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Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 4. Burg/Berlin, 1838.

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51 Conversations=Blatt. 52
[Beginn Spaltensatz]

Napoleon wendete sein Pferd und sprengte nach
den Vorposten am Ufer der Wilia.

Hier warf sich ein bleiches Weib, mit aufgelöse-
tem Haar, die Hände ringend, vor seinem Pferde nie-
der. Napoleon stutzte und blickte finster auf sie hin.
Ein Husar, der sich als ihr Bruder nannte, suchte sie
vom Kaiser zu entfernen; doch vergebens, sie flehte
ihn an, um Rettung für ihren Mann, den ihr die
Russen drüben eben rauben wollten.

"Führen denn die Russen gegen Weiber Krieg?"
sprach finster Nopoleon, und ließ den Hergang der Sache
sich berichten, während er gedankenvoll mit den Zügeln
seines Pferdes spielte, um nur das bleiche Weib nicht
anzusehen.

"Das sind die Früchte die der Kriegsbaum trägt,
und Weiber sollten unter seinen Zweigen nicht den Schat-
ten suchen," sprach er endlich, indem er nach der Szene
jenseits des Ufers blickte.

Dort waren eben zwei Kosacken mit einem neuen
Gefangenen, den sie heimlich diesseit, im Gebüsch ein-
gefangen hatten, angekommen. Sie hatten ihn, nach-
dem sie die Wilia durchschwommen, am Ufer niederge-
legt, und, da er im Wasser dem Ertrinken nahe ge-
wesen, durch Reiben und Rollen auf der Erde, wieder
ins Leben zurückgebracht. Jetzt naheten sie sich mit ihm
der Spielergruppe. Es war Jgnatis, der litthauische
Volontair, der, um den Aufforderungen zur eigenen
Auslieferung zu entgehen, sich in das Gebüsch heimlich
entfernt hatte, und hier von den spürenden Kosacken
mit dem Arkan eingefangen wurde.

Vom Bade und vom Schrecken erbleicht, trat er
vor dem Offizier der Wache, dessen Bruder er so un-
kriegerisch niedergehauen. Er fürchtete dessen Rache,
und sah sich als den schuldigen Urheber der Todesbe-
drängniß der neun Franzosen. Der Offizier aber schwieg.
Hätte er ihn als den Schuldigen genannt, so würde
der strenge General dies als eine höhere Fügung und
als einen Fingerzeig der vergeltenden Gerechtigkeit be-
trachtet haben, um eine fürchterliche Rache und exem-
plarische Bestrafung verhängen zu müssen. - Aber
wenn nun das Loos einen Unschuldigen traf. Er wußte
nicht auf welche Weise er jetzt Menschlichkeit ausüben
sollte.

Da trat Alsufiew selber herbei. Er erkannte in
dem einen Gefangenen einen Litthauer, und hielt ihn,
eine Art Rebellen, für strafwürdiger als die feindlichen
Franzosen. - Die zuerst beabsichtigte Decimirung hatte
er in ein Würfelspiel schon verwandelt, und glaubte
nunmehr durch die Angst jene Franzosen genügend be-
straft. Der Litthauer aber, obgleich er ihn nicht ge-
radezu zum Tode verurtheilen wollte, sollte eine stren-
gere Strafe erleiden. Ließ er ihn aber jetzt mit den
Husaren noch würfeln, so konnte er leicht sich frei und
von jenen einen ins Unglück spielen. Er wollte es dem un-
sichtbar waltenden Fatum anheimstellen zu entscheiden,
um nicht durch unzeitige Milde oder Strenge den
Zorn der unsichtbaren Macht auf sich zu laden.

Es ist eine alte Erfahrung, daß Soldaten, selbst
die Aufgeklärteren, vor dem Feinde, im Angesichte
[Spaltenumbruch] von Gefahren, sich mehr als sonst zum Aberglauben neigen
und gerne an Vorbedeutungen und Ahnungen, und guten
und bösen Zeichen und Omen hängen. Besonders ist
dies bei den Russen, namentlich den Kosacken der Fall.
Alsufiew nahm selbst die Würfel. Warf der Litthauer
mehr wie er, so sollte er, wie durch ein Gottesurtheil
begnadigt sein; warf er weniger, so - dort stand die
Section der Grenadire zur Füsiliade bereit und die
Grube war geschaufelt.

Zitternd stand Jgnatis da, schuldbeladen gab er
kaum der Hoffnung Raum. Alsufiew warf und -
Jgnatis stierte hin - achtzehn Augen schienen todes-
dunkel ihn anzublicken. Verzweifelnd wollte er es gar
nicht mehr versuchen, sein Glück gegen das rächende
Schicksal in die Schranken zu rufen.

"Wirf!" befahl aber der General, denn noch
konnte er ihm gleich kommen und vielleicht das nächste
mal dann übertreffen.

