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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Prof. F. Staudinger: Sozialliberalismus und Sozialdemokratie.
beim Kleinbetrieb arbeitete der Mensch direkt oder indirekt zur Befriedigung
seiner Bedürfnisse, in den kapitalistischen Betrieben aber wird der Mensch mit
samt seinen Konsumbedürfnissen Mittel zum Zweck, und zwar dem Zweck der
bloßen Kapitalvermehrung und Kapitalmacht. Diese hat die alte richtige Be-
ziehung zwischen Mensch und Produkt in ihr Gegenteil umgekehrt und den
Menschen damit zum Sklaven eines toten Mechanismus herabgewürdigt.
"Grundsätzlich" ist aber doch an dem Satze nichts auszusetzen. Und ebensowenig
kann bei sozial denkenden Menschen über das "Ziel" ein Streit sein. Hier
kann tatsächlich nur über den Umfang und die Methoden gestritten werden, mit
denen man zum Ziele gelangen kann.

Sodann heißt es 3.: daß die gesellschaftliche Umwandlung eine Befreiung
nicht bloß des Proletariats, sondern des ganzen Menschengeschlechts bedeute, daß
diese Befreiung nur das Werk der Arbeiterklasse sein könne, daß dieser Kampf
ein politischer Kampf sein müsse und daß er den vorherigen Besitz der politischen
Macht voraussetze.

Von diesen vier Punkten ist der erste jedenfalls uneingeschränkt zu be-
jahen, den dritten kann man zugeben, wenn man das Wörtchen "auch" hinzu-
fügt; den zweiten und vierten freilich muß man mit bedeutenden Fragezeichen
versehen. Hier beginnt der berechtigte Gegensatz zu der Sozialdemokratie,
wenigstens der heute noch offiziellen Observanz. Es ist sehr unwahrscheinlich,
daß die Arbeiterklasse jemals "allein" etwas Erhebliches wird erreichen können,
und es ist noch unwahrscheinlicher, daß sie "erst" die politische Macht erobert.
Die politische Macht folgt nach den eigenen Lehren von Marx und Engels der
ökonomischen Macht nach. Wo ist aber die ökonomische Macht der Arbeiter-
klasse? Der letzte Streik lehrt es auf das deutlichste. Sie können, wie auch
die Sklaven des Altertums, ihre Herren einmal momentan in Schrecken setzen,
an der Zwingburg des Kapitalismus zu rütteln vermögen sie nicht.

Ja, wenn bereits eine mächtige Organisation der Konsumenten bestände,
eine solche, die sich nicht ihre Ersparnisse wieder in "Dividenden" verzettelt,
sondern einen großen gemeinsamen Schatz aufhäufte. Sie besäße dann eine
Fülle bedeutsamer eigener Produktionen, hätte endlich soviel Überschüsse ange-
häuft, daß sie gelegentlich in den Besitz von Aktien der Privatbetriebe kommen
und deren Profitinteresse dem Konsuminteresse dienstbar machen könnte: dann
könnte von einer positiven Beeinflussung des Gesamtlebens, und so auch des
politischen Lebens die Rede sein.

Hier ist die Sozialdemokratie alten Stils wirklich mit Grund zu be-
kämpfen. Jndem sie Produzentenpolitik statt Konsumentenpolitik treibt, steht
sie noch, ohne es zu merken, im Banne durchaus kapitalistischer Anschauungs-
weise. Denn gerade das ist ja das Charakteristische des Kapitalismus, daß er
die Volkswirtschaft ausschließlich unter dem Gesichtspunkte des Produzenten,
statt unter dem Gesichtspunkte des Konsums, des natürlichen Zwecks aller
Produktion betrachtet. Hinter der "Produktion" steht aber dann das Jnteresse
des Kapitals, das Herrschaft fordert und sich verwerten will, nicht das " Produ-
zenten " =Jnteresse des Arbeiters. Denn der ist heut Werkzeug. Die Nütz-
lichkeit der Produkte ist dem Kapitalismus nur Voraussetzung und Mittel zum
Zweck; das hat Marx in seiner Wertlehre fein erkannt. Die Politik der Sozial-
demokratie ist aber einfach aus dem schiefen Gegensatze des "produzierenden"
Arbeiters zum ausbeutenden Unternehmer entwickelt, statt aus dem sachlichen

