Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 4. Burg/Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite
51 Conversations=Blatt. 52
[Beginn Spaltensatz]

Napoleon wendete sein Pferd und sprengte nach
den Vorposten am Ufer der Wilia.

Hier warf sich ein bleiches Weib, mit aufgelöse-
tem Haar, die Hände ringend, vor seinem Pferde nie-
der. Napoleon stutzte und blickte finster auf sie hin.
Ein Husar, der sich als ihr Bruder nannte, suchte sie
vom Kaiser zu entfernen; doch vergebens, sie flehte
ihn an, um Rettung für ihren Mann, den ihr die
Russen drüben eben rauben wollten.

"Führen denn die Russen gegen Weiber Krieg?"
sprach finster Nopoleon, und ließ den Hergang der Sache
sich berichten, während er gedankenvoll mit den Zügeln
seines Pferdes spielte, um nur das bleiche Weib nicht
anzusehen.

"Das sind die Früchte die der Kriegsbaum trägt,
und Weiber sollten unter seinen Zweigen nicht den Schat-
ten suchen," sprach er endlich, indem er nach der Szene
jenseits des Ufers blickte.

Dort waren eben zwei Kosacken mit einem neuen
Gefangenen, den sie heimlich diesseit, im Gebüsch ein-
gefangen hatten, angekommen. Sie hatten ihn, nach-
dem sie die Wilia durchschwommen, am Ufer niederge-
legt, und, da er im Wasser dem Ertrinken nahe ge-
wesen, durch Reiben und Rollen auf der Erde, wieder
ins Leben zurückgebracht. Jetzt naheten sie sich mit ihm
der Spielergruppe. Es war Jgnatis, der litthauische
Volontair, der, um den Aufforderungen zur eigenen
Auslieferung zu entgehen, sich in das Gebüsch heimlich
entfernt hatte, und hier von den spürenden Kosacken
mit dem Arkan eingefangen wurde.

Vom Bade und vom Schrecken erbleicht, trat er
vor dem Offizier der Wache, dessen Bruder er so un-
kriegerisch niedergehauen. Er fürchtete dessen Rache,
und sah sich als den schuldigen Urheber der Todesbe-
drängniß der neun Franzosen. Der Offizier aber schwieg.
Hätte er ihn als den Schuldigen genannt, so würde
der strenge General dies als eine höhere Fügung und
als einen Fingerzeig der vergeltenden Gerechtigkeit be-
trachtet haben, um eine fürchterliche Rache und exem-
plarische Bestrafung verhängen zu müssen. - Aber
wenn nun das Loos einen Unschuldigen traf. Er wußte
nicht auf welche Weise er jetzt Menschlichkeit ausüben
sollte.

Da trat Alsufiew selber herbei. Er erkannte in
dem einen Gefangenen einen Litthauer, und hielt ihn,
eine Art Rebellen, für strafwürdiger als die feindlichen
Franzosen. - Die zuerst beabsichtigte Decimirung hatte
er in ein Würfelspiel schon verwandelt, und glaubte
nunmehr durch die Angst jene Franzosen genügend be-
straft. Der Litthauer aber, obgleich er ihn nicht ge-
radezu zum Tode verurtheilen wollte, sollte eine stren-
gere Strafe erleiden. Ließ er ihn aber jetzt mit den
Husaren noch würfeln, so konnte er leicht sich frei und
von jenen einen ins Unglück spielen. Er wollte es dem un-
sichtbar waltenden Fatum anheimstellen zu entscheiden,
um nicht durch unzeitige Milde oder Strenge den
Zorn der unsichtbaren Macht auf sich zu laden.