Jgnatis nahm mechanisch die Würfel; kaum ach-
tete er darauf, daß hinter ihm ein Reiter vom Pferde
gesprungen war. Er ließ die Würfel der kalten Hand
entrollen.

"Neunzehn!" rief der Angekommene, der noch
drei Würfel hinzuwarf.

Staunend blickte der Gerettete sich um. Es war ein
Mann auf den er bei bem Abzuge der Russen aus Wilna
eine Pistole abfeuerte. *) Es war Eugen St. Priest,
der junge russische General, der Liebling des Zaren.

"Wer hieß Jhnen hier dem Schicksale vorgrei-
fen?" fragte finster Alsufiew, der jenen haßte, nur
weil er ein Ausländer, ein Franzose und kein geborner
Russe war.

"Der Mann dort oben," entgegnete St. Priest,
nach dem nahen Hügel hinaufdeutend, wo eben ein
Schwarm Reiter sich um einen Mann mit stolzem Fe-
derbusche sammelten. "Er hat befohlen," fuhr er fort,
"sämmtliche Gefangene frei zurück zu senden."

Alsufiew blickte hinauf. Er verbeugte sich gehor-
sam. Es war der Zaar, der eben von der Höhe die
anrückenden Franzosen beobachtete. Napoleon der die
Meldungen von den Begebenheiten auf russischer Seite
erhalten hatte, war entweder aus Zufall oder in Ab-
sicht, einer Höhe, jener gegenüber, hinangesprengt.

So hielten beide mächtige Herrscher, aus hohem
Süden, aus tiefem Nord, zwei große Kaiser, sich hier
nahe gegenüber. Zwischen ihnen fluthet die Wilia und
das Kriegsleben. Napoleon, als er seinen Gegner er-
kannte, hob zum Gruße sein Hüttlein. Alexanders ho-
her Federbusch sah man zum Dank sich neigen.

Es schien, als würde eine Unterredung zwischen
beiden Kaisern stattfinden. Welch ein großer Moment
für ganz Europa!

Doch Alexander wendete sich ab und gab den Be-
fehl zum weitern Rückzuge, nach den Ufern der Düna.
Napoleon ließ seinen wilden Murat los, ihn zu verfol-
gen, während er nach Wilna zurückeilte um Litthauen
frei und zum Königreiche Polen mitgehörend zu erklären.

[Ende Spaltensatz]
*) Siehe im 2. Bande der "Kriegsbilder vom Jahre 1812"
in der Erzählung "Alexander in Wilna." Berl. bei Morin.
51 Conversations=Blatt. 52
[Beginn Spaltensatz]

Napoleon wendete sein Pferd und sprengte nach
den Vorposten am Ufer der Wilia.

Hier warf sich ein bleiches Weib, mit aufgelöse-
tem Haar, die Hände ringend, vor seinem Pferde nie-
der. Napoleon stutzte und blickte finster auf sie hin.
Ein Husar, der sich als ihr Bruder nannte, suchte sie
vom Kaiser zu entfernen; doch vergebens, sie flehte
ihn an, um Rettung für ihren Mann, den ihr die
Russen drüben eben rauben wollten.

„Führen denn die Russen gegen Weiber Krieg?“
sprach finster Nopoleon, und ließ den Hergang der Sache
sich berichten, während er gedankenvoll mit den Zügeln
seines Pferdes spielte, um nur das bleiche Weib nicht
anzusehen.

„Das sind die Früchte die der Kriegsbaum trägt,
und Weiber sollten unter seinen Zweigen nicht den Schat-
ten suchen,“ sprach er endlich, indem er nach der Szene
jenseits des Ufers blickte.

Dort waren eben zwei Kosacken mit einem neuen
Gefangenen, den sie heimlich diesseit, im Gebüsch ein-
gefangen hatten, angekommen. Sie hatten ihn, nach-
dem sie die Wilia durchschwommen, am Ufer niederge-
legt, und, da er im Wasser dem Ertrinken nahe ge-
wesen, durch Reiben und Rollen auf der Erde, wieder
ins Leben zurückgebracht. Jetzt naheten sie sich mit ihm
der Spielergruppe. Es war Jgnatis, der litthauische
Volontair, der, um den Aufforderungen zur eigenen
Auslieferung zu entgehen, sich in das Gebüsch heimlich
entfernt hatte, und hier von den spürenden Kosacken
mit dem Arkan eingefangen wurde.

Vom Bade und vom Schrecken erbleicht, trat er
vor dem Offizier der Wache, dessen Bruder er so un-
kriegerisch niedergehauen. Er fürchtete dessen Rache,
und sah sich als den schuldigen Urheber der Todesbe-
drängniß der neun Franzosen. Der Offizier aber schwieg.
Hätte er ihn als den Schuldigen genannt, so würde
der strenge General dies als eine höhere Fügung und
als einen Fingerzeig der vergeltenden Gerechtigkeit be-
trachtet haben, um eine fürchterliche Rache und exem-
plarische Bestrafung verhängen zu müssen. – Aber
wenn nun das Loos einen Unschuldigen traf. Er wußte
nicht auf welche Weise er jetzt Menschlichkeit ausüben
sollte.

