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Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Nr. 1369, Czernowitz, 04.08.1908.

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Redaktion u. Administration
Rathausstraße 16.




Telephon-Nummer 161.




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Für Czernowitz.
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vierteljährig ..... 10 Lei.




Telegramme: Allgemeine, Czernowitz.


[Spaltenumbruch]
Czernowitzer
Allgemeine Zeitung

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Anküdingung:
Es kostet im gewöhnlichen Inse
ratenteil 12 h die 6mal gespaltene
Petitzeile bei eimaliger, 9 h bei
mehtmaliger Einschaltung, für Re-
klame 40 h die Petitzeile, Inserate
nehmen alle in- und ausländischen
Inseratenbureaux sowie die Ad-
ministration entgegen. -- Einzel-
exemplare sind in allen Zeitungs-
verschleißen, Trasiken, der k. k. Uni-
versitätsbuchhandlung H. Pardini
und in der Administration (Rat-
hausstr. 16) erhältlich. In Wien
im Zeitungsbureau Goldschmidt,
Wollzeile 11.

Einzelexemplare
10 Heller für Czernowitz.






Nr. 1369. Czernowitz, Dienstag, den 4. August 1908.



[Spaltenumbruch]
Uebersicht.

Vom Tage.

Ein kaiserlicher Erlaß des Sultans publiziert die
neuen Staatsgrundgesetze. -- Izzet Pascha ist auf ein eng-
lisches Schiff, das sich in den Dardanellen befindet, geflohen.

Bunte Chronik.

Für heute wurde in Paris der Generalstreik proklamiert.

Letzte Telegramme.

Das türkische Ministerium wurde neurekonstruiert. --
Lukanus ist gestorben. -- Fallieres ist von Christiania
abgereist.




Die türkische Konstitution.


Noch immer stehen die überraschenden Vorgänge in der
Türkei im Vordergrunde der öffentlichen Erörterungen. Ueber
ihre Bedeutung ist man sich einig, doch übersieht noch niemand
den Umfang ihrer Wirkungen. Einstweilen zeigt sich nur un-
verkennbar, daß die Slavenvölker des Balkans und ihre
Gönner in Europa, die seit Jahren die frühere Willkürherr-
schaft in der Türkei zum Vorwand für ihre Umtriebe und
Gewalttaten nahmen, aufs unangenehmste überrascht worden
sind. In dem Augenblicke, wo die Hohe Pforte den Be-
wohnern ihres Reichs freiwillig eine parlamentarische Ver-
tretung und den verschiedenen im Lande vorhandenen Natio-
nalitäten gleiche Rechte und gleichen Anteil an der Regierung
einräumt, ist natürlich mit den bisher von den Feinden der
Sultansherrschaft gebrauchten Schlagworten nicht mehr viel
anzufangen. Auch die Regierungen Rußlands und Englands,
die sich soeben anschickten, die mazedonische Frage zu benützen,
um ihre frühere Vormachtsstellung im Orient wiederherzustellen,
sind in offenbare Verlegenheit geraten. Sie haben sich jetzt
dazu entschlossen, die ganze Angelegenheit einer Konferenz der
Botschafter in Konstantinopel unterbreiten zu lassen, und
finden sich bereits mit dem Gedanken ab, nunmehr vorerst
die Wirkungen der von der Türkei begonnenen Reform abzu-
warten. Für Oesterreich-Ungarn erwächst angesichts des
Vorgehens der Türkei die Notwendigkeit, wie die
[Spaltenumbruch] Wiener Blätter, selbst die offiziösen, bereits leitartikeln,
auch der Bevölkerung Bosniens baldigst eine gewisse Teil-
nahme an der Regierung und Verwaltung einzuräumen.

Als besonders harten Schlag empfindet Italien das Vor-
gehen des Sultans. Die italienische Regierung hat hier seit
Jahren viele wichtige Rechte und Ansprüche an den Küsten
des Mittelmeers nur in der offen ausgesprochenen Erwartung
geopfert, eines Tags dafür im türkischen Besitze mit Zu-
stimmung Englands und Frankreichs Entschädigung zu finden.
Unter den heutigen Umständen wird seine Aussicht aber schwächer
wie je, und die Spekulation auf den Zusammenbruch der
Türkei erweist sich als verfehlt.

Im nachstehenden die neuesten Meldungen über die Vor-
gänge in der Türkei:

Die Staatsgrundgesetze.

(Tel. der "Cz. Allg.
Ztg.")

Mitternachts wurde überall die angekündigte "Hatti
Humajen"
über die Staatsgrundgesetze verteilt.
Der Kaisererlaß begründet zunächst die frühere Verfässungs-
aufhebung und erklärt, daß nunmehr das Reich für ein kon-
stitutionelles Regime reif sei; künftighin werde die Anwendung
der Verfassung niemals angetastet werden. Es folgen nunmehr
15 Artikel des kaiserlichen Erlasses, die u. a. besagen:

Alle Untertanen besitzen die persönliche Freiheit.

Niemand kann ohne gesetzlichen Grund in Unter-
suchung
gezogen, verhaftet, eingekerkert oder bestraft werden.

Die Einsetzung außerordentlicher Gerichte ist unzulässig.

Niemand darf vor inkompetente Behörden
zitiert werden.

Das Domizil jedermanns ist unverletzlich.

Die Untertanen haben volle Freizügigkeit.

Die Presse ist vor der Drucklegung nicht der Kon-
trolle der Regierung unterworfen.

Privatbriefe und Zeitungen sind von der Post nicht zu-
rückhaltbar.

Die Lehre ist frei.

Die Beamten sind nicht gehalten, Befehlen in Wider-
spruch mit den Gesetzen zu gehorchen. Es steht ihnen frei, zu
demissionieren.

Die Vorschläge des Großveziers unterliegen der
Sanktion des Sultans.


[Spaltenumbruch]

Der Erlaß trifft ferner Instruktionen für die Beamten.

Das Budget, die Staatseinnahmen und -Ausgaben
sind vollinhaltlich zu Beginn des Jahres zu veröffentlichen.