Es ist eine alte Erfahrung, daß Soldaten, selbst
die Aufgeklärteren, vor dem Feinde, im Angesichte
[Spaltenumbruch] von Gefahren, sich mehr als sonst zum Aberglauben neigen
und gerne an Vorbedeutungen und Ahnungen, und guten
und bösen Zeichen und Omen hängen. Besonders ist
dies bei den Russen, namentlich den Kosacken der Fall.
Alsufiew nahm selbst die Würfel. Warf der Litthauer
mehr wie er, so sollte er, wie durch ein Gottesurtheil
begnadigt sein; warf er weniger, so - dort stand die
Section der Grenadire zur Füsiliade bereit und die
Grube war geschaufelt.

Zitternd stand Jgnatis da, schuldbeladen gab er
kaum der Hoffnung Raum. Alsufiew warf und -
Jgnatis stierte hin - achtzehn Augen schienen todes-
dunkel ihn anzublicken. Verzweifelnd wollte er es gar
nicht mehr versuchen, sein Glück gegen das rächende
Schicksal in die Schranken zu rufen.

"Wirf!" befahl aber der General, denn noch
konnte er ihm gleich kommen und vielleicht das nächste
mal dann übertreffen.

Jgnatis nahm mechanisch die Würfel; kaum ach-
tete er darauf, daß hinter ihm ein Reiter vom Pferde
gesprungen war. Er ließ die Würfel der kalten Hand
entrollen.

"Neunzehn!" rief der Angekommene, der noch
drei Würfel hinzuwarf.

Staunend blickte der Gerettete sich um. Es war ein
Mann auf den er bei bem Abzuge der Russen aus Wilna
eine Pistole abfeuerte. *) Es war Eugen St. Priest,
der junge russische General, der Liebling des Zaren.

"Wer hieß Jhnen hier dem Schicksale vorgrei-
fen?" fragte finster Alsufiew, der jenen haßte, nur
weil er ein Ausländer, ein Franzose und kein geborner
Russe war.

"Der Mann dort oben," entgegnete St. Priest,
nach dem nahen Hügel hinaufdeutend, wo eben ein
Schwarm Reiter sich um einen Mann mit stolzem Fe-
derbusche sammelten. "Er hat befohlen," fuhr er fort,
"sämmtliche Gefangene frei zurück zu senden."

Alsufiew blickte hinauf. Er verbeugte sich gehor-
sam. Es war der Zaar, der eben von der Höhe die
anrückenden Franzosen beobachtete. Napoleon der die
Meldungen von den Begebenheiten auf russischer Seite
erhalten hatte, war entweder aus Zufall oder in Ab-
sicht, einer Höhe, jener gegenüber, hinangesprengt.

So hielten beide mächtige Herrscher, aus hohem
Süden, aus tiefem Nord, zwei große Kaiser, sich hier
nahe gegenüber. Zwischen ihnen fluthet die Wilia und
das Kriegsleben. Napoleon, als er seinen Gegner er-
kannte, hob zum Gruße sein Hüttlein. Alexanders ho-
her Federbusch sah man zum Dank sich neigen.

Es schien, als würde eine Unterredung zwischen
beiden Kaisern stattfinden. Welch ein großer Moment
für ganz Europa!

Doch Alexander wendete sich ab und gab den Be-
fehl zum weitern Rückzuge, nach den Ufern der Düna.
Napoleon ließ seinen wilden Murat los, ihn zu verfol-
gen, während er nach Wilna zurückeilte um Litthauen
frei und zum Königreiche Polen mitgehörend zu erklären.

[Ende Spaltensatz]
*) Siehe im 2. Bande der "Kriegsbilder vom Jahre 1812"
in der Erzählung "Alexander in Wilna." Berl. bei Morin.
51 Conversations=Blatt. 52
[Beginn Spaltensatz]

Napoleon wendete sein Pferd und sprengte nach
den Vorposten am Ufer der Wilia.

Hier warf sich ein bleiches Weib, mit aufgelöse-
tem Haar, die Hände ringend, vor seinem Pferde nie-
der. Napoleon stutzte und blickte finster auf sie hin.
Ein Husar, der sich als ihr Bruder nannte, suchte sie
vom Kaiser zu entfernen; doch vergebens, sie flehte
ihn an, um Rettung für ihren Mann, den ihr die
Russen drüben eben rauben wollten.

