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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Dr. Monty Jacobs: Schusselchen.
Betrachter des deutschen Dramas besonders müssen auf den Gedanken kommen,
daß eine gute Komödie doch wohl etwas viel Selteneres und Schwierigeres
sein müsse als ein brauchbares Trauerspiel.

Destomehr verstimmt es uns, wenn sich ein ausgesprochenes Komödien-
talent selbst die Tür zur Erfolg verrammelt. Solch ein Talent aber offenbart
sich ohne Frage in Reickes neuer Bühnenschöpfung. Wie leicht und frei und
übermütig hebt sie den Vorhang vor einer schnurrigen Lebensgemeinschaft. Vor
der Ehe des Landgerichtsrats Hessen und seiner Christine. Beruf: Malerin.
Herkunft: polnische Wirtschaft eines heruntergekommenen Agrariers, dessen
Baronin im Rotspohn davonschwamm. Besondere Kennzeichen: ererbte Schlam-
perei, mangelndes Talent für Hausordnnng, Kinderpflege, Bürgersinn. Jhre
berechtigte Eigentümlichkeit ist, Kleiderflecken durch Tempera zu vertuschen,
Frackshlipse als Lesezeichen, den Fußboden als Wäschespind zu benutzen.

Der tolle Wirbel dieser Ehe erheitert zu Beginn des Stücks mit einer
Fülle amüsanter Einfälle nicht blos die Hausfrauen im Parkett. Denn über
die bloße komische Situation hinaus kommt hier ein reiner künstlerischer Genuß
auf. Reicke gehört nämlich zu den Wenigen, die über der Situation zu stehen
wissen. Er klebt nicht am Stoffe, er delektiert sich nicht an Abtrumpfungen,
er will nicht nach Dilettantenart Recht und Unrecht verteilen. Jhm ist das
Erbteil des echten Humoristen geworden, rechts wie links das Menschliche
lachend aufzuspüren. So ist auch Schusselchens Ehegemahl trotz einer gewissen
Armut an differenzierenden Einzelzügen eine gut gesehene Figur. Beamter
genug, um die Zigeunerwirtschaft händeringend zu beklagen, um die Mutter
als Oberaufsicht zu bestellen. Künstler genug, um trotz alledem an Christines
Trubel Gefallen zu finden, um sich aus der korrekten Langeweile herauszusehnen.

Hier liegt der Keim zu einer prächtigen, von innen herausgestalteten
Ehekomödie, Ehe=Tragikomödie meinetwegen. Der Gatte, der sich so unbändig
"modern" vorkommt, ohne im Grunde über die hausbackene Weltweisheit der
lieben Mama hinausgedrungen zu sein. Die Gattin, die in dieser Mama die
verkörperte Weltordnung haßt und doch insgeheim als etwas Überlegenes be-
wundert. Wer diese Kontraste ausschöpft, wer sie zur Versöhnung oder zum
Zusammenprall bringt, könnte als ein neuer Jbsen ein heiter=ernstes Gegenspiel
zur "Nora" schaffen.

Solche Pfade ist Georg Reicke im weiteren Verlauf seiner Bühnendichtung
leider nicht gewandelt. Er veräußerlicht das Problem, statt es zu verinnerlichen.
Noch ist seine Kraft nicht reif genug, um die intime Wechselwirkung zu be-
seelen, die das Auseinanderstreben zweier zusammengeschmiedeter Temperamente
bedingt. Noch braucht er dazu den Anstoß von außen: im entscheidenden
Moment breitet der Verführer die Arme aus. Noch kann er nicht zeigen, wie
eine Ehe zerbricht, sondern nur, wie sie gebrochen wird. Doch selbst die banale
Ehebruchsgeschichte, die nun folgt, trägt noch das eigene Gegräge dieses naiven
Dramatikers. Denn Schusselchen ist nicht zur Diplomatin geboren. So offen,
wie sie zur Schwiegermutter sagt "Reise ab!", wie sie zu dem verführenden
Maler=Vetter sagt "Nimm mich hin!", so offen beichtet sie dem Gatten ihre
Schuld. Jn einem andern Motiv streift ihre und ihres Dichters Kindlichkeit
an Wedekindlichkeit. Denn nicht als Entgleisung, sondern als mutiges Wagnis
kann ein Wohlgesinnter die letzte, äußerste "Schussligkeit" der Ehebrecherin auf-
fassen. Sie schreibt einen kompromittierenden Brief an den "Genossen ihrer

Dr. Monty Jacobs: Schusselchen.
Betrachter des deutschen Dramas besonders müssen auf den Gedanken kommen,
daß eine gute Komödie doch wohl etwas viel Selteneres und Schwierigeres
sein müsse als ein brauchbares Trauerspiel.