Die etwa notwendig werdenden Gesetzesvorlagen über die
Abänderung der bestehenden Gesetze werden der Deputierten-
kammer
unterbreitet.

Die Armee wird ausgestattet.

Der Erlaß schließt mit dem Wunsch, daß Gott den
Staatsgeschäften Erfolg verleihen möge.

Die Soldaten schwören auf die Verfassung.

(Tel. der "Cz. Allg.
Ztg.")

In den Kasernen von Vera fand gestern eine groß-
artige Zeremonie statt. Die Offiziere und Soldaten legten
den Eid auf die Verfassung ab. Der Zeremonie
wohnte ein zahlreiches Publikum und viele Berichterstatter
bei. Die gleichen Zeremonien sollen heute und morgen in
sämtlichen hiesigen Kasernen stattfinden.

Die Rekonstruktion des Ministeriums.

(Tel. der "Cz. Allg.
Ztg.")

Die Extraausgaben der Blätter veröffentlichen die
Rekonstruktion des Minsteriums: Scheik Ul
Islam
und Melmed Dschemal verbleiben in den
Posten, Justizminister Abdur-Ahman wird Ministerprä-
sident, Staatsratpräsident Hassan Themi übernimmt das
Portofeuille an Stelle Turkhaus, der zum Stattrats-
präsident ernannt wird, Riamil bleibt Minister ohne Por-
tefeuille, weiters verbleiben Tewfik Pascha im Portefeuille
des Aeußeren, Omer Rueschid Krieg, Rami Pascha Ma-
rine, Hakhibey Unterricht. Ernannt werden: Hassan
Akif
zum Minister des Innern, Tewfik zum Ackerbau-
minister, der frühere Wiener Botschafter Zia zum Handels-
minister, Eslibaneu zum Gouverneur, Naum Pascha,
der Katholik ist, übernimmt Bauten, Ragib Bey Finanzen.
Der Vali von Saloniki Reuf Pascha, wurde zum Stadt-
präfekten von Konstantinopel ernannt.

Ein englischer Dampfer in den Dardanellen?
Die Flucht Izzets.

(Tel. der "Cz. Allg.
Ztg.")

Eine Extraausgabe des "Ikdams" veröffentlicht eine
Depesche des Kommandanten der türkischen Eskadre in den




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
Herrn Veiths Gewerbe.


Der Prozeß Veith ist vertagt. Eigentlich könnte man
sagen, er sei zu Ende, denn in der Weise, wie er bis jetzt
geführt wurde, dürfte er kaum fortgesetzt werden. Und das ist
wieder schade. Er war ja so interessant, hat so merkwürdige
Enthüllungen gebracht, so scharfe Schlaglichter auf unsere
allezeit, immer und überall höchst gemütliche Wienerstadt
geworfen, daß man nur ungern den Vorhang von dem zur
Szene gewordenen Tribunal fallen sieht. Ja, das Tribunal
war zur Szene geworden. Auf den Brettern, die hier nicht
die Welt, sondern die Anklagebank bedeuten, agierte ein mit
allen Salben geschmierter, mit allen Hunden gehetzter alter
Komödiant, ein Lump, der sein Lumpentum unter sentimentalen,
rührseligen Phrasen, in krokodilstränenfeuchten Gefühlstönen
vorgebracht, zu verbergen suchte, ein Stritzi, der mit Schmieren-
mätzchen die Rolle des in seinen edlen Intentionen schmählich
verkannten Baters mimt und vielleicht sich so in seine Rolle
eingelebt hat, daß er sein Spiel für Wahrheit hält. Und
ebenso interessant wie der Akteur ist sein Publikum. Dieses
Publikum in Talar und Barett, das so unerhört wenig neu-
gierig ist, daß es über Dinge in Erstaunen gerät, die in
Wien leider jeder halbwüchsige Junge weiß, daß es sich den
Kommentar zu den Deklamationen des Hauptakteurs nur von
Leuten liefern läßt, die dazu herzlich wenig zu sagen wissen.
Interessant ist an diesem Prozeß eben das, wonach im
Gerichtssaal bis jetzt noch nicht gefragt werden konnte, be-
sonders interessant, was der Gerichtshof alles nicht weiß.
Das allein sind die "aufsehenerregenden Enthüllungen", die
der Prozeß Veith gebracht hat.

Veith selbst und sein und seiner Tochter Treiben sind
[Spaltenumbruch] herzlich uninteressant. Solche Pflanzen laufen in der Groß-
stadt zu Hunderten herum und es kräht kein Hahn danach.
Und, von etlichen Lebegreisen und Lebebuben abgesehen,
findet niemand Geschmack an "Enthüllungen" aus der Welt
der roten Plüschsofas. Man weiß davon -- und spricht nicht
darüber, schon um der unangenehmen Möglichkeit auszu-
weichen, dem widerlichen, verständnisvollen Zwinkern der
Separeehelden oder dem noch widerlicheren Augenverdrehen
der Moralfatzkes zu begegnen. Wozu denn eigentlich diese
hohle Moralsimpelei, die auch im Gerichtssaal in einem
Intermerzo zwischen Verteidiger und Vorsitzenden zutage trat?
Zuhälter und Kuppler hat es in Wien immer gegeben und
wird es immer geben und die Bekämpfung und Unterdrückung
der Prostitution wird noch sehr, sehr lange ein frommer
Wunsch und ein leeres Schlagwort bleiben. Was davon zu
zu halten ist, weiß jeder, aber eben deshalb ist es deplaziert,
bei Besprechung solcher Verhältnisse pomphafte Moralpredigten
zu halten. Der Kuppler soll seine Strafe erhalten -- die
Göttin der Moral muß deshalb nicht strapaziert, die bom-
bastische Phraseologie der berufsmäßigen Tugendwächter nicht
in gesinnungstüchtige Leitartikel eingeflochten werden. Ebenso-
wenig wie es notwendig ist, feierlich zu leugnen, man habe
von Dingen Kenntnis gehabt, die eben jeder Großstädter
kennt. Es wirkt deshalb geradezu lächerlich, wenn Mitglieder
des Gerichtshofes, der Veith abzuurteilen hat, ein Separee-
Abenteuer als einen Fleck auf der Ehre eines jungen Mannes
anzusehen scheinen, wenn sie höchst erstaunt tun zu erfahren,
daß es in Wien Kuppler gibt, daß die Vergnügungsorte der
Lebewelt nicht nur von Aspirantinnen auf die goldene
Tugendrose besucht werden, daß in Separees nicht gebetet
wird. Einem Mädchen von dem Sacre coeur glaubt man
diese Naivität, einem Richter, der welt- und lebenskundig sein
muß, nicht. Wir wiederholen: Wozu die hohle Moral-
simpelei? Damit kann das Uebel nicht aus der Welt
geschafft werden.