Prof. F. Staudinger: Sozialliberalismus und Sozialdemokratie.
beim Kleinbetrieb arbeitete der Mensch direkt oder indirekt zur Befriedigung
seiner Bedürfnisse, in den kapitalistischen Betrieben aber wird der Mensch mit
samt seinen Konsumbedürfnissen Mittel zum Zweck, und zwar dem Zweck der
bloßen Kapitalvermehrung und Kapitalmacht. Diese hat die alte richtige Be-
ziehung zwischen Mensch und Produkt in ihr Gegenteil umgekehrt und den
Menschen damit zum Sklaven eines toten Mechanismus herabgewürdigt.
„Grundsätzlich“ ist aber doch an dem Satze nichts auszusetzen. Und ebensowenig
kann bei sozial denkenden Menschen über das „Ziel“ ein Streit sein. Hier
kann tatsächlich nur über den Umfang und die Methoden gestritten werden, mit
denen man zum Ziele gelangen kann.

Sodann heißt es 3.: daß die gesellschaftliche Umwandlung eine Befreiung
nicht bloß des Proletariats, sondern des ganzen Menschengeschlechts bedeute, daß
diese Befreiung nur das Werk der Arbeiterklasse sein könne, daß dieser Kampf
ein politischer Kampf sein müsse und daß er den vorherigen Besitz der politischen
Macht voraussetze.

Von diesen vier Punkten ist der erste jedenfalls uneingeschränkt zu be-
jahen, den dritten kann man zugeben, wenn man das Wörtchen „auch“ hinzu-
fügt; den zweiten und vierten freilich muß man mit bedeutenden Fragezeichen
versehen. Hier beginnt der berechtigte Gegensatz zu der Sozialdemokratie,
wenigstens der heute noch offiziellen Observanz. Es ist sehr unwahrscheinlich,
daß die Arbeiterklasse jemals „allein“ etwas Erhebliches wird erreichen können,
und es ist noch unwahrscheinlicher, daß sie „erst“ die politische Macht erobert.
Die politische Macht folgt nach den eigenen Lehren von Marx und Engels der
ökonomischen Macht nach. Wo ist aber die ökonomische Macht der Arbeiter-
klasse? Der letzte Streik lehrt es auf das deutlichste. Sie können, wie auch
die Sklaven des Altertums, ihre Herren einmal momentan in Schrecken setzen,
an der Zwingburg des Kapitalismus zu rütteln vermögen sie nicht.

Ja, wenn bereits eine mächtige Organisation der Konsumenten bestände,
eine solche, die sich nicht ihre Ersparnisse wieder in „Dividenden“ verzettelt,
sondern einen großen gemeinsamen Schatz aufhäufte. Sie besäße dann eine
Fülle bedeutsamer eigener Produktionen, hätte endlich soviel Überschüsse ange-
häuft, daß sie gelegentlich in den Besitz von Aktien der Privatbetriebe kommen
und deren Profitinteresse dem Konsuminteresse dienstbar machen könnte: dann
könnte von einer positiven Beeinflussung des Gesamtlebens, und so auch des
politischen Lebens die Rede sein.

Hier ist die Sozialdemokratie alten Stils wirklich mit Grund zu be-
kämpfen. Jndem sie Produzentenpolitik statt Konsumentenpolitik treibt, steht
sie noch, ohne es zu merken, im Banne durchaus kapitalistischer Anschauungs-
weise. Denn gerade das ist ja das Charakteristische des Kapitalismus, daß er
die Volkswirtschaft ausschließlich unter dem Gesichtspunkte des Produzenten,
statt unter dem Gesichtspunkte des Konsums, des natürlichen Zwecks aller
Produktion betrachtet. Hinter der „Produktion“ steht aber dann das Jnteresse
des Kapitals, das Herrschaft fordert und sich verwerten will, nicht das „ Produ-
zenten “ =Jnteresse des Arbeiters. Denn der ist heut Werkzeug. Die Nütz-
lichkeit der Produkte ist dem Kapitalismus nur Voraussetzung und Mittel zum
Zweck; das hat Marx in seiner Wertlehre fein erkannt. Die Politik der Sozial-
demokratie ist aber einfach aus dem schiefen Gegensatze des „produzierenden“
Arbeiters zum ausbeutenden Unternehmer entwickelt, statt aus dem sachlichen