„Führen denn die Russen gegen Weiber Krieg?“
sprach finster Nopoleon, und ließ den Hergang der Sache
sich berichten, während er gedankenvoll mit den Zügeln
seines Pferdes spielte, um nur das bleiche Weib nicht
anzusehen.

„Das sind die Früchte die der Kriegsbaum trägt,
und Weiber sollten unter seinen Zweigen nicht den Schat-
ten suchen,“ sprach er endlich, indem er nach der Szene
jenseits des Ufers blickte.

Dort waren eben zwei Kosacken mit einem neuen
Gefangenen, den sie heimlich diesseit, im Gebüsch ein-
gefangen hatten, angekommen. Sie hatten ihn, nach-
dem sie die Wilia durchschwommen, am Ufer niederge-
legt, und, da er im Wasser dem Ertrinken nahe ge-
wesen, durch Reiben und Rollen auf der Erde, wieder
ins Leben zurückgebracht. Jetzt naheten sie sich mit ihm
der Spielergruppe. Es war Jgnatis, der litthauische
Volontair, der, um den Aufforderungen zur eigenen
Auslieferung zu entgehen, sich in das Gebüsch heimlich
entfernt hatte, und hier von den spürenden Kosacken
mit dem Arkan eingefangen wurde.

Vom Bade und vom Schrecken erbleicht, trat er
vor dem Offizier der Wache, dessen Bruder er so un-
kriegerisch niedergehauen. Er fürchtete dessen Rache,
und sah sich als den schuldigen Urheber der Todesbe-
drängniß der neun Franzosen. Der Offizier aber schwieg.
Hätte er ihn als den Schuldigen genannt, so würde
der strenge General dies als eine höhere Fügung und
als einen Fingerzeig der vergeltenden Gerechtigkeit be-
trachtet haben, um eine fürchterliche Rache und exem-
plarische Bestrafung verhängen zu müssen. – Aber
wenn nun das Loos einen Unschuldigen traf. Er wußte
nicht auf welche Weise er jetzt Menschlichkeit ausüben
sollte.

Da trat Alsufiew selber herbei. Er erkannte in
dem einen Gefangenen einen Litthauer, und hielt ihn,
eine Art Rebellen, für strafwürdiger als die feindlichen
Franzosen. – Die zuerst beabsichtigte Decimirung hatte
er in ein Würfelspiel schon verwandelt, und glaubte
nunmehr durch die Angst jene Franzosen genügend be-
straft. Der Litthauer aber, obgleich er ihn nicht ge-
radezu zum Tode verurtheilen wollte, sollte eine stren-
gere Strafe erleiden. Ließ er ihn aber jetzt mit den
Husaren noch würfeln, so konnte er leicht sich frei und
von jenen einen ins Unglück spielen. Er wollte es dem un-
sichtbar waltenden Fatum anheimstellen zu entscheiden,
um nicht durch unzeitige Milde oder Strenge den
Zorn der unsichtbaren Macht auf sich zu laden.

Es ist eine alte Erfahrung, daß Soldaten, selbst
die Aufgeklärteren, vor dem Feinde, im Angesichte
[Spaltenumbruch] von Gefahren, sich mehr als sonst zum Aberglauben neigen
und gerne an Vorbedeutungen und Ahnungen, und guten
und bösen Zeichen und Omen hängen. Besonders ist
dies bei den Russen, namentlich den Kosacken der Fall.
Alsufiew nahm selbst die Würfel. Warf der Litthauer
mehr wie er, so sollte er, wie durch ein Gottesurtheil
begnadigt sein; warf er weniger, so – dort stand die
Section der Grenadire zur Füsiliade bereit und die
Grube war geschaufelt.