Da trat Alsufiew selber herbei. Er erkannte in
dem einen Gefangenen einen Litthauer, und hielt ihn,
eine Art Rebellen, für strafwürdiger als die feindlichen
Franzosen. – Die zuerst beabsichtigte Decimirung hatte
er in ein Würfelspiel schon verwandelt, und glaubte
nunmehr durch die Angst jene Franzosen genügend be-
straft. Der Litthauer aber, obgleich er ihn nicht ge-
radezu zum Tode verurtheilen wollte, sollte eine stren-
gere Strafe erleiden. Ließ er ihn aber jetzt mit den
Husaren noch würfeln, so konnte er leicht sich frei und
von jenen einen ins Unglück spielen. Er wollte es dem un-
sichtbar waltenden Fatum anheimstellen zu entscheiden,
um nicht durch unzeitige Milde oder Strenge den
Zorn der unsichtbaren Macht auf sich zu laden.

Es ist eine alte Erfahrung, daß Soldaten, selbst
die Aufgeklärteren, vor dem Feinde, im Angesichte
[Spaltenumbruch] von Gefahren, sich mehr als sonst zum Aberglauben neigen
und gerne an Vorbedeutungen und Ahnungen, und guten
und bösen Zeichen und Omen hängen. Besonders ist
dies bei den Russen, namentlich den Kosacken der Fall.
Alsufiew nahm selbst die Würfel. Warf der Litthauer
mehr wie er, so sollte er, wie durch ein Gottesurtheil
begnadigt sein; warf er weniger, so – dort stand die
Section der Grenadire zur Füsiliade bereit und die
Grube war geschaufelt.

Zitternd stand Jgnatis da, schuldbeladen gab er
kaum der Hoffnung Raum. Alsufiew warf und –
Jgnatis stierte hin – achtzehn Augen schienen todes-
dunkel ihn anzublicken. Verzweifelnd wollte er es gar
nicht mehr versuchen, sein Glück gegen das rächende
Schicksal in die Schranken zu rufen.

„Wirf!“ befahl aber der General, denn noch
konnte er ihm gleich kommen und vielleicht das nächste
mal dann übertreffen.

Jgnatis nahm mechanisch die Würfel; kaum ach-
tete er darauf, daß hinter ihm ein Reiter vom Pferde
gesprungen war. Er ließ die Würfel der kalten Hand
entrollen.

„Neunzehn!“ rief der Angekommene, der noch
drei Würfel hinzuwarf.

Staunend blickte der Gerettete sich um. Es war ein
Mann auf den er bei bem Abzuge der Russen aus Wilna
eine Pistole abfeuerte. *) Es war Eugen St. Priest,
der junge russische General, der Liebling des Zaren.

„Wer hieß Jhnen hier dem Schicksale vorgrei-
fen?“ fragte finster Alsufiew, der jenen haßte, nur
weil er ein Ausländer, ein Franzose und kein geborner
Russe war.

„Der Mann dort oben,“ entgegnete St. Priest,
nach dem nahen Hügel hinaufdeutend, wo eben ein
Schwarm Reiter sich um einen Mann mit stolzem Fe-
derbusche sammelten. „Er hat befohlen,“ fuhr er fort,
„sämmtliche Gefangene frei zurück zu senden.“

Alsufiew blickte hinauf. Er verbeugte sich gehor-
sam. Es war der Zaar, der eben von der Höhe die
anrückenden Franzosen beobachtete. Napoleon der die
Meldungen von den Begebenheiten auf russischer Seite
erhalten hatte, war entweder aus Zufall oder in Ab-
sicht, einer Höhe, jener gegenüber, hinangesprengt.

So hielten beide mächtige Herrscher, aus hohem
Süden, aus tiefem Nord, zwei große Kaiser, sich hier
nahe gegenüber. Zwischen ihnen fluthet die Wilia und
das Kriegsleben. Napoleon, als er seinen Gegner er-
kannte, hob zum Gruße sein Hüttlein. Alexanders ho-
her Federbusch sah man zum Dank sich neigen.

Es schien, als würde eine Unterredung zwischen
beiden Kaisern stattfinden. Welch ein großer Moment
für ganz Europa!

Doch Alexander wendete sich ab und gab den Be-
fehl zum weitern Rückzuge, nach den Ufern der Düna.
Napoleon ließ seinen wilden Murat los, ihn zu verfol-
gen, während er nach Wilna zurückeilte um Litthauen
frei und zum Königreiche Polen mitgehörend zu erklären.

[Ende Spaltensatz]
*) Siehe im 2. Bande der „Kriegsbilder vom Jahre 1812“
in der Erzählung „Alexander in Wilna.“ Berl. bei Morin.
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Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 4. Burg/Berlin, 1838, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt04_1838/2>, abgerufen am 06.06.2024.