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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Rich. Calwer: Adolf Wagner.
einerlei, wenn man gelegentlich wieder einmal jemand begegnet, von dem
man den Eindruck erhält: Siehe da, ein Mensch!

Trotzdem Wagner nun schon 40 Jahre Universitätsprofessor ist, hat er es
noch immer nicht zu jenem Gelehrtenstolz gebracht, den sonst schon der jüngste
Privatdozent zur Schau trägt, auch wenn er für die Wissenschaft noch nichts
geleistet hat. Wagner weiß sehr wohl, daß der heutige wissenschaftliche Betrieb
an den Hochschulen noch keineswegs den Fortschritt der Wissenschaft selbst in
sich schließt. Nicht nur einmal, sondern wiederholt hat er auf die wirkliche
Förderung der Wissenschaft durch Außenseiter seine Kollegen von der Zunft
energisch aufmerksam gemacht. Jch erinnere z. B. nur an Liszt, Schäffle,
Lassalle, Marx und Engels. Bei meinem politischen Standpunkte liegt es nahe,
der Jllustration halber an die Art und Weise zu erinnern, wie Wagner seinen
Fachkollegen das zünftlerische Vorurteil gegen Marx benahm. Er tat es wieder-
holt, aber mit besonderem Nachdruck und an besonders hervorragender Stelle,
als er vor zehn Jahren das Rektorat der Universität Berlin antrat. Die
Rede über das Thema "Die akademische Nationalökonomie und der Sozialis-
mus " kennzeichnet die bequeme Art des fachwissenschaftlichen Betriebes, sich mit
dem Sozialismus abzufinden, in einer Weise, die auch heute noch für viele
Universitätsdozenten zur Beachtung dienen kann.

Nach Wagner liegt die Bedeutung des modernen Sozialismus "in dem
Versuch einer umfassenden theoretischen nationalökonomischen Begründung der
Kritik und der Forderungen und, vor allem bei Marx, in dem Versuch des
Nachweises der notwendigen historischen Weiterentwicklung gerade unseres heu-
tigen Wirtschaftssystems zum sozialistischen, also jedenfalls eine historische Auf-
fassung ". Wie aber stellten sich die Vertreter der akademischen Nationalökonomie
zu einem Marx, Lassalle und Engels gegenüber? "Sektierer, Dilettanten er-
schienen den meisten bürgerlichen Oekonomen selbst die literarischen Koryphäen
des wissenschaftlichen Sozialismus." Daß man in dieser Weise aber die
sozialistischen Theoretiker bewertete, das bedeutet nach Wagner ein Armuts-
zeugnis für die zünftige Nationalökonomie, denn man "gab sich das Zeugnis,
daß man sie gar nicht verstand." Wagner meint, es sei allmählich besser ge-
worden. Mag sein, aber so lange es noch Dozenten an den Universitäten
gibt, die die Polemik gegen den Sozialismus in oft geradezu kindlicher Weise
betreiben, die z. B. jeden sozialdemokratischen Schriftsteller nicht anders zu
zitieren belieben als geschmückt mit dem in Gänsefüßchen paradierenden Genossen,
und so lange solche Dozenten mit derartiger wissenschaftlicher Tätigkeit noch
Karriere machen und Ansehen gewinnen, so lange wird man sich über Aus-
nahmen, wie sie Adolf Wagner repräsentiert, freuen dürfen. Die Zünftler
müssen da sein, überall, in jedem Beruf, nicht nur bei den Universitätslehrern,
sondern auch bei den Politikern und Schriftstellern, aber es müssen dazwischen
auch noch Menschen sein, die nicht vom Kastengeist ausschließlich beherrscht
sind.

Den Kastengeist in der Wissenschaft verpönt Wagner und beweist damit,
daß er wirklich ein wissenschaftlicher Kopf ist, so eigenartig und spontan er
sich auch geben mag. Man schlage seine Grundlegung der politischen Oekonomie
auf, wo er von der geistigen Jndividualität der Gelehrten spricht. Ruhig und
überlegen schreibt er den Kollegen folgende Anmerkung ins Stammbuch:

Rich. Calwer: Adolf Wagner.
einerlei, wenn man gelegentlich wieder einmal jemand begegnet, von dem
man den Eindruck erhält: Siehe da, ein Mensch!