Zitternd stand Jgnatis da, schuldbeladen gab er
kaum der Hoffnung Raum. Alsufiew warf und –
Jgnatis stierte hin – achtzehn Augen schienen todes-
dunkel ihn anzublicken. Verzweifelnd wollte er es gar
nicht mehr versuchen, sein Glück gegen das rächende
Schicksal in die Schranken zu rufen.

„Wirf!“ befahl aber der General, denn noch
konnte er ihm gleich kommen und vielleicht das nächste
mal dann übertreffen.

Jgnatis nahm mechanisch die Würfel; kaum ach-
tete er darauf, daß hinter ihm ein Reiter vom Pferde
gesprungen war. Er ließ die Würfel der kalten Hand
entrollen.

„Neunzehn!“ rief der Angekommene, der noch
drei Würfel hinzuwarf.

Staunend blickte der Gerettete sich um. Es war ein
Mann auf den er bei bem Abzuge der Russen aus Wilna
eine Pistole abfeuerte. *) Es war Eugen St. Priest,
der junge russische General, der Liebling des Zaren.

„Wer hieß Jhnen hier dem Schicksale vorgrei-
fen?“ fragte finster Alsufiew, der jenen haßte, nur
weil er ein Ausländer, ein Franzose und kein geborner
Russe war.

„Der Mann dort oben,“ entgegnete St. Priest,
nach dem nahen Hügel hinaufdeutend, wo eben ein
Schwarm Reiter sich um einen Mann mit stolzem Fe-
derbusche sammelten. „Er hat befohlen,“ fuhr er fort,
„sämmtliche Gefangene frei zurück zu senden.“

Alsufiew blickte hinauf. Er verbeugte sich gehor-
sam. Es war der Zaar, der eben von der Höhe die
anrückenden Franzosen beobachtete. Napoleon der die
Meldungen von den Begebenheiten auf russischer Seite
erhalten hatte, war entweder aus Zufall oder in Ab-
sicht, einer Höhe, jener gegenüber, hinangesprengt.

So hielten beide mächtige Herrscher, aus hohem
Süden, aus tiefem Nord, zwei große Kaiser, sich hier
nahe gegenüber. Zwischen ihnen fluthet die Wilia und
das Kriegsleben. Napoleon, als er seinen Gegner er-
kannte, hob zum Gruße sein Hüttlein. Alexanders ho-
her Federbusch sah man zum Dank sich neigen.

Es schien, als würde eine Unterredung zwischen
beiden Kaisern stattfinden. Welch ein großer Moment
für ganz Europa!

Doch Alexander wendete sich ab und gab den Be-
fehl zum weitern Rückzuge, nach den Ufern der Düna.
Napoleon ließ seinen wilden Murat los, ihn zu verfol-
gen, während er nach Wilna zurückeilte um Litthauen
frei und zum Königreiche Polen mitgehörend zu erklären.

