unbekannt ſind. Selbſtredend ſind
es auch hier wieder in erſter Linie wir Deutſche,
welche auch auf dieſem Gebiete den größten Teil
der Opfer zu bringen haben. In allen Provinzen
folgt eine Teuerungsdemonſtration der anderen und
es gewinnt den Anſchein, daß wir durch die paſſive
Reſiſtenz von großen Berufsgruppen demnächſt
argen wirtſchaftlichen Gefahren ausgeſetzt werden;
an verantwortlichen und unverantwortlichen Stellen
aber ſtellt man zugunſten übertriebener Großmacht-
ſpekulationen alle Volksforderungen zurück, ver-
teuert (und verſchlechtert!) die Monopole des
Staates, wie den Tabak, ſchraubt die Steuern
empor und läßt die Raubzüge von Kartellen ruhig
gewähren. Das iſt öſterreichiſche Staatspolitik!




[Spaltenumbruch]
Vorüber an Fels und Klippe.

12 (Nachdruck verboten.)

Mitteracht war vorüber, als das elegante
Steinſche Koupee auf der mondhellen Chauſſee zur
Stadt rollte. — Der alte Lewald ſchüttelte den
Kopf, als er den Leutnant von Warlow, der vor-
hin ſo nett mit ihm geredet, im Koupee laut über
die Schattenſeiten des Soldatenſtandes räſonieren
hörte. — Es war dem alten Manne unverſtändlich,
daß der Sohn ſeines Hauptmanns ſich mit einem
Menſchen wie Stein ſo vertraut machen konnte.

Stein wußte Konrad zu überreden, ihn noch
in das Klubhaus, wo einige ſpäte Gäſte beim Skat
ſaßen, zu begleiten. — Man trank und unterhielt
ſich ſo lebhaft und herzlich, daß der Wirt und die
Kellner ſich den Kopf zerbrachen, wie der armſelige
junge Leutnant zu der Freundſchaft mit dem Mil-
lionär gekommen.

Als die beiden ſich endlich trennten, lud Stein
Konrad noch zur Jagd für einen der nächſten Tage
ein und gab ihm die Zerſicherung, einen genuß-
reichen Abend gehabt zu haben.




Der ſchreckliche Tag, der 5. Auguſt, von dem
der arme Siegfried in jeder Nacht träumte, rückte
mit Rieſenſchritten näher. — Jegliche Verſuche, das
Geld aufzutreiben, waren geſcheitert. Seine Lage,
das Geſchick ſeines Vaters und die Not des Schwieger-
[Spaltenumbruch] vaters waren eben zu bekannt. Auf der Villa laſtete
bereits eine enorme Schuld, alles wertvolle Moblar
war verkauft oder mit Beſchlag belegt. — Eines
Nachts war Siegfried ein Gedanke gekommen, an
den er jetzt ſeine letzte Hoffnung hing: Juſtizrat
Mündel, ein Bruder ſeiner Mutter, der in Eiſenach
wohnte, ſollte helfen. — Dieſer, ein äußerſt ſelt-
ſamer Kauz, hatte ſich zwar mit ſeiner Schweſter,
als ſie den wilden Junker von Rouland heiratete,
vollſtändig entzweit und Siegfried ſelber bei einem
Beſuch die Tür gewieſen, aber dennoch wollte er
es verſuchen, des reichen alten Herrn Herz. zu be-
wegen. — Er nahm alſo Urlaub und reiſte nach
Eiſenach.

Der Herr Rat Mündel hatte ſoeben mit dem
üblichen Nörgeln und Schelten, an das ſich Suſanna
Stennhold, ſeine langjährige Wirtſchafterin, längſt
gewöhnt, das Frühſtück verzehrt und verlangte jetzt
nach ſeinen beiden Überziehern.

„Aber Herr Rat, bei der Hitze und bei dem
ſteilen Berg, heute die dicken Mäntel!“ rief die
alte Dame händeringend aus, während ihr feuer-
rotes, gutmütiges Vollmondgeſicht die deutlichen
Zeichen des Entſetzens trug.