[Spaltenumbruch]

Veith ist ein Kuppler, wie es in Wien viele gibt. Er
hat sein Gewerbe jahrelang betrieben, wie viele seiner Kollegen.
Aber er verschwindet nicht ohne Aufsehen, ohne Skandal
unter dem Zuchthausgitter, wie viele seiner Kollegen. Sein
Prozeß ist ein Skandal, eine Sensation allerersten Ranges.
Warum? Wohl aus demselben Grunde, aus dem Veith noch
auf der Anklagebank von einzelnen Zeugen mit Achtung be-
handelt wird. Weil er sich "Graf" nannte. Ein Graf als
Kuppler und Zuhälter -- wenn auch ein falscher Graf --,
das ist für den Wiener, dem die Ehrfurcht vor dem Adels-
titel eine heilige Ueberlieferung ist, etwas ungeheuer Inte-
ressantes. Einem Grafen läßt der Wiener alles durchgehen,
und wenn ein Graf einmal Schiffbruch leidet, dann ist das
eine Riesensation. Sein Grafentitel war für Veith ein Glück
und ein Unglück zugleich. Er war für ihn lange genug, nur
zu lange, ein Passepartout, ein Mäntelchen, das seine
Lumpereien verdeckte; als er es aber zu arg trieb, da wurde
der angemaßte Titel für ihn ein Stigma. Die Polizei vermag,
merkwürdig genug, die Frau Sachs nicht aufzufinden, trotz-
dem die Lebewelt genau ihre Adresse kennt, den Grafen Veith
hat sie sofort am Wickel. Und treibt mit ihrer Schutz- und
Rettungsaktion die Tochter ins Wasser ...




Unter den vielen merkwürdigen Momenten, diedieser Prozeß
aufweist, ist am merkwürdigsten der Mangel an Neugierde,
den der Mann, der von Amts wegen verpflichtet ist, neu-
gierig zu sein, der Staatsanwalt, an den Tag legte. In den
Briefen der Mizzi Veith könnte er vielleicht den Beweis für
die Schuld Veiths finden, aber er liest sie nicht, denn sie
sind ihm zu uninteressant und er ist nicht neugierig. Er ist
gar nicht neugierig, die Aussagen der Kavalliere der Mizzi,
durch die allein der Schuldbeweis zu liefern wäre, zu hören,
und begnügt sich mit dem Verhör von Kellnern, Stuben-
mädchen und Fiakerkutschern, die den Kern der Sache natür-
lich nicht treffen können. Er ist halt nicht neugierig. Gut.
Mit dieser Erklärung ist aber das Publikum nicht befriedigt,


[Spaltenumbruch]

Redaktion u. Adminiſtration
Rathausſtraße 16.




Telephon-Nummer 161.




Abonnementsbedingungen:

Für Czernowitz.
(mit Zuſtellung ins Haus):
monatl. K 1.80, vierteljähr. K 5.40,
halbj. K 10.80, ganzjähr. K 21.60,
(mit täglicher Poſtverſendung)
monatl. K 2, vierteljähr. K 6,
halbjähr. K 12, ganzjähr. K 24

Für Deutſchland:
vierteljährig ..... 7 Mark

[Fü]r Rumänien und den Balkan:
vierteljährig ..... 10 Lei.




Telegramme: Allgemeine, Czernowitz.


[Spaltenumbruch]
Czernowitzer
Allgemeine Zeitung

[Spaltenumbruch]

Anküdingung:
Es koſtet im gewöhnlichen Inſe
ratenteil 12 h die 6mal geſpaltene
Petitzeile bei eimaliger, 9 h bei
mehtmaliger Einſchaltung, für Re-
klame 40 h die Petitzeile, Inſerate
nehmen alle in- und ausländiſchen
Inſeratenbureaux ſowie die Ad-
miniſtration entgegen. — Einzel-
exemplare ſind in allen Zeitungs-
verſchleißen, Traſiken, der k. k. Uni-
verſitätsbuchhandlung H. Pardini
und in der Adminiſtration (Rat-
hausſtr. 16) erhältlich. In Wien
im Zeitungsbureau Goldſchmidt,
Wollzeile 11.

Einzelexemplare
10 Heller für Czernowitz.






Nr. 1369. Czernowitz, Dienstag, den 4. Auguſt 1908.



[Spaltenumbruch]
Ueberſicht.

Vom Tage.

Ein kaiſerlicher Erlaß des Sultans publiziert die
neuen Staatsgrundgeſetze. — Izzet Paſcha iſt auf ein eng-
liſches Schiff, das ſich in den Dardanellen befindet, geflohen.

Bunte Chronik.

Für heute wurde in Paris der Generalſtreik proklamiert.

Letzte Telegramme.

Das türkiſche Miniſterium wurde neurekonſtruiert. —
Lukanus iſt geſtorben. — Fallieres iſt von Chriſtiania
abgereiſt.




Die türkiſche Konſtitution.


