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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Kurt Aram: L'art pour l'art.
mehreren Herren saß. Jch wußte: das ist das Ereignis. Jch sehe sie an, sie
sieht mich an. Jch war damals ein hübscher Kerl und sah reichlich kurios aus
in meinem alten Havelock, eine gestrickte Mütze über dem ausgehungerten,
bleichen Gesicht, denn ich hatte trotz aller Armut in dem Jahre meine Freiheit
genossen, Du verstehst schon. "Was unterstehen Sie sich, kennen Sie die Dame?"
schrie einer der Herren an ihrem Tisch, denn wir sahen uns immer noch wortlos
an. Jch erwiderte gar nichts, riß von einer Zeitung ein Stück des Randes ab,
schrieb meinen Namen und meine Adresse darauf, reichte es stumm dem jungen
Mädchen und ging wieder. Am andern Morgen, um neun Uhr, war sie schon bei
mir... Was wir getrieben haben? Sie saß auf meinem Stuhl, ich ihr zu
Füßen, die Arme um ihren Leib, den Kopf in ihrem Schoß. Sie streichelte mich,
ich streichelte sie, und dann weinten wir, weinten wie die Schloßhunde. Unter-
halten konnten wir uns nicht. Sie war Dänin und verstand noch kaum ein Wort
Deutsch. Dann ging sie in ihre kleine Pension, um zu essen, und nachmittags
kam sie wieder... Jch verlobte mich mit ihr und schrieb es gleich meinen
Eltern."

Paul, der Lyriker, lächelte.

"Wir waren ja noch so jung damals! Und ich stammte aus einem guten,
bürgerlichen Haus, wo man auf Zucht und Sitte hielt. Und sie war ja ein
anständiges Mädchen... Wochen haben wir so immer beieinander gefessen und
sie hat redlich mitgehungert."

"Hm," machte der Lyriker.

"Warte nur, es kommt schon... Jch zeichnete damals für allerhand
Witzblätter letzten Grades. Bald hatte ich zwei Mark, bald nicht, je nachdem.
Schon lange plante ich ein größeres Bild, aber es war nie etwas daraus ge-
worden, ich konnte ja das Modell nicht bezahlen, das ich dazu brauchte. Endlich
bat ich sie, mir zu sitzen, Halbakt. Sofort zog sie sich aus. Jch sage dir, als
sie so vor meinem alten braunen Kachelofen stand, ich habe nie wieder einen so
schönen Körper gesehn!... Es riß mich förmlich hin zu ihren Füßen. Da
habe ich dann gelegen und sie gestreichelt. Und dann haben wir wieder herz-
brechend geweint. Getan hab' ich ihr nichts."

"Was?!"

"Sie war ja meine Braut, deren Bild bei meinen Eltern auf der Kommode
stand, sie war doch ein anständiges Mädchen... Und ich... ich war so ein
dummer, dummer Junge damals... Am andern Tag kam sie nicht. Am
folgenden Tag ging ich zu ihr. Sie hatte sich zu sehr geschämt. Nun kam sie
wieder. Aber unsere Unbefangenheit hörte jetzt selbstverständlich auf, wir waren
ja beide junge, kräftige, gesunde Menschen. Wir kämpften einen verzweifelten
Kampf. Jch für meine Anständigkeit, denn ich wollte sie ja heiraten, sobald
es irgend ging. Sie gegen diese Anständigkeit für ihre Leidenschaft. Und als
sie eines Tages die Arme weit geöffnet mir zuflüsterte: ich bitte Dich! -- da
war es um mich geschehn..." Eduard schwieg.

"Gott sei Dank!" sagte der Lyriker.

"Kennst Du Stendhal?" fragte Eduard nach einer Weile.

"Aber natürlich."

"Nun ja, er erzählt irgendwo, wie es auch mir damals erging. Er be-

Kurt Aram: L'art pour l'art.
mehreren Herren saß. Jch wußte: das ist das Ereignis. Jch sehe sie an, sie
sieht mich an. Jch war damals ein hübscher Kerl und sah reichlich kurios aus
in meinem alten Havelock, eine gestrickte Mütze über dem ausgehungerten,
bleichen Gesicht, denn ich hatte trotz aller Armut in dem Jahre meine Freiheit
genossen, Du verstehst schon. „Was unterstehen Sie sich, kennen Sie die Dame?“
schrie einer der Herren an ihrem Tisch, denn wir sahen uns immer noch wortlos
an. Jch erwiderte gar nichts, riß von einer Zeitung ein Stück des Randes ab,
schrieb meinen Namen und meine Adresse darauf, reichte es stumm dem jungen
Mädchen und ging wieder. Am andern Morgen, um neun Uhr, war sie schon bei
mir... Was wir getrieben haben? Sie saß auf meinem Stuhl, ich ihr zu
Füßen, die Arme um ihren Leib, den Kopf in ihrem Schoß. Sie streichelte mich,
ich streichelte sie, und dann weinten wir, weinten wie die Schloßhunde. Unter-
halten konnten wir uns nicht. Sie war Dänin und verstand noch kaum ein Wort
Deutsch. Dann ging sie in ihre kleine Pension, um zu essen, und nachmittags
kam sie wieder... Jch verlobte mich mit ihr und schrieb es gleich meinen
Eltern.“

Paul, der Lyriker, lächelte.

„Wir waren ja noch so jung damals! Und ich stammte aus einem guten,
bürgerlichen Haus, wo man auf Zucht und Sitte hielt. Und sie war ja ein
anständiges Mädchen... Wochen haben wir so immer beieinander gefessen und
sie hat redlich mitgehungert.“

„Hm,“ machte der Lyriker.