[Ende Spaltensatz]
*) Siehe im 2. Bande der „Kriegsbilder vom Jahre 1812“
in der Erzählung „Alexander in Wilna.“ Berl. bei Morin.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <pb facs="#f0002"/>
        <fw type="header" place="top">51 <hi rendition="#c">Conversations=Blatt.</hi> <hi rendition="#right">52</hi></fw>
        <cb type="start" n="51"/>
        <p>Napoleon wendete sein Pferd und sprengte nach<lb/>
den Vorposten am Ufer der Wilia.</p><lb/>
        <p>Hier warf sich ein bleiches Weib, mit aufgelöse-<lb/>
tem Haar, die Hände ringend, vor seinem Pferde nie-<lb/>
der. Napoleon stutzte und blickte finster auf sie hin.<lb/>
Ein Husar, der sich als ihr Bruder nannte, suchte sie<lb/>
vom Kaiser zu entfernen; doch vergebens, sie flehte<lb/>
ihn an, um Rettung für ihren Mann, den ihr die<lb/>
Russen drüben eben rauben wollten.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Führen denn die Russen gegen Weiber Krieg?&#x201C;<lb/>
sprach finster Nopoleon, und ließ den Hergang der Sache<lb/>
sich berichten, während er gedankenvoll mit den Zügeln<lb/>
seines Pferdes spielte, um nur das bleiche Weib nicht<lb/>
anzusehen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Das sind die Früchte die der Kriegsbaum trägt,<lb/>
und Weiber sollten unter seinen Zweigen nicht den Schat-<lb/>
ten suchen,&#x201C; sprach er endlich, indem er nach der Szene<lb/>
jenseits des Ufers blickte.</p><lb/>
        <p>Dort waren eben zwei Kosacken mit einem neuen<lb/>
Gefangenen, den sie heimlich diesseit, im Gebüsch ein-<lb/>
gefangen hatten, angekommen. Sie hatten ihn, nach-<lb/>
dem sie die Wilia durchschwommen, am Ufer niederge-<lb/>
legt, und, da er im Wasser dem Ertrinken nahe ge-<lb/>
wesen, durch Reiben und Rollen auf der Erde, wieder<lb/>
ins Leben zurückgebracht. Jetzt naheten sie sich mit ihm<lb/>
der Spielergruppe. Es war Jgnatis, der litthauische<lb/>
Volontair, der, um den Aufforderungen zur eigenen<lb/>
Auslieferung zu entgehen, sich in das Gebüsch heimlich<lb/>
entfernt hatte, und hier von den spürenden Kosacken<lb/>
mit dem Arkan eingefangen wurde.</p><lb/>
        <p>Vom Bade und vom Schrecken erbleicht, trat er<lb/>
vor dem Offizier der Wache, dessen Bruder er so un-<lb/>
kriegerisch niedergehauen. Er fürchtete dessen Rache,<lb/>
und sah sich als den schuldigen Urheber der Todesbe-<lb/>
drängniß der neun Franzosen. Der Offizier aber schwieg.<lb/>
Hätte er ihn als den Schuldigen genannt, so würde<lb/>
der strenge General dies als eine höhere Fügung und<lb/>
als einen Fingerzeig der vergeltenden Gerechtigkeit be-<lb/>
trachtet haben, um eine fürchterliche Rache und exem-<lb/>
plarische Bestrafung verhängen zu müssen. &#x2013; Aber<lb/>
wenn nun das Loos einen Unschuldigen traf. Er wußte<lb/>
nicht auf welche Weise er jetzt Menschlichkeit ausüben<lb/>
sollte.</p><lb/>
        <p>Da trat Alsufiew selber herbei. Er erkannte in<lb/>
dem einen Gefangenen einen Litthauer, und hielt ihn,<lb/>
eine Art Rebellen, für strafwürdiger als die feindlichen<lb/>
Franzosen. &#x2013; Die zuerst beabsichtigte Decimirung hatte<lb/>
er in ein Würfelspiel schon verwandelt, und glaubte<lb/>
nunmehr durch die Angst jene Franzosen genügend be-<lb/>
straft. Der Litthauer aber, obgleich er ihn nicht ge-<lb/>
radezu zum Tode verurtheilen wollte, sollte eine stren-<lb/>
gere Strafe erleiden. Ließ er ihn aber jetzt mit den<lb/>