Noch immer ſtehen die überraſchenden Vorgänge in der
Türkei im Vordergrunde der öffentlichen Erörterungen. Ueber
ihre Bedeutung iſt man ſich einig, doch überſieht noch niemand
den Umfang ihrer Wirkungen. Einſtweilen zeigt ſich nur un-
verkennbar, daß die Slavenvölker des Balkans und ihre
Gönner in Europa, die ſeit Jahren die frühere Willkürherr-
ſchaft in der Türkei zum Vorwand für ihre Umtriebe und
Gewalttaten nahmen, aufs unangenehmſte überraſcht worden
ſind. In dem Augenblicke, wo die Hohe Pforte den Be-
wohnern ihres Reichs freiwillig eine parlamentariſche Ver-
tretung und den verſchiedenen im Lande vorhandenen Natio-
nalitäten gleiche Rechte und gleichen Anteil an der Regierung
einräumt, iſt natürlich mit den bisher von den Feinden der
Sultansherrſchaft gebrauchten Schlagworten nicht mehr viel
anzufangen. Auch die Regierungen Rußlands und Englands,
die ſich ſoeben anſchickten, die mazedoniſche Frage zu benützen,
um ihre frühere Vormachtsſtellung im Orient wiederherzuſtellen,
ſind in offenbare Verlegenheit geraten. Sie haben ſich jetzt
dazu entſchloſſen, die ganze Angelegenheit einer Konferenz der
Botſchafter in Konſtantinopel unterbreiten zu laſſen, und
finden ſich bereits mit dem Gedanken ab, nunmehr vorerſt
die Wirkungen der von der Türkei begonnenen Reform abzu-
warten. Für Oeſterreich-Ungarn erwächſt angeſichts des
Vorgehens der Türkei die Notwendigkeit, wie die
[Spaltenumbruch] Wiener Blätter, ſelbſt die offiziöſen, bereits leitartikeln,
auch der Bevölkerung Bosniens baldigſt eine gewiſſe Teil-
nahme an der Regierung und Verwaltung einzuräumen.

Als beſonders harten Schlag empfindet Italien das Vor-
gehen des Sultans. Die italieniſche Regierung hat hier ſeit
Jahren viele wichtige Rechte und Anſprüche an den Küſten
des Mittelmeers nur in der offen ausgeſprochenen Erwartung
geopfert, eines Tags dafür im türkiſchen Beſitze mit Zu-
ſtimmung Englands und Frankreichs Entſchädigung zu finden.
Unter den heutigen Umſtänden wird ſeine Ausſicht aber ſchwächer
wie je, und die Spekulation auf den Zuſammenbruch der
Türkei erweiſt ſich als verfehlt.

Im nachſtehenden die neueſten Meldungen über die Vor-
gänge in der Türkei:

Die Staatsgrundgeſetze.

(Tel. der „Cz. Allg.
Ztg.“)

Mitternachts wurde überall die angekündigte „Hatti
Humajen“
über die Staatsgrundgeſetze verteilt.
Der Kaiſererlaß begründet zunächſt die frühere Verfäſſungs-
aufhebung und erklärt, daß nunmehr das Reich für ein kon-
ſtitutionelles Regime reif ſei; künftighin werde die Anwendung
der Verfaſſung niemals angetaſtet werden. Es folgen nunmehr
15 Artikel des kaiſerlichen Erlaſſes, die u. a. beſagen:

Alle Untertanen beſitzen die perſönliche Freiheit.

Niemand kann ohne geſetzlichen Grund in Unter-
ſuchung
gezogen, verhaftet, eingekerkert oder beſtraft werden.

Die Einſetzung außerordentlicher Gerichte iſt unzuläſſig.

Niemand darf vor inkompetente Behörden
zitiert werden.

Das Domizil jedermanns iſt unverletzlich.

Die Untertanen haben volle Freizügigkeit.

Die Preſſe iſt vor der Drucklegung nicht der Kon-
trolle der Regierung unterworfen.

Privatbriefe und Zeitungen ſind von der Poſt nicht zu-
rückhaltbar.

Die Lehre iſt frei.

Die Beamten ſind nicht gehalten, Befehlen in Wider-
ſpruch mit den Geſetzen zu gehorchen. Es ſteht ihnen frei, zu
demiſſionieren.

Die Vorſchläge des Großveziers unterliegen der
Sanktion des Sultans.


[Spaltenumbruch]

Der Erlaß trifft ferner Inſtruktionen für die Beamten.

Das Budget, die Staatseinnahmen und -Ausgaben
ſind vollinhaltlich zu Beginn des Jahres zu veröffentlichen.

Die etwa notwendig werdenden Geſetzesvorlagen über die
Abänderung der beſtehenden Geſetze werden der Deputierten-
kammer
unterbreitet.

Die Armee wird ausgeſtattet.

Der Erlaß ſchließt mit dem Wunſch, daß Gott den
Staatsgeſchäften Erfolg verleihen möge.

Die Soldaten ſchwören auf die Verfaſſung.

(Tel. der „Cz. Allg.
Ztg.“)

In den Kaſernen von Vera fand geſtern eine groß-
artige Zeremonie ſtatt. Die Offiziere und Soldaten legten
den Eid auf die Verfaſſung ab. Der Zeremonie
wohnte ein zahlreiches Publikum und viele Berichterſtatter
bei. Die gleichen Zeremonien ſollen heute und morgen in
ſämtlichen hieſigen Kaſernen ſtattfinden.

Die Rekonſtruktion des Miniſteriums.

(Tel. der „Cz. Allg.
Ztg.“)

Die Extraausgaben der Blätter veröffentlichen die
Rekonſtruktion des Minſteriums: Scheik Ul
Islam
und Melmed Dſchemal verbleiben in den
Poſten, Juſtizminiſter Abdur-Ahman wird Miniſterprä-
ſident, Staatsratpräſident Haſſan Themi übernimmt das
Portofeuille an Stelle Turkhaus, der zum Stattrats-
präſident ernannt wird, Riamil bleibt Miniſter ohne Por-
tefeuille, weiters verbleiben Tewfik Paſcha im Portefeuille
des Aeußeren, Omer Rueſchid Krieg, Rami Paſcha Ma-
rine, Hakhibey Unterricht. Ernannt werden: Haſſan
Akif
zum Miniſter des Innern, Tewfik zum Ackerbau-
miniſter, der frühere Wiener Botſchafter Zia zum Handels-
miniſter, Eslibaneu zum Gouverneur, Naum Paſcha,
der Katholik iſt, übernimmt Bauten, Ragib Bey Finanzen.
Der Vali von Saloniki Reuf Paſcha, wurde zum Stadt-
präfekten von Konſtantinopel ernannt.