Trotzdem Wagner nun schon 40 Jahre Universitätsprofessor ist, hat er es
noch immer nicht zu jenem Gelehrtenstolz gebracht, den sonst schon der jüngste
Privatdozent zur Schau trägt, auch wenn er für die Wissenschaft noch nichts
geleistet hat. Wagner weiß sehr wohl, daß der heutige wissenschaftliche Betrieb
an den Hochschulen noch keineswegs den Fortschritt der Wissenschaft selbst in
sich schließt. Nicht nur einmal, sondern wiederholt hat er auf die wirkliche
Förderung der Wissenschaft durch Außenseiter seine Kollegen von der Zunft
energisch aufmerksam gemacht. Jch erinnere z. B. nur an Liszt, Schäffle,
Lassalle, Marx und Engels. Bei meinem politischen Standpunkte liegt es nahe,
der Jllustration halber an die Art und Weise zu erinnern, wie Wagner seinen
Fachkollegen das zünftlerische Vorurteil gegen Marx benahm. Er tat es wieder-
holt, aber mit besonderem Nachdruck und an besonders hervorragender Stelle,
als er vor zehn Jahren das Rektorat der Universität Berlin antrat. Die
Rede über das Thema „Die akademische Nationalökonomie und der Sozialis-
mus “ kennzeichnet die bequeme Art des fachwissenschaftlichen Betriebes, sich mit
dem Sozialismus abzufinden, in einer Weise, die auch heute noch für viele
Universitätsdozenten zur Beachtung dienen kann.

Nach Wagner liegt die Bedeutung des modernen Sozialismus „in dem
Versuch einer umfassenden theoretischen nationalökonomischen Begründung der
Kritik und der Forderungen und, vor allem bei Marx, in dem Versuch des
Nachweises der notwendigen historischen Weiterentwicklung gerade unseres heu-
tigen Wirtschaftssystems zum sozialistischen, also jedenfalls eine historische Auf-
fassung “. Wie aber stellten sich die Vertreter der akademischen Nationalökonomie
zu einem Marx, Lassalle und Engels gegenüber? „Sektierer, Dilettanten er-
schienen den meisten bürgerlichen Oekonomen selbst die literarischen Koryphäen
des wissenschaftlichen Sozialismus.“ Daß man in dieser Weise aber die
sozialistischen Theoretiker bewertete, das bedeutet nach Wagner ein Armuts-
zeugnis für die zünftige Nationalökonomie, denn man „gab sich das Zeugnis,
daß man sie gar nicht verstand.“ Wagner meint, es sei allmählich besser ge-
worden. Mag sein, aber so lange es noch Dozenten an den Universitäten
gibt, die die Polemik gegen den Sozialismus in oft geradezu kindlicher Weise
betreiben, die z. B. jeden sozialdemokratischen Schriftsteller nicht anders zu
zitieren belieben als geschmückt mit dem in Gänsefüßchen paradierenden Genossen,
und so lange solche Dozenten mit derartiger wissenschaftlicher Tätigkeit noch
Karrière machen und Ansehen gewinnen, so lange wird man sich über Aus-
nahmen, wie sie Adolf Wagner repräsentiert, freuen dürfen. Die Zünftler
müssen da sein, überall, in jedem Beruf, nicht nur bei den Universitätslehrern,
sondern auch bei den Politikern und Schriftstellern, aber es müssen dazwischen
auch noch Menschen sein, die nicht vom Kastengeist ausschließlich beherrscht
sind.