Destomehr verstimmt es uns, wenn sich ein ausgesprochenes Komödien-
talent selbst die Tür zur Erfolg verrammelt. Solch ein Talent aber offenbart
sich ohne Frage in Reickes neuer Bühnenschöpfung. Wie leicht und frei und
übermütig hebt sie den Vorhang vor einer schnurrigen Lebensgemeinschaft. Vor
der Ehe des Landgerichtsrats Hessen und seiner Christine. Beruf: Malerin.
Herkunft: polnische Wirtschaft eines heruntergekommenen Agrariers, dessen
Baronin im Rotspohn davonschwamm. Besondere Kennzeichen: ererbte Schlam-
perei, mangelndes Talent für Hausordnnng, Kinderpflege, Bürgersinn. Jhre
berechtigte Eigentümlichkeit ist, Kleiderflecken durch Tempera zu vertuschen,
Frackshlipse als Lesezeichen, den Fußboden als Wäschespind zu benutzen.

Der tolle Wirbel dieser Ehe erheitert zu Beginn des Stücks mit einer
Fülle amüsanter Einfälle nicht blos die Hausfrauen im Parkett. Denn über
die bloße komische Situation hinaus kommt hier ein reiner künstlerischer Genuß
auf. Reicke gehört nämlich zu den Wenigen, die über der Situation zu stehen
wissen. Er klebt nicht am Stoffe, er delektiert sich nicht an Abtrumpfungen,
er will nicht nach Dilettantenart Recht und Unrecht verteilen. Jhm ist das
Erbteil des echten Humoristen geworden, rechts wie links das Menschliche
lachend aufzuspüren. So ist auch Schusselchens Ehegemahl trotz einer gewissen
Armut an differenzierenden Einzelzügen eine gut gesehene Figur. Beamter
genug, um die Zigeunerwirtschaft händeringend zu beklagen, um die Mutter
als Oberaufsicht zu bestellen. Künstler genug, um trotz alledem an Christines
Trubel Gefallen zu finden, um sich aus der korrekten Langeweile herauszusehnen.

Hier liegt der Keim zu einer prächtigen, von innen herausgestalteten
Ehekomödie, Ehe=Tragikomödie meinetwegen. Der Gatte, der sich so unbändig
„modern“ vorkommt, ohne im Grunde über die hausbackene Weltweisheit der
lieben Mama hinausgedrungen zu sein. Die Gattin, die in dieser Mama die
verkörperte Weltordnung haßt und doch insgeheim als etwas Überlegenes be-
wundert. Wer diese Kontraste ausschöpft, wer sie zur Versöhnung oder zum
Zusammenprall bringt, könnte als ein neuer Jbsen ein heiter=ernstes Gegenspiel
zur „Nora“ schaffen.

Solche Pfade ist Georg Reicke im weiteren Verlauf seiner Bühnendichtung
leider nicht gewandelt. Er veräußerlicht das Problem, statt es zu verinnerlichen.
Noch ist seine Kraft nicht reif genug, um die intime Wechselwirkung zu be-
seelen, die das Auseinanderstreben zweier zusammengeschmiedeter Temperamente
bedingt. Noch braucht er dazu den Anstoß von außen: im entscheidenden
Moment breitet der Verführer die Arme aus. Noch kann er nicht zeigen, wie
eine Ehe zerbricht, sondern nur, wie sie gebrochen wird. Doch selbst die banale
Ehebruchsgeschichte, die nun folgt, trägt noch das eigene Gegräge dieses naiven
Dramatikers. Denn Schusselchen ist nicht zur Diplomatin geboren. So offen,
wie sie zur Schwiegermutter sagt „Reise ab!“, wie sie zu dem verführenden
Maler=Vetter sagt „Nimm mich hin!“, so offen beichtet sie dem Gatten ihre
Schuld. Jn einem andern Motiv streift ihre und ihres Dichters Kindlichkeit
an Wedekindlichkeit. Denn nicht als Entgleisung, sondern als mutiges Wagnis
kann ein Wohlgesinnter die letzte, äußerste „Schussligkeit“ der Ehebrecherin auf-
fassen. Sie schreibt einen kompromittierenden Brief an den „Genossen ihrer