Ein engliſcher Dampfer in den Dardanellen?
Die Flucht Izzets.

(Tel. der „Cz. Allg.
Ztg.“)

Eine Extraausgabe des „Ikdams“ veröffentlicht eine
Depeſche des Kommandanten der türkiſchen Eskadre in den




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
Herrn Veiths Gewerbe.


Der Prozeß Veith iſt vertagt. Eigentlich könnte man
ſagen, er ſei zu Ende, denn in der Weiſe, wie er bis jetzt
geführt wurde, dürfte er kaum fortgeſetzt werden. Und das iſt
wieder ſchade. Er war ja ſo intereſſant, hat ſo merkwürdige
Enthüllungen gebracht, ſo ſcharfe Schlaglichter auf unſere
allezeit, immer und überall höchſt gemütliche Wienerſtadt
geworfen, daß man nur ungern den Vorhang von dem zur
Szene gewordenen Tribunal fallen ſieht. Ja, das Tribunal
war zur Szene geworden. Auf den Brettern, die hier nicht
die Welt, ſondern die Anklagebank bedeuten, agierte ein mit
allen Salben geſchmierter, mit allen Hunden gehetzter alter
Komödiant, ein Lump, der ſein Lumpentum unter ſentimentalen,
rührſeligen Phraſen, in krokodilstränenfeuchten Gefühlstönen
vorgebracht, zu verbergen ſuchte, ein Stritzi, der mit Schmieren-
mätzchen die Rolle des in ſeinen edlen Intentionen ſchmählich
verkannten Baters mimt und vielleicht ſich ſo in ſeine Rolle
eingelebt hat, daß er ſein Spiel für Wahrheit hält. Und
ebenſo intereſſant wie der Akteur iſt ſein Publikum. Dieſes
Publikum in Talar und Barett, das ſo unerhört wenig neu-
gierig iſt, daß es über Dinge in Erſtaunen gerät, die in
Wien leider jeder halbwüchſige Junge weiß, daß es ſich den
Kommentar zu den Deklamationen des Hauptakteurs nur von
Leuten liefern läßt, die dazu herzlich wenig zu ſagen wiſſen.
Intereſſant iſt an dieſem Prozeß eben das, wonach im
Gerichtsſaal bis jetzt noch nicht gefragt werden konnte, be-
ſonders intereſſant, was der Gerichtshof alles nicht weiß.
Das allein ſind die „aufſehenerregenden Enthüllungen“, die
der Prozeß Veith gebracht hat.

Veith ſelbſt und ſein und ſeiner Tochter Treiben ſind
[Spaltenumbruch] herzlich unintereſſant. Solche Pflanzen laufen in der Groß-
ſtadt zu Hunderten herum und es kräht kein Hahn danach.
Und, von etlichen Lebegreiſen und Lebebuben abgeſehen,
findet niemand Geſchmack an „Enthüllungen“ aus der Welt
der roten Plüſchſofas. Man weiß davon — und ſpricht nicht
darüber, ſchon um der unangenehmen Möglichkeit auszu-
weichen, dem widerlichen, verſtändnisvollen Zwinkern der
Separeehelden oder dem noch widerlicheren Augenverdrehen
der Moralfatzkes zu begegnen. Wozu denn eigentlich dieſe
hohle Moralſimpelei, die auch im Gerichtsſaal in einem
Intermerzo zwiſchen Verteidiger und Vorſitzenden zutage trat?
Zuhälter und Kuppler hat es in Wien immer gegeben und
wird es immer geben und die Bekämpfung und Unterdrückung
der Proſtitution wird noch ſehr, ſehr lange ein frommer
Wunſch und ein leeres Schlagwort bleiben. Was davon zu
zu halten iſt, weiß jeder, aber eben deshalb iſt es deplaziert,
bei Beſprechung ſolcher Verhältniſſe pomphafte Moralpredigten
zu halten. Der Kuppler ſoll ſeine Strafe erhalten — die
Göttin der Moral muß deshalb nicht ſtrapaziert, die bom-
baſtiſche Phraſeologie der berufsmäßigen Tugendwächter nicht
in geſinnungstüchtige Leitartikel eingeflochten werden. Ebenſo-
wenig wie es notwendig iſt, feierlich zu leugnen, man habe
von Dingen Kenntnis gehabt, die eben jeder Großſtädter
kennt. Es wirkt deshalb geradezu lächerlich, wenn Mitglieder
des Gerichtshofes, der Veith abzuurteilen hat, ein Separee-
Abenteuer als einen Fleck auf der Ehre eines jungen Mannes
anzuſehen ſcheinen, wenn ſie höchſt erſtaunt tun zu erfahren,
daß es in Wien Kuppler gibt, daß die Vergnügungsorte der
Lebewelt nicht nur von Aſpirantinnen auf die goldene
Tugendroſe beſucht werden, daß in Separees nicht gebetet
wird. Einem Mädchen von dem Sacré coeur glaubt man
dieſe Naivität, einem Richter, der welt- und lebenskundig ſein
muß, nicht. Wir wiederholen: Wozu die hohle Moral-
ſimpelei? Damit kann das Uebel nicht aus der Welt
geſchafft werden.




[Spaltenumbruch]

Veith iſt ein Kuppler, wie es in Wien viele gibt. Er
hat ſein Gewerbe jahrelang betrieben, wie viele ſeiner Kollegen.
Aber er verſchwindet nicht ohne Aufſehen, ohne Skandal
unter dem Zuchthausgitter, wie viele ſeiner Kollegen. Sein
Prozeß iſt ein Skandal, eine Senſation allererſten Ranges.
Warum? Wohl aus demſelben Grunde, aus dem Veith noch
auf der Anklagebank von einzelnen Zeugen mit Achtung be-
handelt wird. Weil er ſich „Graf“ nannte. Ein Graf als
Kuppler und Zuhälter — wenn auch ein falſcher Graf —,
das iſt für den Wiener, dem die Ehrfurcht vor dem Adels-
titel eine heilige Ueberlieferung iſt, etwas ungeheuer Inte-
reſſantes. Einem Grafen läßt der Wiener alles durchgehen,
und wenn ein Graf einmal Schiffbruch leidet, dann iſt das
eine Rieſenſation. Sein Grafentitel war für Veith ein Glück
und ein Unglück zugleich. Er war für ihn lange genug, nur
zu lange, ein Paſſepartout, ein Mäntelchen, das ſeine
Lumpereien verdeckte; als er es aber zu arg trieb, da wurde
der angemaßte Titel für ihn ein Stigma. Die Polizei vermag,
merkwürdig genug, die Frau Sachs nicht aufzufinden, trotz-
dem die Lebewelt genau ihre Adreſſe kennt, den Grafen Veith
hat ſie ſofort am Wickel. Und treibt mit ihrer Schutz- und
Rettungsaktion die Tochter ins Waſſer ...