„Halten Sie —! Ich bin Herr im Hauſe!“
wetterte der fünfundſiebzigjährige Herr, mit voller
Wucht ſeinen dicken Ziegenhainer auf den Fuß-
boden ſtoßend, daß die kleine Stube zitterte. Es
half nichts, Frau Stennhold mußte ihm die beiden
ausgebleichten, gelbgrünſchimmernden, altmodiſchen
Kleidungsſtücke anzwängen. Er puſtete und ſtöhnte
[Spaltenumbruch] dabei, denn er war wohlbeleibt und die Hitze war
ſchier unerträglich. — Seinen grauen Zylinderhut
aufſetzend und die Bernſteinſpitze in den faſt zahn-
loſen Mund ſteckend, machte er ſich auf den Weg,
nachdem er ſich noch überzeugt, ob auch die wild-
ledernen Handſchuhe und das wollene Tuch in der
Taſche ſteckten, Die Eiſenacher kannten ihn ſeit
fünfzig Jahren und hatten ſich an ſeine Sonder-
barkeiten, deren es unendlich viele gab, gewöhnt.
Fremde aber blieben unwillkürlich ſtehen und
ſchauten dem alten Manne mit den dicken Filz-
ſchuhen und den [ ]altertümlichen Überziehern, deren
unterer an den längeren Ärmeln und Schößen nur
allzu ſichtbar war, lächelnd nach.

„Neugieriges Affenvolk aus Berlin“, pflegte
er dann zu murmeln. „Scherrt Euch in Euren
Tiergarten!“ —

Jeden Morgen Schlag neun Uhr pilgerte der
Juſtizrat zur Wartburg empor, trank ein Glas
Waſſer und wanderte dann in dem Tempo einer
Schnecke zurück. — Seine weit ausgedehnte Proxis
hatte er vor zehn Jahren, als ihm eine Klientin
ihr anſehnliches Vermögen vermachte, ſo ziemlich
aufgegeben. Nur in ganz ſeltenen Fällen ſetzte er
die juriſtiſche Welt noch einmal durch ſeinen
Scharſſinn und ſeine Beredſamkeit in Staunen,
wenn es galt, einen armen Teufel, den er für
unſchuldig hielt, herauszubeißen.

Als Siegfried ſich gegen 12 Uhr in dem ein-
ſtöckigen, nicht gerade geſchmackvollen Häuschen ein-
fand, das ſein Oheim in einer der alten, ruhigeren


