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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
Aus Gefühlen, die zusammen stimmen, bildet es die sogenannte Stimmung.
Und wie der Verstand aus seinen Begriffen und Gesetzen die natürlichen Folge-
rungen herausholt, so pflegt das Gemüt seinen Stimmungen vorwiegend solche
Gefühle und Phantasien anzugliedern, die dazu passen. Allerdings ist die
Folgerung, die der Verstand bei strengster Logik aus seinen Begriffen und
Gesetzen zieht, eine Notwendigkeit des Denkens, während die aus bloßer Stim-
mung sich ergebenden Deutungen der Welt keine allgemein verbindlichen, denk-
notwendigen Konsequenzen sind, sondern Annahmen, zu denen lediglich der-
jenige aufgelegt sein kann, der die Stimmung empfindet, sie haben also eine
mehr oder minder subjektive Gültigkeit, so daß sie nicht verständig bewiesen,
sondern als persönliches Bekenntnis ausgesprochen werden, etwa in folgender
Form: "Mir ist zu Mute, als ob das und das der Fall sein müßte."

Zur Erläuterung führe ich eine Probe der Verstandeslogik vor. Der
Naturforscher hat beobachtet, daß eine Flamme, die durch ein dreikantig ge-
schliffenes Glas hindurchscheint, die Farben des Regenbogens an die Wand
malt, und daß an ganz bestimmten Stellen dieser Farben=Skala dunkle Linien
jedesmal dann auftreten, wenn bestimmte Minerale in der Flamme brennen.
Solche Wissenschaft befähigt den Naturforscher, aus den dunkeln Linien des
Regenbogens, den die Sonne mittels des dreikantigen Glases hervorbringt, zu
schließen, welche Minerale in der Sonne brennen -- ein Schluß, der zwar
nicht, wie ein mathematischer, denknotwendig ist, aber jedem Verständigen mit
mehr oder minder Wahrscheinlichkeit einleuchtet. -- Vergleichen wir nun hiermit
eine Probe der Herzenslogik. Als wir Kinder waren, haben wir die Wohltaten der
Mutterliebe besonders lebhaft empfunden, und an diese Empfindung hat sich unsere
Gegenliebe angeschlossen. Wenn nun nach winterlicher Kälte und Dunkelheit
die Frühlingssonne uns wieder licht und warm lächelt, wird etwas wie kindliche
Liebe in unserem Herzen wach; und dann kommt es uns so vor, als sei unsere
kindliche Liebe nur eine gebürende Antwort auf die großartige Mutterliebe,
mit der die Sonne ihre Kinder, Menschen, Tiere und Pflanzen, umfaßt. Die
Herzenslogik, die aus empfangener Wohltat folgert, der Wohltäter werde ein
gütiges, liebevolles Wesen sein, ist offenbar nicht allgemein verbindlich, da
sie zwar das Richtige, aber auch das Unrichtige treffen kann. Es ist eine
persönliche Wahrscheinlichkeit, ein Schluß, der nicht aus genauer Ueberein-
stimmung des zu beurteilenden Falles mit einem andern bekannten Falle gezogen
wird, sondern aus bloßer Aehnlichkeit. Jmmerhin sollten wir bedenken, daß
jegliche Aehnlichkeit auf einer gewissen Uebereinstimmung beruht und als ein
Gemisch aus Gleichheit und Ungleichheit bezeichnet werden darf, daß also die
Herzenslogik auf Folgerungen ausgeht wie der Verstand und unter Umständen
zu Erkenntnissen führen kann. Der Unterschied zwischen Verstandeslogik und
Herzenslogik besteht methodisch darin, daß der Verstand bei seinen Folgerungen
kritisch verfährt, nämlich alle möglichen Deutungen des zu beurteilenden Falles
in kühler Rechnung berücksichtigt, während das Gemüt unter den möglichen
Deutungen diejenige bevorzugt, die seiner Stimmung zusagt. Wenn das Gemüt
sich dankbar der Frühlingssonne freut, ist dieser Stimmung die Deutung
"sympathisch", die Sonne sei eine liebende Mutter. Der Verstand freilich ver-
hehlt sich nicht die Möglichkeit, daß angenehme und heilsame Wirkungen auch
von einem gemütlosen, brutalen Wesen ausgehen können, und daß man die

Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
Aus Gefühlen, die zusammen stimmen, bildet es die sogenannte Stimmung.
Und wie der Verstand aus seinen Begriffen und Gesetzen die natürlichen Folge-
rungen herausholt, so pflegt das Gemüt seinen Stimmungen vorwiegend solche
Gefühle und Phantasien anzugliedern, die dazu passen. Allerdings ist die
Folgerung, die der Verstand bei strengster Logik aus seinen Begriffen und
Gesetzen zieht, eine Notwendigkeit des Denkens, während die aus bloßer Stim-
mung sich ergebenden Deutungen der Welt keine allgemein verbindlichen, denk-
notwendigen Konsequenzen sind, sondern Annahmen, zu denen lediglich der-
jenige aufgelegt sein kann, der die Stimmung empfindet, sie haben also eine
mehr oder minder subjektive Gültigkeit, so daß sie nicht verständig bewiesen,
sondern als persönliches Bekenntnis ausgesprochen werden, etwa in folgender
Form: „Mir ist zu Mute, als ob das und das der Fall sein müßte.“

Zur Erläuterung führe ich eine Probe der Verstandeslogik vor. Der
Naturforscher hat beobachtet, daß eine Flamme, die durch ein dreikantig ge-
schliffenes Glas hindurchscheint, die Farben des Regenbogens an die Wand
malt, und daß an ganz bestimmten Stellen dieser Farben=Skala dunkle Linien
jedesmal dann auftreten, wenn bestimmte Minerale in der Flamme brennen.
Solche Wissenschaft befähigt den Naturforscher, aus den dunkeln Linien des
Regenbogens, den die Sonne mittels des dreikantigen Glases hervorbringt, zu
schließen, welche Minerale in der Sonne brennen — ein Schluß, der zwar
nicht, wie ein mathematischer, denknotwendig ist, aber jedem Verständigen mit
mehr oder minder Wahrscheinlichkeit einleuchtet. — Vergleichen wir nun hiermit
eine Probe der Herzenslogik. Als wir Kinder waren, haben wir die Wohltaten der
Mutterliebe besonders lebhaft empfunden, und an diese Empfindung hat sich unsere
Gegenliebe angeschlossen. Wenn nun nach winterlicher Kälte und Dunkelheit
die Frühlingssonne uns wieder licht und warm lächelt, wird etwas wie kindliche
Liebe in unserem Herzen wach; und dann kommt es uns so vor, als sei unsere
kindliche Liebe nur eine gebürende Antwort auf die großartige Mutterliebe,
mit der die Sonne ihre Kinder, Menschen, Tiere und Pflanzen, umfaßt. Die
Herzenslogik, die aus empfangener Wohltat folgert, der Wohltäter werde ein
gütiges, liebevolles Wesen sein, ist offenbar nicht allgemein verbindlich, da
sie zwar das Richtige, aber auch das Unrichtige treffen kann. Es ist eine
persönliche Wahrscheinlichkeit, ein Schluß, der nicht aus genauer Ueberein-
stimmung des zu beurteilenden Falles mit einem andern bekannten Falle gezogen
wird, sondern aus bloßer Aehnlichkeit. Jmmerhin sollten wir bedenken, daß
jegliche Aehnlichkeit auf einer gewissen Uebereinstimmung beruht und als ein
Gemisch aus Gleichheit und Ungleichheit bezeichnet werden darf, daß also die
Herzenslogik auf Folgerungen ausgeht wie der Verstand und unter Umständen
zu Erkenntnissen führen kann. Der Unterschied zwischen Verstandeslogik und
Herzenslogik besteht methodisch darin, daß der Verstand bei seinen Folgerungen
kritisch verfährt, nämlich alle möglichen Deutungen des zu beurteilenden Falles
in kühler Rechnung berücksichtigt, während das Gemüt unter den möglichen
Deutungen diejenige bevorzugt, die seiner Stimmung zusagt. Wenn das Gemüt
sich dankbar der Frühlingssonne freut, ist dieser Stimmung die Deutung
„sympathisch“, die Sonne sei eine liebende Mutter. Der Verstand freilich ver-
hehlt sich nicht die Möglichkeit, daß angenehme und heilsame Wirkungen auch
von einem gemütlosen, brutalen Wesen ausgehen können, und daß man die