Husaren noch würfeln, so konnte er leicht sich frei und<lb/>
von jenen einen ins Unglück spielen. Er wollte es dem un-<lb/>
sichtbar waltenden Fatum anheimstellen zu entscheiden,<lb/>
um nicht durch unzeitige Milde oder Strenge den<lb/>
Zorn der unsichtbaren Macht auf sich zu laden.</p><lb/>
        <p>Es ist eine alte Erfahrung, daß Soldaten, selbst<lb/>
die Aufgeklärteren, vor dem Feinde, im Angesichte<lb/><cb n="52"/>
von Gefahren, sich mehr als sonst zum Aberglauben neigen<lb/>
und gerne an Vorbedeutungen und Ahnungen, und guten<lb/>
und bösen Zeichen und Omen hängen. Besonders ist<lb/>
dies bei den Russen, namentlich den Kosacken der Fall.<lb/>
Alsufiew nahm selbst die Würfel. Warf der Litthauer<lb/>
mehr wie er, so sollte er, wie durch ein Gottesurtheil<lb/>
begnadigt sein; warf er weniger, so &#x2013; dort stand die<lb/>
Section der Grenadire zur Füsiliade bereit und die<lb/>
Grube war geschaufelt.</p><lb/>
        <p>Zitternd stand Jgnatis da, schuldbeladen gab er<lb/>
kaum der Hoffnung Raum. Alsufiew warf und &#x2013;<lb/>
Jgnatis stierte hin &#x2013; achtzehn Augen schienen todes-<lb/>
dunkel ihn anzublicken. Verzweifelnd wollte er es gar<lb/>
nicht mehr versuchen, sein Glück gegen das rächende<lb/>
Schicksal in die Schranken zu rufen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wirf!&#x201C; befahl aber der General, denn noch<lb/>
konnte er ihm gleich kommen und vielleicht das nächste<lb/>
mal dann übertreffen.</p><lb/>
        <p>Jgnatis nahm mechanisch die Würfel; kaum ach-<lb/>
tete er darauf, daß hinter ihm ein Reiter vom Pferde<lb/>
gesprungen war. Er ließ die Würfel der kalten Hand<lb/>
entrollen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Neunzehn!&#x201C; rief der Angekommene, der noch<lb/>
drei Würfel hinzuwarf.</p><lb/>
        <p>Staunend blickte der Gerettete sich um. Es war ein<lb/>
Mann auf den er bei bem Abzuge der Russen aus Wilna<lb/>
eine Pistole abfeuerte. <note place="foot" n="*)">Siehe im 2. Bande der &#x201E;Kriegsbilder vom Jahre 1812&#x201C;<lb/>
in der Erzählung &#x201E;Alexander in Wilna.&#x201C; Berl. bei Morin.</note> Es war Eugen St. Priest,<lb/>
der junge russische General, der Liebling des Zaren.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wer hieß Jhnen hier dem Schicksale vorgrei-<lb/>
fen?&#x201C; fragte finster Alsufiew, der jenen haßte, nur<lb/>
weil er ein Ausländer, ein Franzose und kein geborner<lb/>
Russe war.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Der Mann dort oben,&#x201C; entgegnete St. Priest,<lb/>
nach dem nahen Hügel hinaufdeutend, wo eben ein<lb/>
Schwarm Reiter sich um einen Mann mit stolzem Fe-<lb/>
derbusche sammelten. &#x201E;Er hat befohlen,&#x201C; fuhr er fort,<lb/>
&#x201E;sämmtliche Gefangene frei zurück zu senden.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Alsufiew blickte hinauf. Er verbeugte sich gehor-<lb/>
sam. Es war der Zaar, der eben von der Höhe die<lb/>
anrückenden Franzosen beobachtete. Napoleon der die<lb/>
Meldungen von den Begebenheiten auf russischer Seite<lb/>
erhalten hatte, war entweder aus Zufall oder in Ab-<lb/>
sicht, einer Höhe, jener gegenüber, hinangesprengt.</p><lb/>
        <p>So hielten beide mächtige Herrscher, aus hohem<lb/>
Süden, aus tiefem Nord, zwei große Kaiser, sich hier<lb/>
nahe gegenüber. Zwischen ihnen fluthet die Wilia und<lb/>