Unter den vielen merkwürdigen Momenten, diedieſer Prozeß
aufweiſt, iſt am merkwürdigſten der Mangel an Neugierde,
den der Mann, der von Amts wegen verpflichtet iſt, neu-
gierig zu ſein, der Staatsanwalt, an den Tag legte. In den
Briefen der Mizzi Veith könnte er vielleicht den Beweis für
die Schuld Veiths finden, aber er lieſt ſie nicht, denn ſie
ſind ihm zu unintereſſant und er iſt nicht neugierig. Er iſt
gar nicht neugierig, die Ausſagen der Kavalliere der Mizzi,
durch die allein der Schuldbeweis zu liefern wäre, zu hören,
und begnügt ſich mit dem Verhör von Kellnern, Stuben-
mädchen und Fiakerkutſchern, die den Kern der Sache natür-
lich nicht treffen können. Er iſt halt nicht neugierig. Gut.
Mit dieſer Erklärung iſt aber das Publikum nicht befriedigt,


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Zuhälter und Kuppler hat es in Wien immer gegeben und<lb/>
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[[1]/0001] Redaktion u. Adminiſtration Rathausſtraße 16. Telephon-Nummer 161. Abonnementsbedingungen: Für Czernowitz. (mit Zuſtellung ins Haus): monatl. K 1.80, vierteljähr. K 5.40, halbj. K 10.80, ganzjähr. K 21.60, (mit täglicher Poſtverſendung) monatl. K 2, vierteljähr. K 6, halbjähr. K 12, ganzjähr. K 24 Für Deutſchland: vierteljährig ..... 7 Mark Für Rumänien und den Balkan: vierteljährig ..... 10 Lei. Telegramme: Allgemeine, Czernowitz. Czernowitzer Allgemeine Zeitung Anküdingung: Es koſtet im gewöhnlichen Inſe ratenteil 12 h die 6mal geſpaltene Petitzeile bei eimaliger, 9 h bei mehtmaliger Einſchaltung, für Re- klame 40 h die Petitzeile, Inſerate nehmen alle in- und ausländiſchen Inſeratenbureaux ſowie die Ad- miniſtration entgegen. — Einzel- exemplare ſind in allen Zeitungs- verſchleißen, Traſiken, der k. k. Uni- verſitätsbuchhandlung H. Pardini und in der Adminiſtration (Rat- hausſtr. 16) erhältlich. In Wien im Zeitungsbureau Goldſchmidt, Wollzeile 11. Einzelexemplare 10 Heller für Czernowitz. Nr. 1369. Czernowitz, Dienstag, den 4. Auguſt 1908. Ueberſicht. Vom Tage. Ein kaiſerlicher Erlaß des Sultans publiziert die neuen Staatsgrundgeſetze. — Izzet Paſcha iſt auf ein eng- liſches Schiff, das ſich in den Dardanellen befindet, geflohen. Bunte Chronik. Für heute wurde in Paris der Generalſtreik proklamiert. Letzte Telegramme. Das türkiſche Miniſterium wurde neurekonſtruiert. — Lukanus iſt geſtorben. — Fallieres iſt von Chriſtiania abgereiſt. Die türkiſche Konſtitution. Czernowitz, 3. Auguſt. Noch immer ſtehen die überraſchenden Vorgänge in der Türkei im Vordergrunde der öffentlichen Erörterungen. Ueber ihre Bedeutung iſt man ſich einig, doch überſieht noch niemand den Umfang ihrer Wirkungen. Einſtweilen zeigt ſich nur un- verkennbar, daß die Slavenvölker des Balkans und ihre Gönner in Europa, die ſeit Jahren die frühere Willkürherr- ſchaft in der Türkei zum Vorwand für ihre Umtriebe und Gewalttaten nahmen, aufs unangenehmſte überraſcht worden ſind. In dem Augenblicke, wo die Hohe Pforte den Be- wohnern ihres Reichs freiwillig eine parlamentariſche Ver- tretung und den verſchiedenen im Lande vorhandenen Natio- nalitäten gleiche Rechte und gleichen Anteil an der Regierung einräumt, iſt natürlich mit den bisher von den Feinden der Sultansherrſchaft gebrauchten Schlagworten nicht mehr viel anzufangen. Auch die Regierungen Rußlands und Englands, die ſich ſoeben anſchickten, die mazedoniſche Frage zu benützen, um ihre frühere Vormachtsſtellung im Orient wiederherzuſtellen, ſind in offenbare Verlegenheit geraten. Sie haben ſich jetzt dazu entſchloſſen, die ganze Angelegenheit einer Konferenz der Botſchafter in Konſtantinopel unterbreiten zu laſſen, und finden ſich bereits mit dem Gedanken ab, nunmehr vorerſt die Wirkungen der von der Türkei begonnenen Reform abzu- warten. Für Oeſterreich-Ungarn erwächſt angeſichts des Vorgehens der Türkei die Notwendigkeit, wie die Wiener Blätter, ſelbſt die offiziöſen, bereits leitartikeln, auch der Bevölkerung Bosniens baldigſt eine gewiſſe Teil- nahme an der Regierung und Verwaltung einzuräumen. Als beſonders harten Schlag empfindet Italien das Vor- gehen des Sultans. Die italieniſche Regierung hat hier ſeit Jahren viele wichtige Rechte und Anſprüche an den Küſten des Mittelmeers nur in der offen ausgeſprochenen Erwartung geopfert, eines Tags dafür im türkiſchen Beſitze mit Zu- ſtimmung Englands und Frankreichs Entſchädigung zu finden. Unter den heutigen Umſtänden wird ſeine Ausſicht aber ſchwächer wie je, und die Spekulation auf den Zuſammenbruch der Türkei erweiſt ſich als verfehlt. Im nachſtehenden die neueſten Meldungen über die Vor- gänge in der Türkei: Die Staatsgrundgeſetze. Konſtantinopel, 3. Auguſt. (Tel. der „Cz. Allg. Ztg.