Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.
Gerade weil sie vom politischen Leben ausgeschlossen seien, brennten " Unter dem allgemeinen Wahlrecht werden die Volksmassen die verant- Soweit Struve. Es ist natürlich schwer festzustellen, wie stark der
Gerade weil sie vom politischen Leben ausgeschlossen seien, brennten „ Unter dem allgemeinen Wahlrecht werden die Volksmassen die verant- Soweit Struve. Es ist natürlich schwer festzustellen, wie stark der <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <quote><pb facs="#f0020" n="660"/><fw type="header" place="top">660 Ed. Bernstein: Russisches Wahlrecht.</fw><lb/> will uns mit radikalen Programmen und dem Einfluß, den sie unter der Herrschaft<lb/> des allgemeinen Wahlrechts auf die Massen ausüben können, in Schrecken jagen.<lb/> Aber diese radikalen Programme und das politische Erwachen der Massen sind<lb/> Tatsachen, mit denen schon heute und mehr noch am Tage nach der politischen<lb/> Reform gerechnet werden muß, mag diese sich auch noch so sehr vom allgemeinen<lb/> Stimmrecht entfernen.“</quote><lb/> <p>Gerade weil sie vom politischen Leben ausgeschlossen seien, brennten<lb/> die Bauern Wälder nieder und streikten die Arbeitermassen für in vielen<lb/> Fällen unmögliche Forderungen. Es gebe nur ein Mittel, die Arbeiter in<lb/> Stadt und Land auf den Weg der gesetzlichen Aktion für ihre Jnteressen<lb/> zu leiten, und das bestehe darin, das ganze Volk mit gleichen Rechten am<lb/> politischen Leben zu beteiligen, d. h. man proklamiere das allgemeine Wahlrecht.<lb/> Es sei gleichzeitig revolutionär und konservativ, es bedeute politischen Kampf in<lb/> friedlichen Formen.</p><lb/> <quote>„ Unter dem allgemeinen Wahlrecht werden die Volksmassen die verant-<lb/> wortlichen Herren ihres eigenen Geschicks, lernen sie verstehen, was möglich ist<lb/> und was nicht. So lange als den Volksmassen nicht die Möglichkeit gegeben<lb/> wird, ihren Willen in der Gesetzgebung, in der Verfügung über die Staatsmittel<lb/> und der Kontrole der Regierung kundzugeben und geltend zu machen, wird die<lb/> Herstellung friedlicher sozialer Zustände durch den Gedanken verhindert werden,<lb/> daß dem Volke der ihm gebührende Einfluß im öffentlichen Leben vorenthalten<lb/> wird und seine Jnteressen daher vernachlässigt und vergessen werden. Das heißt,<lb/> da sie sich nicht als Herren des Staates fühlen, werden die Volksmassen fort-<lb/> fahren, Haß gegen ihn zu nähren. Jm Angesicht der starken revolutionären<lb/> Traditionen, die in der russischen Jntelligenz obwalten, im Angesicht des Be-<lb/> stehens wohlorganisierter sozialistischer Parteien, im Angesicht der geistigen Mauer,<lb/> welche die Volksmassen so tief von den unterrichteten Gesellschaftsklassen trennt,<lb/> würde eine andere Lösung der Frage der Nationalvertretung als das allgemeine<lb/> Wahlrecht ein verhängnisvoller politischer Fehler sein, dessen Wirkungen sich bald<lb/> fühlbar machen würden. Die Aufrechterhaltung der Autokratie droht den<lb/> „Aufruhr“ zu verewigen — mehr noch, den Staat völlig zu desorganisieren, und<lb/> gegen den „Aufruhr“ schützt uns keine ungenügende politische Reform, keine halbe<lb/> Maßregel mehr. Eine solche wird nicht imstande sein, die Bahn für die Lösung<lb/> der großen und schwierigen sozialen Probleme zu ebnen, die durch die russische<lb/> Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt sind; sie wird dem Lande nicht den<lb/> Frieden bringen und ihm nicht die öffentliche Ordnung sichern.“</quote><lb/> <p>Soweit Struve. Es ist natürlich schwer festzustellen, wie stark der<lb/> Einfluß der Oswobodjenije in Rußland ist; daß das Blatt enge Verbindungen<lb/> mit den vorgeschrittenen Elementen in den Semstwos hat, ist bekannt, und<lb/> ebenso, welche Bedeutung die Semstwos für das politische Leben in Rußland<lb/> erlangt haben. Jn Rußland selbst wird der obenerwähnte Verfassungsentwurf<lb/> von einer Verbindung verbreitet, die sich „Organisation des freien Worts“<lb/> nennt und in bürgerlichen Kreisen viel Beziehungen hat. Es ist ja auch<lb/> nur natürlich, daß man heute im Zarenreiche lebhaft über Verfassungsfragen<lb/> diskutiert. Die Parteien und Klassen müssen sich darüber klar werden, für<lb/> welche Form der Reichsregierung und für welches Wahlsystem sie eintreten<lb/> wollen oder nach Lage der Dinge müssen. denn was auch die Einzelnen oder<lb/> Gruppen planen, so müssen sie doch alle darauf vorbereitet sein, gegebenen-<lb/> falls unter dem Druck der harten Sprache der Tatsachen ihre Pläne zu mo-<lb/> difizieren. Je länger die Revolution hinausgeschoben wird, mit um so ele-<lb/> mentarer wirkender Wucht dürfte sie sich vollziehen.</p> </div> </body> </text> </TEI> [660/0020]