das Kriegsleben. Napoleon, als er seinen Gegner er-<lb/>
kannte, hob zum Gruße sein Hüttlein. Alexanders ho-<lb/>
her Federbusch sah man zum Dank sich neigen.</p><lb/>
        <p>Es schien, als würde eine Unterredung zwischen<lb/>
beiden Kaisern stattfinden. Welch ein großer Moment<lb/>
für ganz Europa!</p><lb/>
        <p>Doch Alexander wendete sich ab und gab den Be-<lb/>
fehl zum weitern Rückzuge, nach den Ufern der Düna.<lb/>
Napoleon ließ seinen wilden Murat los, ihn zu verfol-<lb/>
gen, während er nach Wilna zurückeilte um Litthauen<lb/>
frei und zum Königreiche Polen mitgehörend zu erklären.</p><lb/>
        <cb type="end"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0002] 51 Conversations=Blatt. 52 Napoleon wendete sein Pferd und sprengte nach den Vorposten am Ufer der Wilia. Hier warf sich ein bleiches Weib, mit aufgelöse- tem Haar, die Hände ringend, vor seinem Pferde nie- der. Napoleon stutzte und blickte finster auf sie hin. Ein Husar, der sich als ihr Bruder nannte, suchte sie vom Kaiser zu entfernen; doch vergebens, sie flehte ihn an, um Rettung für ihren Mann, den ihr die Russen drüben eben rauben wollten. „Führen denn die Russen gegen Weiber Krieg?“ sprach finster Nopoleon, und ließ den Hergang der Sache sich berichten, während er gedankenvoll mit den Zügeln seines Pferdes spielte, um nur das bleiche Weib nicht anzusehen. „Das sind die Früchte die der Kriegsbaum trägt, und Weiber sollten unter seinen Zweigen nicht den Schat- ten suchen,“ sprach er endlich, indem er nach der Szene jenseits des Ufers blickte. Dort waren eben zwei Kosacken mit einem neuen Gefangenen, den sie heimlich diesseit, im Gebüsch ein- gefangen hatten, angekommen. Sie hatten ihn, nach- dem sie die Wilia durchschwommen, am Ufer niederge- legt, und, da er im Wasser dem Ertrinken nahe ge- wesen, durch Reiben und Rollen auf der Erde, wieder ins Leben zurückgebracht. Jetzt naheten sie sich mit ihm der Spielergruppe. Es war Jgnatis, der litthauische Volontair, der, um den Aufforderungen zur eigenen Auslieferung zu entgehen, sich in das Gebüsch heimlich entfernt hatte, und hier von den spürenden Kosacken mit dem Arkan eingefangen wurde. Vom Bade und vom Schrecken erbleicht, trat er vor dem Offizier der Wache, dessen Bruder er so un- kriegerisch niedergehauen. Er fürchtete dessen Rache, und sah sich als den schuldigen Urheber der Todesbe- drängniß der neun Franzosen. Der Offizier aber schwieg. Hätte er ihn als den Schuldigen genannt, so würde der strenge General dies als eine höhere Fügung und als einen Fingerzeig der vergeltenden Gerechtigkeit be- trachtet haben, um eine fürchterliche Rache und exem- plarische Bestrafung verhängen zu müssen. – Aber wenn nun das Loos einen Unschuldigen traf. Er wußte nicht auf welche Weise er jetzt Menschlichkeit ausüben sollte. Da trat Alsufiew selber herbei. Er erkannte in dem einen Gefangenen einen Litthauer, und hielt ihn, eine Art Rebellen, für strafwürdiger als die feindlichen Franzosen. – Die zuerst beabsichtigte Decimirung hatte er in ein Würfelspiel schon verwandelt, und glaubte nunmehr durch die Angst jene Franzosen genügend be- straft. Der Litthauer aber, obgleich er ihn nicht ge- radezu zum Tode verurtheilen wollte, sollte eine stren- gere Strafe erleiden. Ließ er ihn aber jetzt mit den Husaren noch würfeln, so konnte er leicht sich frei und von jenen einen ins Unglück