“) Mitternachts wurde überall die angekündigte „Hatti Humajen“ über die Staatsgrundgeſetze verteilt. Der Kaiſererlaß begründet zunächſt die frühere Verfäſſungs- aufhebung und erklärt, daß nunmehr das Reich für ein kon- ſtitutionelles Regime reif ſei; künftighin werde die Anwendung der Verfaſſung niemals angetaſtet werden. Es folgen nunmehr 15 Artikel des kaiſerlichen Erlaſſes, die u. a. beſagen: Alle Untertanen beſitzen die perſönliche Freiheit. Niemand kann ohne geſetzlichen Grund in Unter- ſuchung gezogen, verhaftet, eingekerkert oder beſtraft werden. Die Einſetzung außerordentlicher Gerichte iſt unzuläſſig. Niemand darf vor inkompetente Behörden zitiert werden. Das Domizil jedermanns iſt unverletzlich. Die Untertanen haben volle Freizügigkeit. Die Preſſe iſt vor der Drucklegung nicht der Kon- trolle der Regierung unterworfen. Privatbriefe und Zeitungen ſind von der Poſt nicht zu- rückhaltbar. Die Lehre iſt frei. Die Beamten ſind nicht gehalten, Befehlen in Wider- ſpruch mit den Geſetzen zu gehorchen. Es ſteht ihnen frei, zu demiſſionieren. Die Vorſchläge des Großveziers unterliegen der Sanktion des Sultans. Der Erlaß trifft ferner Inſtruktionen für die Beamten. Das Budget, die Staatseinnahmen und -Ausgaben ſind vollinhaltlich zu Beginn des Jahres zu veröffentlichen. Die etwa notwendig werdenden Geſetzesvorlagen über die Abänderung der beſtehenden Geſetze werden der Deputierten- kammer unterbreitet. Die Armee wird ausgeſtattet. Der Erlaß ſchließt mit dem Wunſch, daß Gott den Staatsgeſchäften Erfolg verleihen möge. Die Soldaten ſchwören auf die Verfaſſung. Konſtantinopel, 3. Auguſt. (Tel. der „Cz. Allg. Ztg.“) In den Kaſernen von Vera fand geſtern eine groß- artige Zeremonie ſtatt. Die Offiziere und Soldaten legten den Eid auf die Verfaſſung ab. Der Zeremonie wohnte ein zahlreiches Publikum und viele Berichterſtatter bei. Die gleichen Zeremonien ſollen heute und morgen in ſämtlichen hieſigen Kaſernen ſtattfinden. Die Rekonſtruktion des Miniſteriums. Konſtantinopel, 3. Auguſt. (Tel. der „Cz. Allg. Ztg.“) Die Extraausgaben der Blätter veröffentlichen die Rekonſtruktion des Minſteriums: Scheik Ul Islam und Melmed Dſchemal verbleiben in den Poſten, Juſtizminiſter Abdur-Ahman wird Miniſterprä- ſident, Staatsratpräſident Haſſan Themi übernimmt das Portofeuille an Stelle Turkhaus, der zum Stattrats- präſident ernannt wird, Riamil bleibt Miniſter ohne Por- tefeuille, weiters verbleiben Tewfik Paſcha im Portefeuille des Aeußeren, Omer Rueſchid Krieg, Rami Paſcha Ma- rine, Hakhibey Unterricht. Ernannt werden: Haſſan Akif zum Miniſter des Innern, Tewfik zum Ackerbau- miniſter, der frühere Wiener Botſchafter Zia zum Handels- miniſter, Eslibaneu zum Gouverneur, Naum Paſcha, der Katholik iſt, übernimmt Bauten, Ragib Bey Finanzen. Der Vali von Saloniki Reuf Paſcha, wurde zum Stadt- präfekten von Konſtantinopel ernannt. Ein engliſcher Dampfer in den Dardanellen? Die Flucht Izzets. Konſtantinopel, 3. Auguſt. (Tel. der „Cz. Allg. Ztg.“) Eine Extraausgabe des „Ikdams“ veröffentlicht eine Depeſche des Kommandanten der türkiſchen Eskadre in den Feuilleton. Herrn Veiths Gewerbe. Wien, 1. Auguſt. Der Prozeß Veith iſt vertagt. Eigentlich könnte man ſagen, er ſei zu Ende, denn in der Weiſe, wie er bis jetzt geführt wurde, dürfte er kaum fortgeſetzt werden. Und das iſt wieder ſchade. Er war ja ſo intereſſant, hat ſo merkwürdige Enthüllungen gebracht, ſo ſcharfe Schlaglichter auf unſere allezeit, immer und überall höchſt gemütliche Wienerſtadt geworfen, daß man nur ungern den Vorhang von dem zur Szene gewordenen Tribunal fallen ſieht. Ja, das Tribunal war zur Szene geworden. Auf den Brettern, die hier nicht die Welt, ſondern die Anklagebank bedeuten, agierte ein mit allen Salben geſchmierter, mit allen Hunden gehetzter alter Komödiant, ein Lump, der ſein Lumpentum unter ſentimentalen, rührſeligen Phraſen, in krokodilstränenfeuchten Gefühlstönen vorgebracht, zu verbergen ſuchte, ein Stritzi, der mit Schmieren- mätzchen die Rolle des in ſeinen edlen Intentionen ſchmählich verkannten Baters mimt und vielleicht ſich ſo in ſeine Rolle eingelebt hat, daß er ſein Spiel für Wahrheit hält. Und ebenſo intereſſant wie der Akteur iſt ſein Publikum. Dieſes Publikum in Talar und Barett, das ſo unerhört wenig neu- gierig iſt, daß es über Dinge in Erſtaunen gerät, die in Wien leider jeder halbwüchſige Junge weiß, daß es ſich den Kommentar zu den Deklamationen des Hauptakteurs nur von Leuten liefern läßt, die dazu herzlich wenig zu ſagen