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[256/0016] Prof. F. Staudinger: Sozialliberalismus und Sozialdemokratie. beim Kleinbetrieb arbeitete der Mensch direkt oder indirekt zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, in den kapitalistischen Betrieben aber wird der Mensch mit samt seinen Konsumbedürfnissen Mittel zum Zweck, und zwar dem Zweck der bloßen Kapitalvermehrung und Kapitalmacht. Diese hat die alte richtige Be- ziehung zwischen Mensch und Produkt in ihr Gegenteil umgekehrt und den Menschen damit zum Sklaven eines toten Mechanismus herabgewürdigt. „Grundsätzlich“ ist aber doch an dem Satze nichts auszusetzen. Und ebensowenig kann bei sozial denkenden Menschen über das „Ziel“ ein Streit sein. Hier kann tatsächlich nur über den Umfang und die Methoden gestritten werden, mit denen man zum Ziele gelangen kann. Sodann heißt es 3.: daß die gesellschaftliche Umwandlung eine Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des ganzen Menschengeschlechts bedeute, daß diese Befreiung nur das Werk der Arbeiterklasse sein könne, daß dieser Kampf ein politischer Kampf sein müsse und daß er den vorherigen Besitz der politischen Macht voraussetze. Von diesen vier Punkten ist der erste jedenfalls uneingeschränkt zu be- jahen, den dritten kann man zugeben, wenn man das Wörtchen „auch“ hinzu- fügt; den zweiten und vierten freilich muß man mit bedeutenden Fragezeichen versehen. Hier beginnt der berechtigte Gegensatz zu der Sozialdemokratie, wenigstens der heute noch offiziellen Observanz. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Arbeiterklasse jemals „allein“ etwas Erhebliches wird erreichen können, und es ist noch unwahrscheinlicher, daß sie „erst“ die politische Macht erobert. Die politische Macht folgt nach den eigenen Lehren von Marx und Engels der ökonomischen Macht nach. Wo ist aber die ökonomische Macht der Arbeiter- klasse? Der letzte Streik lehrt es auf das deutlichste. Sie können, wie auch die Sklaven des Altertums, ihre Herren einmal momentan in Schrecken setzen, an der Zwingburg des Kapitalismus zu rütteln vermögen sie nicht. Ja, wenn bereits eine mächtige Organisation der Konsumenten bestände, eine solche, die sich nicht ihre Ersparnisse wieder in „Dividenden“ verzettelt, sondern einen großen gemeinsamen Schatz aufhäufte. Sie besäße dann eine Fülle bedeutsamer eigener Produktionen, hätte endlich soviel Überschüsse ange- häuft, daß sie gelegentlich in den Besitz von Aktien der Privatbetriebe kommen und deren Profitinteresse dem Konsuminteresse dienstbar machen könnte: dann könnte von einer positiven Beeinflussung des Gesamtlebens, und so auch des politischen Lebens die Rede sein. Hier ist die Sozialdemokratie alten Stils wirklich mit Grund zu be- kämpfen. Jndem sie Produzentenpolitik statt Konsumentenpolitik treibt, steht sie noch, ohne es zu merken, im Banne durchaus kapitalistischer Anschauungs- weise. Denn gerade das ist ja das Charakteristische des Kapitalismus, daß er die Volkswirtschaft ausschließlich unter dem Gesichtspunkte des Produzenten, statt unter dem Gesichtspunkte des Konsums, des natürlichen Zwecks aller Produktion betrachtet. Hinter der „Produktion“ steht aber dann das Jnteresse des Kapitals, das Herrschaft fordert und sich verwerten will, nicht das „ Produ- zenten “ =Jnteresse des Arbeiters. Denn der ist heut Werkzeug. Die Nütz- lichkeit der Produkte ist dem Kapitalismus nur Voraussetzung und Mittel zum Zweck; das hat Marx in seiner Wertlehre fein erkannt. Die Politik der Sozial- demokratie ist aber einfach aus dem schiefen Gegensatze des „produzierenden“ Arbeiters zum ausbeutenden Unternehmer entwickelt, statt aus dem sachlichen

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/16>, abgerufen am 25.11.2024.