spielen. Er wollte es dem un- sichtbar waltenden Fatum anheimstellen zu entscheiden, um nicht durch unzeitige Milde oder Strenge den Zorn der unsichtbaren Macht auf sich zu laden. Es ist eine alte Erfahrung, daß Soldaten, selbst die Aufgeklärteren, vor dem Feinde, im Angesichte von Gefahren, sich mehr als sonst zum Aberglauben neigen und gerne an Vorbedeutungen und Ahnungen, und guten und bösen Zeichen und Omen hängen. Besonders ist dies bei den Russen, namentlich den Kosacken der Fall. Alsufiew nahm selbst die Würfel. Warf der Litthauer mehr wie er, so sollte er, wie durch ein Gottesurtheil begnadigt sein; warf er weniger, so – dort stand die Section der Grenadire zur Füsiliade bereit und die Grube war geschaufelt. Zitternd stand Jgnatis da, schuldbeladen gab er kaum der Hoffnung Raum. Alsufiew warf und – Jgnatis stierte hin – achtzehn Augen schienen todes- dunkel ihn anzublicken. Verzweifelnd wollte er es gar nicht mehr versuchen, sein Glück gegen das rächende Schicksal in die Schranken zu rufen. „Wirf!“ befahl aber der General, denn noch konnte er ihm gleich kommen und vielleicht das nächste mal dann übertreffen. Jgnatis nahm mechanisch die Würfel; kaum ach- tete er darauf, daß hinter ihm ein Reiter vom Pferde gesprungen war. Er ließ die Würfel der kalten Hand entrollen. „Neunzehn!“ rief der Angekommene, der noch drei Würfel hinzuwarf. Staunend blickte der Gerettete sich um. Es war ein Mann auf den er bei bem Abzuge der Russen aus Wilna eine Pistole abfeuerte. *) Es war Eugen St. Priest, der junge russische General, der Liebling des Zaren. „Wer hieß Jhnen hier dem Schicksale vorgrei- fen?“ fragte finster Alsufiew, der jenen haßte, nur weil er ein Ausländer, ein Franzose und kein geborner Russe war. „Der Mann dort oben,“ entgegnete St. Priest, nach dem nahen Hügel hinaufdeutend, wo eben ein Schwarm Reiter sich um einen Mann mit stolzem Fe- derbusche sammelten. „Er hat befohlen,“ fuhr er fort, „sämmtliche Gefangene frei zurück zu senden.“ Alsufiew blickte hinauf. Er verbeugte sich gehor- sam. Es war der Zaar, der eben von der Höhe die anrückenden Franzosen beobachtete. Napoleon der die Meldungen von den Begebenheiten auf russischer Seite erhalten hatte, war entweder aus Zufall oder in Ab- sicht, einer Höhe, jener gegenüber, hinangesprengt. So hielten beide mächtige Herrscher, aus hohem Süden, aus tiefem Nord, zwei große Kaiser, sich hier nahe gegenüber. Zwischen ihnen fluthet die Wilia und das Kriegsleben. Napoleon, als er seinen Gegner er- kannte, hob zum Gruße sein Hüttlein. Alexanders ho- her Federbusch sah man zum Dank sich neigen. Es schien, als würde eine Unterredung zwischen beiden Kaisern stattfinden. Welch ein großer Moment für ganz Europa! Doch Alexander wendete sich ab und gab den Be- fehl zum weitern Rückzuge, nach den Ufern der Düna. Napoleon ließ seinen wilden Murat los, ihn zu verfol- gen, während er nach Wilna zurückeilte um Litthauen frei und zum Königreiche Polen mitgehörend zu erklären. *) Siehe im 2. Bande der „Kriegsbilder vom Jahre 1812“ in der Erzählung „Alexander in Wilna.“ Berl. bei Morin.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt04_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt04_1838/2
Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 4. Burg/Berlin, 1838, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt04_1838/2>, abgerufen am 27.11.2024.