660 Ed. Bernstein: Russisches Wahlrecht.
will uns mit radikalen Programmen und dem Einfluß, den sie unter der Herrschaft
des allgemeinen Wahlrechts auf die Massen ausüben können, in Schrecken jagen.
Aber diese radikalen Programme und das politische Erwachen der Massen sind
Tatsachen, mit denen schon heute und mehr noch am Tage nach der politischen
Reform gerechnet werden muß, mag diese sich auch noch so sehr vom allgemeinen
Stimmrecht entfernen.“
Gerade weil sie vom politischen Leben ausgeschlossen seien, brennten
die Bauern Wälder nieder und streikten die Arbeitermassen für in vielen
Fällen unmögliche Forderungen. Es gebe nur ein Mittel, die Arbeiter in
Stadt und Land auf den Weg der gesetzlichen Aktion für ihre Jnteressen
zu leiten, und das bestehe darin, das ganze Volk mit gleichen Rechten am
politischen Leben zu beteiligen, d. h. man proklamiere das allgemeine Wahlrecht.
Es sei gleichzeitig revolutionär und konservativ, es bedeute politischen Kampf in
friedlichen Formen.
„ Unter dem allgemeinen Wahlrecht werden die Volksmassen die verant-
wortlichen Herren ihres eigenen Geschicks, lernen sie verstehen, was möglich ist
und was nicht. So lange als den Volksmassen nicht die Möglichkeit gegeben
wird, ihren Willen in der Gesetzgebung, in der Verfügung über die Staatsmittel
und der Kontrole der Regierung kundzugeben und geltend zu machen, wird die
Herstellung friedlicher sozialer Zustände durch den Gedanken verhindert werden,
daß dem Volke der ihm gebührende Einfluß im öffentlichen Leben vorenthalten
wird und seine Jnteressen daher vernachlässigt und vergessen werden. Das heißt,
da sie sich nicht als Herren des Staates fühlen, werden die Volksmassen fort-
fahren, Haß gegen ihn zu nähren. Jm Angesicht der starken revolutionären
Traditionen, die in der russischen Jntelligenz obwalten, im Angesicht des Be-
stehens wohlorganisierter sozialistischer Parteien, im Angesicht der geistigen Mauer,
welche die Volksmassen so tief von den unterrichteten Gesellschaftsklassen trennt,
würde eine andere Lösung der Frage der Nationalvertretung als das allgemeine
Wahlrecht ein verhängnisvoller politischer Fehler sein, dessen Wirkungen sich bald
fühlbar machen würden. Die Aufrechterhaltung der Autokratie droht den
„Aufruhr“ zu verewigen — mehr noch, den Staat völlig zu desorganisieren, und
gegen den „Aufruhr“ schützt uns keine ungenügende politische Reform, keine halbe
Maßregel mehr. Eine solche wird nicht imstande sein, die Bahn für die Lösung
der großen und schwierigen sozialen Probleme zu ebnen, die durch die russische
Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt sind; sie wird dem Lande nicht den
Frieden bringen und ihm nicht die öffentliche Ordnung sichern.“
Soweit Struve. Es ist natürlich schwer festzustellen, wie stark der
Einfluß der Oswobodjenije in Rußland ist; daß das Blatt enge Verbindungen
mit den vorgeschrittenen Elementen in den Semstwos hat, ist bekannt, und
ebenso, welche Bedeutung die Semstwos für das politische Leben in Rußland
erlangt haben. Jn Rußland selbst wird der obenerwähnte Verfassungsentwurf
von einer Verbindung verbreitet, die sich „Organisation des freien Worts“
nennt und in bürgerlichen Kreisen viel Beziehungen hat. Es ist ja auch
nur natürlich, daß man heute im Zarenreiche lebhaft über Verfassungsfragen
diskutiert. Die Parteien und Klassen müssen sich darüber klar werden, für
welche Form der Reichsregierung und für welches Wahlsystem sie eintreten
wollen oder nach Lage der Dinge müssen. denn was auch die Einzelnen oder
Gruppen planen, so müssen sie doch alle darauf vorbereitet sein, gegebenen-
falls unter dem Druck der harten Sprache der Tatsachen ihre Pläne zu mo-
difizieren. Je länger die Revolution hinausgeschoben wird, mit um so ele-
mentarer wirkender Wucht dürfte sie sich vollziehen.
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