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[616/0024] Dr. Bruno Wille: Herzenslogik. Aus Gefühlen, die zusammen stimmen, bildet es die sogenannte Stimmung. Und wie der Verstand aus seinen Begriffen und Gesetzen die natürlichen Folge- rungen herausholt, so pflegt das Gemüt seinen Stimmungen vorwiegend solche Gefühle und Phantasien anzugliedern, die dazu passen. Allerdings ist die Folgerung, die der Verstand bei strengster Logik aus seinen Begriffen und Gesetzen zieht, eine Notwendigkeit des Denkens, während die aus bloßer Stim- mung sich ergebenden Deutungen der Welt keine allgemein verbindlichen, denk- notwendigen Konsequenzen sind, sondern Annahmen, zu denen lediglich der- jenige aufgelegt sein kann, der die Stimmung empfindet, sie haben also eine mehr oder minder subjektive Gültigkeit, so daß sie nicht verständig bewiesen, sondern als persönliches Bekenntnis ausgesprochen werden, etwa in folgender Form: „Mir ist zu Mute, als ob das und das der Fall sein müßte.“ Zur Erläuterung führe ich eine Probe der Verstandeslogik vor. Der Naturforscher hat beobachtet, daß eine Flamme, die durch ein dreikantig ge- schliffenes Glas hindurchscheint, die Farben des Regenbogens an die Wand malt, und daß an ganz bestimmten Stellen dieser Farben=Skala dunkle Linien jedesmal dann auftreten, wenn bestimmte Minerale in der Flamme brennen. Solche Wissenschaft befähigt den Naturforscher, aus den dunkeln Linien des Regenbogens, den die Sonne mittels des dreikantigen Glases hervorbringt, zu schließen, welche Minerale in der Sonne brennen — ein Schluß, der zwar nicht, wie ein mathematischer, denknotwendig ist, aber jedem Verständigen mit mehr oder minder Wahrscheinlichkeit einleuchtet. — Vergleichen wir nun hiermit eine Probe der Herzenslogik. Als wir Kinder waren, haben wir die Wohltaten der Mutterliebe besonders lebhaft empfunden, und an diese Empfindung hat sich unsere Gegenliebe angeschlossen. Wenn nun nach winterlicher Kälte und Dunkelheit die Frühlingssonne uns wieder licht und warm lächelt, wird etwas wie kindliche Liebe in unserem Herzen wach; und dann kommt es uns so vor, als sei unsere kindliche Liebe nur eine gebürende Antwort auf die großartige Mutterliebe, mit der die Sonne ihre Kinder, Menschen, Tiere und Pflanzen, umfaßt. Die Herzenslogik, die aus empfangener Wohltat folgert, der Wohltäter werde ein gütiges, liebevolles Wesen sein, ist offenbar nicht allgemein verbindlich, da sie zwar das Richtige, aber auch das Unrichtige treffen kann. Es ist eine persönliche Wahrscheinlichkeit, ein Schluß, der nicht aus genauer Ueberein- stimmung des zu beurteilenden Falles mit einem andern bekannten Falle gezogen wird, sondern aus bloßer Aehnlichkeit. Jmmerhin sollten wir bedenken, daß jegliche Aehnlichkeit auf einer gewissen Uebereinstimmung beruht und als ein Gemisch aus Gleichheit und Ungleichheit bezeichnet werden darf, daß also die Herzenslogik auf Folgerungen ausgeht wie der Verstand und unter Umständen zu Erkenntnissen führen kann. Der Unterschied zwischen Verstandeslogik und Herzenslogik besteht methodisch darin, daß der Verstand bei seinen Folgerungen kritisch verfährt, nämlich alle möglichen Deutungen des zu beurteilenden Falles in kühler Rechnung berücksichtigt, während das Gemüt unter den möglichen Deutungen diejenige bevorzugt, die seiner Stimmung zusagt. Wenn das Gemüt sich dankbar der Frühlingssonne freut, ist dieser Stimmung die Deutung „sympathisch“, die Sonne sei eine liebende Mutter. Der Verstand freilich ver- hehlt sich nicht die Möglichkeit, daß angenehme und heilsame Wirkungen auch von einem gemütlosen, brutalen Wesen ausgehen können, und daß man die

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/24>, abgerufen am 24.11.2024.