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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Das Moskauer Attentat.
Von Ed. Bernstein, M. d. R.

Es hat der Vorsehung gefallen...

Die gewaltsame Tötung des Großfürsten Sergius, des erbittertsten Ver-
fechters der Gewaltpolitik am Zarenhofe, ist in Europa mit den gleichen Emp-
findungen aufgenommen worden, wie Ende Juli v. Js. die gewaltsame Tö-
tung des eifrigsten der ministeriellen Vertreter dieser Gewaltpolitik: Plehwe.
Was auch nur einigermaßen energisch für demokratischen Fortschritt eintritt,
begrüßte das Ereignis wie eine Befreiung. Aber auch von denen, die in
Mittel= und Westeuropa den Konservatismus vertreten, ließen nur wenige
Worte rückhaltloser Verurteilung vernehmen. Zu mächtig war das Gefühl,
daß diese gewaltsamen Tötungen in Rußland etwas anderes sind, etwas an-
deres bedeuten, als was man gewöhnlich unter Attentaten versteht.

Das Attentat ist ein Akt der Selbsthilfe gegen das Gesetz und durch
dieses geschützte Personen oder Jnstitute, eine gewaltsame Durchbrechung
einer Rechtsordnung oder -- im weiteren Sinne -- Rechtsidee. Jmmer ist
mit ihm die Vorstellung individuellen Eingriffs in den geordneten Gang der
Dinge verbunden. Hier aber erscheint die Tat ganz und gar nicht als zufällig
oder gar willkürlich. Sie wird als etwas Notwendiges, Unausbleibliches, in
der Natur der Dinge Liegendes selbst von denen empfunden, die diesseits der
deutschen Grenzen schon die leiseste Auflehnung gegen die gesetzliche Ordnung
als verbrecherisch verwerfen.

Darum hatte Zar Nikolaus II. das Richtige getroffen, als er seinen
Ukas, der dem Volk die Kunde vom gewaltsamen Tode seines Oheims mit-
teilen sollte, mit den Worten einleiten ließ: es hat der Vorsehung gefallen.

Der Vorsehung hat das Attentat ganz sicher gefallen. Denn was ist
die Vorsehung anders, als die Personifikation der Notwendigkeit? Die ge-
waltsame Beseitigung des Großfürsten Sergius Alexandrowitsch war im Ver-
lauf der Ereignisse der letzten Wochen unausbleiblich geworden, sollte der
große Drang nach politischer Reform, der jetzt durch alle geistig regeren Teile
des russischen Volkes zieht, nicht selbst gewaltsam erdrückt werden.

Verschiedentlich ist der Bombenwurf vom 17. Februar rein ethisch be-
urteilt worden, als eine Vergeltung für all die scheußlichen Gewalttaten, deren
geistiger Urheber der Getötete war. Der bisher ungenannte Täter wird als
der Rächer betrachtet, der Sühne eingeholt habe für all die Opfer, die Groß-
fürst Sergius auf dem Gewissen hatte.

Wir sehen die Tat anders an. Welche Empfindungen auch den noch
ungenannten jungen Mann, der sein Leben so mutig in die Schanze warf,
zum Bombenwurf veranlaßten, geschichtlich war er mehr als bloß Rächer.


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Das Moskauer Attentat.
Von Ed. Bernstein, M. d. R.

Es hat der Vorsehung gefallen...

Die gewaltsame Tötung des Großfürsten Sergius, des erbittertsten Ver-
fechters der Gewaltpolitik am Zarenhofe, ist in Europa mit den gleichen Emp-
findungen aufgenommen worden, wie Ende Juli v. Js. die gewaltsame Tö-
tung des eifrigsten der ministeriellen Vertreter dieser Gewaltpolitik: Plehwe.
Was auch nur einigermaßen energisch für demokratischen Fortschritt eintritt,
begrüßte das Ereignis wie eine Befreiung. Aber auch von denen, die in
Mittel= und Westeuropa den Konservatismus vertreten, ließen nur wenige
Worte rückhaltloser Verurteilung vernehmen. Zu mächtig war das Gefühl,
daß diese gewaltsamen Tötungen in Rußland etwas anderes sind, etwas an-
deres bedeuten, als was man gewöhnlich unter Attentaten versteht.

Das Attentat ist ein Akt der Selbsthilfe gegen das Gesetz und durch
dieses geschützte Personen oder Jnstitute, eine gewaltsame Durchbrechung
einer Rechtsordnung oder — im weiteren Sinne — Rechtsidee. Jmmer ist
mit ihm die Vorstellung individuellen Eingriffs in den geordneten Gang der
Dinge verbunden. Hier aber erscheint die Tat ganz und gar nicht als zufällig
oder gar willkürlich. Sie wird als etwas Notwendiges, Unausbleibliches, in
der Natur der Dinge Liegendes selbst von denen empfunden, die diesseits der
deutschen Grenzen schon die leiseste Auflehnung gegen die gesetzliche Ordnung
als verbrecherisch verwerfen.

Darum hatte Zar Nikolaus II. das Richtige getroffen, als er seinen
Ukas, der dem Volk die Kunde vom gewaltsamen Tode seines Oheims mit-
teilen sollte, mit den Worten einleiten ließ: es hat der Vorsehung gefallen.

Der Vorsehung hat das Attentat ganz sicher gefallen. Denn was ist
die Vorsehung anders, als die Personifikation der Notwendigkeit? Die ge-
waltsame Beseitigung des Großfürsten Sergius Alexandrowitsch war im Ver-
lauf der Ereignisse der letzten Wochen unausbleiblich geworden, sollte der
große Drang nach politischer Reform, der jetzt durch alle geistig regeren Teile
des russischen Volkes zieht, nicht selbst gewaltsam erdrückt werden.

Verschiedentlich ist der Bombenwurf vom 17. Februar rein ethisch be-
urteilt worden, als eine Vergeltung für all die scheußlichen Gewalttaten, deren
geistiger Urheber der Getötete war. Der bisher ungenannte Täter wird als
der Rächer betrachtet, der Sühne eingeholt habe für all die Opfer, die Groß-
fürst Sergius auf dem Gewissen hatte.

Wir sehen die Tat anders an. Welche Empfindungen auch den noch
ungenannten jungen Mann, der sein Leben so mutig in die Schanze warf,
zum Bombenwurf veranlaßten, geschichtlich war er mehr als bloß Rächer.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. [242]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/2>, abgerufen am 23.11.2024.