Den Kastengeist in der Wissenschaft verpönt Wagner und beweist damit,
daß er wirklich ein wissenschaftlicher Kopf ist, so eigenartig und spontan er
sich auch geben mag. Man schlage seine Grundlegung der politischen Oekonomie
auf, wo er von der geistigen Jndividualität der Gelehrten spricht. Ruhig und
überlegen schreibt er den Kollegen folgende Anmerkung ins Stammbuch:

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[451/0019] Rich. Calwer: Adolf Wagner. einerlei, wenn man gelegentlich wieder einmal jemand begegnet, von dem man den Eindruck erhält: Siehe da, ein Mensch! Trotzdem Wagner nun schon 40 Jahre Universitätsprofessor ist, hat er es noch immer nicht zu jenem Gelehrtenstolz gebracht, den sonst schon der jüngste Privatdozent zur Schau trägt, auch wenn er für die Wissenschaft noch nichts geleistet hat. Wagner weiß sehr wohl, daß der heutige wissenschaftliche Betrieb an den Hochschulen noch keineswegs den Fortschritt der Wissenschaft selbst in sich schließt. Nicht nur einmal, sondern wiederholt hat er auf die wirkliche Förderung der Wissenschaft durch Außenseiter seine Kollegen von der Zunft energisch aufmerksam gemacht. Jch erinnere z. B. nur an Liszt, Schäffle, Lassalle, Marx und Engels. Bei meinem politischen Standpunkte liegt es nahe, der Jllustration halber an die Art und Weise zu erinnern, wie Wagner seinen Fachkollegen das zünftlerische Vorurteil gegen Marx benahm. Er tat es wieder- holt, aber mit besonderem Nachdruck und an besonders hervorragender Stelle, als er vor zehn Jahren das Rektorat der Universität Berlin antrat. Die Rede über das Thema „Die akademische Nationalökonomie und der Sozialis- mus “ kennzeichnet die bequeme Art des fachwissenschaftlichen Betriebes, sich mit dem Sozialismus abzufinden, in einer Weise, die auch heute noch für viele Universitätsdozenten zur Beachtung dienen kann. Nach Wagner liegt die Bedeutung des modernen Sozialismus „in dem Versuch einer umfassenden theoretischen nationalökonomischen Begründung der Kritik und der Forderungen und, vor allem bei Marx, in dem Versuch des Nachweises der notwendigen historischen Weiterentwicklung gerade unseres heu- tigen Wirtschaftssystems zum sozialistischen, also jedenfalls eine historische Auf- fassung “. Wie aber stellten sich die Vertreter der akademischen Nationalökonomie zu einem Marx, Lassalle und Engels gegenüber? „Sektierer, Dilettanten er- schienen den meisten bürgerlichen Oekonomen selbst die literarischen Koryphäen des wissenschaftlichen Sozialismus.“ Daß man in dieser Weise aber die sozialistischen Theoretiker bewertete, das bedeutet nach Wagner ein Armuts- zeugnis für die zünftige Nationalökonomie, denn man „gab sich das Zeugnis, daß man sie gar nicht verstand.“ Wagner meint, es sei allmählich besser ge- worden. Mag sein, aber so lange es noch Dozenten an den Universitäten gibt, die die Polemik gegen den Sozialismus in oft geradezu kindlicher Weise betreiben, die z. B. jeden sozialdemokratischen Schriftsteller nicht anders zu zitieren belieben als geschmückt mit dem in Gänsefüßchen paradierenden Genossen, und so lange solche Dozenten mit derartiger wissenschaftlicher Tätigkeit noch Karrière machen und Ansehen gewinnen, so lange wird man sich über Aus- nahmen, wie sie Adolf Wagner repräsentiert, freuen dürfen. Die Zünftler müssen da sein, überall, in jedem Beruf, nicht nur bei den Universitätslehrern, sondern auch bei den Politikern und Schriftstellern, aber es müssen dazwischen auch noch Menschen sein, die nicht vom Kastengeist ausschließlich beherrscht sind. Den Kastengeist in der Wissenschaft verpönt Wagner und beweist damit, daß er wirklich ein wissenschaftlicher Kopf ist, so eigenartig und spontan er sich auch geben mag. Man schlage seine Grundlegung der politischen Oekonomie auf, wo er von der geistigen Jndividualität der Gelehrten spricht. Ruhig und überlegen schreibt er den Kollegen folgende Anmerkung ins Stammbuch:

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/19>, abgerufen am 27.11.2024.