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[[1]/0001] Marburger Zeitung. Keiner Partei dienſtbar. Freies Wort jedem Deutſchen. Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg: Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat- lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr. Mit Poſtverſendung: Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h. Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung. Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag abends. Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von 11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4. Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.) Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h. Schluß für Einſchaltungen: Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags. Die Einzelnummer koſtet 10 Heller. Nr. 121 Dienstag, 10. Oktober 1911 50. Jahrgang. Die Pläne des Dr. Meyer. Marburg, 10. Oktober. Der letzte Schluß der öſterreichiſchen Finanz- weisheit läuft immer darauf hinaus, neue Steuern zu erſinnen und die alten zu erhöhen. Dieſe lieb- liche Staatsverwaltungspraxis, deren geiſtiges Nahrungselement in Bedürfniſſen zu ſuchen iſt, welche die Bevölkerung keineswegs teilt, wird auch in dieſer Zeit der Teuerung weiter geübt und ſchließlich iſt ja anch die Teuerung ein Produkt jener Beſtrebungen, welche das Einkommen der Bevölkerung auf dem adriatiſchen Meer und in Kriegs- rüſtungen inveſtiert, die weit über unſere Kräfte gehen. In der Samstagnummer haben wir die von der Regierung vorgeſchlagenen neuen Steuern verzeichnet. Sie wirken wie ein phantaſtiſcher Kon- traſt zur allgemeinen Not, zur ſtetig ſteigenden Teuerung und zugleich ſind ſie auch, wie wir ſchon betonten, geeignet, einen Stand gegen den anderen auszuſpielen, denn die ſtärkere Belaſtung des Reich- tumes und der in Öſterreich ſo ſpärlichen leiſtungs- fähigen Menſchen wurde, wie ein Wiener Blatt bemerkt, nur als Aufputz dazugenommen. Der abenteuerliche Gedanke, ſagt jenes Blatt, daß die Verſorgungsbedürftigen in Öſterreich, die ſich für das Alter oder für den Todesfall zu Gunſten ihrer Frauen und Kinder verſichern, dieſe ſoziale Fürſorge mit einer jährlichen Mehrlaſt von dreleinhalb Millionen büßen ſollen, iſt ſo antiſozial, daß nur ein feſſelloſer Fiskalismus darauf verfallen konnte. Auch das trifft den Mittelſtand, der vom Staate keinen Beitrag zur Verſicherung bekommt, wie dies bei der Altersverſicherung der Arbeiter und der kleinen Unternehmer geplant wird. Das wird ſich der Mittelſtand nicht gefallen laſſen. Er hat es um den Staat nicht verdient, derart ge- quält zu werden. Nach den ſtaatsfinanziellen Ergebniſſen des Jahres 1910 iſt auch die unvermeidliche Notwendig- keit durchaus nicht bewieſen, daß den Angeſtellten gegen die Teuerung nur durch ſolche Kriegsſteuern auf den Mittelſtand geholfen werden könnte. Das ganze Defizit betrug rund fünf Millionen. Wenn der Finanzminiſter gewollt hätte, ſo wären auch dieſe fünf Millionen noch hereinzubringen oder zu erſparen geweſen. Bei einem Defizit von 5 Mil- lionen müſſen 33 Millionen für die Angeſtellten nicht bloß durch den Mittelſtand aufgebracht werden. Eine Finanzpolitik, die den Angeſtellten gibt, was ſie nach Billigkeit verlangen dürfen, aber dabei den Mittelſtand nicht ſo rückſichtslos preßt, iſt bei dieſem Stande der Finanzen gewiß kein unlösliches Problem. Allein die fiskaliſchen Gelüſte waren ſtärker in Dr. Meyer als ſein wiſſenſchaftliches und ſozial- politiſches Gewiſſen. Die paſſive Reſiſtenz wird in eine ſtaatserhaltende Kraft umgewandelt. Sie droht der Regierung und wurde vom Fiskus zu einer Drohung gegen den Mittelſtand benützt. Sie wird als Vorwand gebraucht, um die Abgeordneten da- für zu gewinnen, die entweder einen Vorwand ſuchen oder naiv genug ſind, ihn nicht zu erkennen. Die Steuerpolitik läßt die Arbeiterbataillone gegen den Mittelſtand ausrücken, und die Nichtangeſtellten müſſen hergeben, was die Angeſtellten wollen. Die öffentliche Meinung iſt für die Angeſtellten. Niemand will ihnen nehmen, was der Staat ihnen zu geben beabſichtigt. Aber das Junktim muß fallen. Die Angeſtellten werden ſelbſt nicht wollen, daß die Waffe der paſſiven Reſiſtenz in die Hände der Re- gierung kommt und gegen den Mittelſtand in der Steuerpolitik geſchwungen wird. Das Junktim iſt ganz undurchführbar. Die Angeſtellten ſollen unter dem Junktim nicht leiden und der Mittelſtand auch nicht. Aber es iſt nicht nur eine Erhöhung der direkten Steuerſätze, welche die Regierung verlangt und die zum allergrößten Teile wieder die deutſche Bevölkerung zu zahlen hat; auch tarifariſche Verteuerung will die Regierung durchgeführt wiſſen, jetzt, wo ohne- hin die Teuerung alle Gemüter erregt, tarifariſche Preisſteigerungen in Öſterreich, deſſen Verkehr ohnehin ein relativ geringer iſt und deſſen Handel und Induſtrie unter ſo vielen Übeln leiden, die anderwärts faſt unbekannt ſind. Selbſtredend ſind es auch hier wieder in erſter Linie wir Deutſche, welche auch auf dieſem Gebiete den größten Teil der Opfer zu bringen haben. In allen Provinzen folgt eine Teuerungsdemonſtration der anderen und es gewinnt den Anſchein, daß wir durch die paſſive Reſiſtenz von großen Berufsgruppen demnächſt argen wirtſchaftlichen Gefahren ausgeſetzt werden; an verantwortlichen und unverantwortlichen Stellen aber ſtellt man zugunſten übertriebener Großmacht- ſpekulationen alle Volksforderungen zurück, ver- teuert (und verſchlechtert!) die Monopole des Staates, wie den Tabak, ſchraubt die Steuern empor und läßt die Raubzüge von Kartellen ruhig gewähren. Das iſt öſterreichiſche Staatspolitik! Vorüber an Fels und Klippe. Originalroman von Ludwig Blümcke. 