„Warte nur, es kommt schon... Jch zeichnete damals für allerhand
Witzblätter letzten Grades. Bald hatte ich zwei Mark, bald nicht, je nachdem.
Schon lange plante ich ein größeres Bild, aber es war nie etwas daraus ge-
worden, ich konnte ja das Modell nicht bezahlen, das ich dazu brauchte. Endlich
bat ich sie, mir zu sitzen, Halbakt. Sofort zog sie sich aus. Jch sage dir, als
sie so vor meinem alten braunen Kachelofen stand, ich habe nie wieder einen so
schönen Körper gesehn!... Es riß mich förmlich hin zu ihren Füßen. Da
habe ich dann gelegen und sie gestreichelt. Und dann haben wir wieder herz-
brechend geweint. Getan hab' ich ihr nichts.“

„Was?!“

„Sie war ja meine Braut, deren Bild bei meinen Eltern auf der Kommode
stand, sie war doch ein anständiges Mädchen... Und ich... ich war so ein
dummer, dummer Junge damals... Am andern Tag kam sie nicht. Am
folgenden Tag ging ich zu ihr. Sie hatte sich zu sehr geschämt. Nun kam sie
wieder. Aber unsere Unbefangenheit hörte jetzt selbstverständlich auf, wir waren
ja beide junge, kräftige, gesunde Menschen. Wir kämpften einen verzweifelten
Kampf. Jch für meine Anständigkeit, denn ich wollte sie ja heiraten, sobald
es irgend ging. Sie gegen diese Anständigkeit für ihre Leidenschaft. Und als
sie eines Tages die Arme weit geöffnet mir zuflüsterte: ich bitte Dich! — da
war es um mich geschehn...“ Eduard schwieg.

„Gott sei Dank!“ sagte der Lyriker.

„Kennst Du Stendhal?“ fragte Eduard nach einer Weile.

„Aber natürlich.“

„Nun ja, er erzählt irgendwo, wie es auch mir damals erging. Er be-

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[628/0036] Kurt Aram: L'art pour l'art. mehreren Herren saß. Jch wußte: das ist das Ereignis. Jch sehe sie an, sie sieht mich an. Jch war damals ein hübscher Kerl und sah reichlich kurios aus in meinem alten Havelock, eine gestrickte Mütze über dem ausgehungerten, bleichen Gesicht, denn ich hatte trotz aller Armut in dem Jahre meine Freiheit genossen, Du verstehst schon. „Was unterstehen Sie sich, kennen Sie die Dame?“ schrie einer der Herren an ihrem Tisch, denn wir sahen uns immer noch wortlos an. Jch erwiderte gar nichts, riß von einer Zeitung ein Stück des Randes ab, schrieb meinen Namen und meine Adresse darauf, reichte es stumm dem jungen Mädchen und ging wieder. Am andern Morgen, um neun Uhr, war sie schon bei mir... Was wir getrieben haben? Sie saß auf meinem Stuhl, ich ihr zu Füßen, die Arme um ihren Leib, den Kopf in ihrem Schoß. Sie streichelte mich, ich streichelte sie, und dann weinten wir, weinten wie die Schloßhunde. Unter- halten konnten wir uns nicht. Sie war Dänin und verstand noch kaum ein Wort Deutsch. Dann ging sie in ihre kleine Pension, um zu essen, und nachmittags kam sie wieder... Jch verlobte mich mit ihr und schrieb es gleich meinen Eltern.“ Paul, der Lyriker, lächelte. „Wir waren ja noch so jung damals! Und ich stammte aus einem guten, bürgerlichen Haus, wo man auf Zucht und Sitte hielt. Und sie war ja ein anständiges Mädchen... Wochen haben wir so immer beieinander gefessen und sie hat redlich mitgehungert.“ „Hm,“ machte der Lyriker. „Warte nur, es kommt schon... Jch zeichnete damals für allerhand Witzblätter letzten Grades. Bald hatte ich zwei Mark, bald nicht, je nachdem. Schon lange plante ich ein größeres Bild, aber es war nie etwas daraus ge- worden, ich konnte ja das Modell nicht bezahlen, das ich dazu brauchte. Endlich bat ich sie, mir zu sitzen, Halbakt. Sofort zog sie sich aus. Jch sage dir, als sie so vor meinem alten braunen Kachelofen stand, ich habe nie wieder einen so schönen Körper gesehn!... Es riß mich förmlich hin zu ihren Füßen. Da habe ich dann gelegen und sie gestreichelt. Und dann haben wir wieder herz- brechend geweint. Getan hab' ich ihr nichts.“ „Was?!“ „Sie war ja meine Braut, deren Bild bei meinen Eltern auf der Kommode stand, sie war doch ein anständiges Mädchen... Und ich... ich war so ein dummer, dummer Junge damals... Am andern Tag kam sie nicht. Am folgenden Tag ging ich zu ihr. Sie hatte sich zu sehr geschämt. Nun kam sie wieder. Aber unsere Unbefangenheit hörte jetzt selbstverständlich auf, wir waren ja beide junge, kräftige, gesunde Menschen. Wir kämpften einen verzweifelten Kampf. Jch für meine Anständigkeit, denn ich wollte sie ja heiraten, sobald es irgend ging. Sie gegen diese Anständigkeit für ihre Leidenschaft. Und als sie eines Tages die Arme weit geöffnet mir zuflüsterte: ich bitte Dich! — da war es um mich geschehn...“ Eduard schwieg. „Gott sei Dank!“ sagte der Lyriker. „Kennst Du Stendhal?“ fragte Eduard nach einer Weile. „Aber natürlich.“ „Nun ja, er erzählt irgendwo, wie es auch mir damals erging. Er be-

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/36>, abgerufen am 22.11.2024.