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[285/0045] Dr. Monty Jacobs: Schusselchen. Betrachter des deutschen Dramas besonders müssen auf den Gedanken kommen, daß eine gute Komödie doch wohl etwas viel Selteneres und Schwierigeres sein müsse als ein brauchbares Trauerspiel. Destomehr verstimmt es uns, wenn sich ein ausgesprochenes Komödien- talent selbst die Tür zur Erfolg verrammelt. Solch ein Talent aber offenbart sich ohne Frage in Reickes neuer Bühnenschöpfung. Wie leicht und frei und übermütig hebt sie den Vorhang vor einer schnurrigen Lebensgemeinschaft. Vor der Ehe des Landgerichtsrats Hessen und seiner Christine. Beruf: Malerin. Herkunft: polnische Wirtschaft eines heruntergekommenen Agrariers, dessen Baronin im Rotspohn davonschwamm. Besondere Kennzeichen: ererbte Schlam- perei, mangelndes Talent für Hausordnnng, Kinderpflege, Bürgersinn. Jhre berechtigte Eigentümlichkeit ist, Kleiderflecken durch Tempera zu vertuschen, Frackshlipse als Lesezeichen, den Fußboden als Wäschespind zu benutzen. Der tolle Wirbel dieser Ehe erheitert zu Beginn des Stücks mit einer Fülle amüsanter Einfälle nicht blos die Hausfrauen im Parkett. Denn über die bloße komische Situation hinaus kommt hier ein reiner künstlerischer Genuß auf. Reicke gehört nämlich zu den Wenigen, die über der Situation zu stehen wissen. Er klebt nicht am Stoffe, er delektiert sich nicht an Abtrumpfungen, er will nicht nach Dilettantenart Recht und Unrecht verteilen. Jhm ist das Erbteil des echten Humoristen geworden, rechts wie links das Menschliche lachend aufzuspüren. So ist auch Schusselchens Ehegemahl trotz einer gewissen Armut an differenzierenden Einzelzügen eine gut gesehene Figur. Beamter genug, um die Zigeunerwirtschaft händeringend zu beklagen, um die Mutter als Oberaufsicht zu bestellen. Künstler genug, um trotz alledem an Christines Trubel Gefallen zu finden, um sich aus der korrekten Langeweile herauszusehnen. Hier liegt der Keim zu einer prächtigen, von innen herausgestalteten Ehekomödie, Ehe=Tragikomödie meinetwegen. Der Gatte, der sich so unbändig „modern“ vorkommt, ohne im Grunde über die hausbackene Weltweisheit der lieben Mama hinausgedrungen zu sein. Die Gattin, die in dieser Mama die verkörperte Weltordnung haßt und doch insgeheim als etwas Überlegenes be- wundert. Wer diese Kontraste ausschöpft, wer sie zur Versöhnung oder zum Zusammenprall bringt, könnte als ein neuer Jbsen ein heiter=ernstes Gegenspiel zur „Nora“ schaffen. Solche Pfade ist Georg Reicke im weiteren Verlauf seiner Bühnendichtung leider nicht gewandelt. Er veräußerlicht das Problem, statt es zu verinnerlichen. Noch ist seine Kraft nicht reif genug, um die intime Wechselwirkung zu be- seelen, die das Auseinanderstreben zweier zusammengeschmiedeter Temperamente bedingt. Noch braucht er dazu den Anstoß von außen: im entscheidenden Moment breitet der Verführer die Arme aus. Noch kann er nicht zeigen, wie eine Ehe zerbricht, sondern nur, wie sie gebrochen wird. Doch selbst die banale Ehebruchsgeschichte, die nun folgt, trägt noch das eigene Gegräge dieses naiven Dramatikers. Denn Schusselchen ist nicht zur Diplomatin geboren. So offen, wie sie zur Schwiegermutter sagt „Reise ab!“, wie sie zu dem verführenden Maler=Vetter sagt „Nimm mich hin!“, so offen beichtet sie dem Gatten ihre Schuld. Jn einem andern Motiv streift ihre und ihres Dichters Kindlichkeit an Wedekindlichkeit. Denn nicht als Entgleisung, sondern als mutiges Wagnis kann ein Wohlgesinnter die letzte, äußerste „Schussligkeit“ der Ehebrecherin auf- fassen. Sie schreibt einen kompromittierenden Brief an den „Genossen ihrer

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/45>, abgerufen am 22.11.2024.