wiſſen. Intereſſant iſt an dieſem Prozeß eben das, wonach im Gerichtsſaal bis jetzt noch nicht gefragt werden konnte, be- ſonders intereſſant, was der Gerichtshof alles nicht weiß. Das allein ſind die „aufſehenerregenden Enthüllungen“, die der Prozeß Veith gebracht hat. Veith ſelbſt und ſein und ſeiner Tochter Treiben ſind herzlich unintereſſant. Solche Pflanzen laufen in der Groß- ſtadt zu Hunderten herum und es kräht kein Hahn danach. Und, von etlichen Lebegreiſen und Lebebuben abgeſehen, findet niemand Geſchmack an „Enthüllungen“ aus der Welt der roten Plüſchſofas. Man weiß davon — und ſpricht nicht darüber, ſchon um der unangenehmen Möglichkeit auszu- weichen, dem widerlichen, verſtändnisvollen Zwinkern der Separeehelden oder dem noch widerlicheren Augenverdrehen der Moralfatzkes zu begegnen. Wozu denn eigentlich dieſe hohle Moralſimpelei, die auch im Gerichtsſaal in einem Intermerzo zwiſchen Verteidiger und Vorſitzenden zutage trat? Zuhälter und Kuppler hat es in Wien immer gegeben und wird es immer geben und die Bekämpfung und Unterdrückung der Proſtitution wird noch ſehr, ſehr lange ein frommer Wunſch und ein leeres Schlagwort bleiben. Was davon zu zu halten iſt, weiß jeder, aber eben deshalb iſt es deplaziert, bei Beſprechung ſolcher Verhältniſſe pomphafte Moralpredigten zu halten. Der Kuppler ſoll ſeine Strafe erhalten — die Göttin der Moral muß deshalb nicht ſtrapaziert, die bom- baſtiſche Phraſeologie der berufsmäßigen Tugendwächter nicht in geſinnungstüchtige Leitartikel eingeflochten werden. Ebenſo- wenig wie es notwendig iſt, feierlich zu leugnen, man habe von Dingen Kenntnis gehabt, die eben jeder Großſtädter kennt. Es wirkt deshalb geradezu lächerlich, wenn Mitglieder des Gerichtshofes, der Veith abzuurteilen hat, ein Separee- Abenteuer als einen Fleck auf der Ehre eines jungen Mannes anzuſehen ſcheinen, wenn ſie höchſt erſtaunt tun zu erfahren, daß es in Wien Kuppler gibt, daß die Vergnügungsorte der Lebewelt nicht nur von Aſpirantinnen auf die goldene Tugendroſe beſucht werden, daß in Separees nicht gebetet wird. Einem Mädchen von dem Sacré coeur glaubt man dieſe Naivität, einem Richter, der welt- und lebenskundig ſein muß, nicht. Wir wiederholen: Wozu die hohle Moral- ſimpelei? Damit kann das Uebel nicht aus der Welt geſchafft werden. Veith iſt ein Kuppler, wie es in Wien viele gibt. Er hat ſein Gewerbe jahrelang betrieben, wie viele ſeiner Kollegen. Aber er verſchwindet nicht ohne Aufſehen, ohne Skandal unter dem Zuchthausgitter, wie viele ſeiner Kollegen. Sein Prozeß iſt ein Skandal, eine Senſation allererſten Ranges. Warum? Wohl aus demſelben Grunde, aus dem Veith noch auf der Anklagebank von einzelnen Zeugen mit Achtung be- handelt wird. Weil er ſich „Graf“ nannte. Ein Graf als Kuppler und Zuhälter — wenn auch ein falſcher Graf —, das iſt für den Wiener, dem die Ehrfurcht vor dem Adels- titel eine heilige Ueberlieferung iſt, etwas ungeheuer Inte- reſſantes. Einem Grafen läßt der Wiener alles durchgehen, und wenn ein Graf einmal Schiffbruch leidet, dann iſt das eine Rieſenſation. Sein Grafentitel war für Veith ein Glück und ein Unglück zugleich. Er war für ihn lange genug, nur zu lange, ein Paſſepartout, ein Mäntelchen, das ſeine Lumpereien verdeckte; als er es aber zu arg trieb, da wurde der angemaßte Titel für ihn ein Stigma. Die Polizei vermag, merkwürdig genug, die Frau Sachs nicht aufzufinden, trotz- dem die Lebewelt genau ihre Adreſſe kennt, den Grafen Veith hat ſie ſofort am Wickel. Und treibt mit ihrer Schutz- und Rettungsaktion die Tochter ins Waſſer ... Unter den vielen merkwürdigen Momenten, diedieſer Prozeß aufweiſt, iſt am merkwürdigſten der Mangel an Neugierde, den der Mann, der von Amts wegen verpflichtet iſt, neu- gierig zu ſein, der Staatsanwalt, an den Tag legte. In den Briefen der Mizzi Veith könnte er vielleicht den Beweis für die Schuld Veiths finden, aber er lieſt ſie nicht, denn ſie ſind ihm zu unintereſſant und er iſt nicht neugierig. Er iſt gar nicht neugierig, die Ausſagen der Kavalliere der Mizzi, durch die allein der Schuldbeweis zu liefern wäre, zu hören, und begnügt ſich mit dem Verhör von Kellnern, Stuben- mädchen und Fiakerkutſchern, die den Kern der Sache natür- lich nicht treffen können. Er iſt halt nicht neugierig. Gut. Mit dieſer Erklärung iſt aber das Publikum nicht befriedigt,

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Zitationshilfe: Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Nr. 1369, Czernowitz, 04.08.1908, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_czernowitzer1369_1908/1>, abgerufen am 21.11.2024.