12 (Nachdruck verboten.) Mitteracht war vorüber, als das elegante Steinſche Koupee auf der mondhellen Chauſſee zur Stadt rollte. — Der alte Lewald ſchüttelte den Kopf, als er den Leutnant von Warlow, der vor- hin ſo nett mit ihm geredet, im Koupee laut über die Schattenſeiten des Soldatenſtandes räſonieren hörte. — Es war dem alten Manne unverſtändlich, daß der Sohn ſeines Hauptmanns ſich mit einem Menſchen wie Stein ſo vertraut machen konnte. Stein wußte Konrad zu überreden, ihn noch in das Klubhaus, wo einige ſpäte Gäſte beim Skat ſaßen, zu begleiten. — Man trank und unterhielt ſich ſo lebhaft und herzlich, daß der Wirt und die Kellner ſich den Kopf zerbrachen, wie der armſelige junge Leutnant zu der Freundſchaft mit dem Mil- lionär gekommen. Als die beiden ſich endlich trennten, lud Stein Konrad noch zur Jagd für einen der nächſten Tage ein und gab ihm die Zerſicherung, einen genuß- reichen Abend gehabt zu haben. Der ſchreckliche Tag, der 5. Auguſt, von dem der arme Siegfried in jeder Nacht träumte, rückte mit Rieſenſchritten näher. — Jegliche Verſuche, das Geld aufzutreiben, waren geſcheitert. Seine Lage, das Geſchick ſeines Vaters und die Not des Schwieger- vaters waren eben zu bekannt. Auf der Villa laſtete bereits eine enorme Schuld, alles wertvolle Moblar war verkauft oder mit Beſchlag belegt. — Eines Nachts war Siegfried ein Gedanke gekommen, an den er jetzt ſeine letzte Hoffnung hing: Juſtizrat Mündel, ein Bruder ſeiner Mutter, der in Eiſenach wohnte, ſollte helfen. — Dieſer, ein äußerſt ſelt- ſamer Kauz, hatte ſich zwar mit ſeiner Schweſter, als ſie den wilden Junker von Rouland heiratete, vollſtändig entzweit und Siegfried ſelber bei einem Beſuch die Tür gewieſen, aber dennoch wollte er es verſuchen, des reichen alten Herrn Herz. zu be- wegen. — Er nahm alſo Urlaub und reiſte nach Eiſenach. Der Herr Rat Mündel hatte ſoeben mit dem üblichen Nörgeln und Schelten, an das ſich Suſanna Stennhold, ſeine langjährige Wirtſchafterin, längſt gewöhnt, das Frühſtück verzehrt und verlangte jetzt nach ſeinen beiden Überziehern. „Aber Herr Rat, bei der Hitze und bei dem ſteilen Berg, heute die dicken Mäntel!“ rief die alte Dame händeringend aus, während ihr feuer- rotes, gutmütiges Vollmondgeſicht die deutlichen Zeichen des Entſetzens trug. „Halten Sie —! Ich bin Herr im Hauſe!“ wetterte der fünfundſiebzigjährige Herr, mit voller Wucht ſeinen dicken Ziegenhainer auf den Fuß- boden ſtoßend, daß die kleine Stube zitterte. Es half nichts, Frau Stennhold mußte ihm die beiden ausgebleichten, gelbgrünſchimmernden, altmodiſchen Kleidungsſtücke anzwängen. Er puſtete und ſtöhnte dabei, denn er war wohlbeleibt und die Hitze war ſchier unerträglich. — Seinen grauen Zylinderhut aufſetzend und die Bernſteinſpitze in den faſt zahn- loſen Mund ſteckend, machte er ſich auf den Weg, nachdem er ſich noch überzeugt, ob auch die wild- ledernen Handſchuhe und das wollene Tuch in der Taſche ſteckten, Die Eiſenacher kannten ihn ſeit fünfzig Jahren und hatten ſich an ſeine Sonder- barkeiten, deren es unendlich viele gab, gewöhnt. Fremde aber blieben unwillkürlich ſtehen und ſchauten dem alten Manne mit den dicken Filz- ſchuhen und den altertümlichen Überziehern, deren unterer an den längeren Ärmeln und Schößen nur allzu ſichtbar war, lächelnd nach. „Neugieriges Affenvolk aus Berlin“, pflegte er dann zu murmeln. „Scherrt Euch in Euren Tiergarten!“ — Jeden Morgen Schlag neun Uhr pilgerte der Juſtizrat zur Wartburg empor, trank ein Glas Waſſer und wanderte dann in dem Tempo einer Schnecke zurück. — Seine weit ausgedehnte Proxis hatte er vor zehn Jahren, als ihm eine Klientin ihr anſehnliches Vermögen vermachte, ſo ziemlich aufgegeben. Nur in ganz ſeltenen Fällen ſetzte er die juriſtiſche Welt noch einmal durch ſeinen Scharſſinn und ſeine Beredſamkeit in Staunen, wenn es galt, einen armen Teufel, den er für unſchuldig hielt, herauszubeißen. Als Siegfried ſich gegen 12 Uhr in dem ein- ſtöckigen, nicht gerade geſchmackvollen Häuschen ein- fand, das ſein Oheim in einer der alten, ruhigeren

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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 121, Marburg, 10.10.1911, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger121_1911/1>, abgerufen am 29.03.2024.