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Tübinger Chronik. Nr. 82. [Tübingen (Württemberg)], 9. Juli 1845.

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[Beginn Spaltensatz]

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chentl. 3mal, Montag, Mitt-
woch u. Freitag u. kostet hier
und durch Boten bezogen mo-
natlich 9 kr. Durch die Post
bezogen halbjährlich 1 fl. Ein-
rückungsgebühr f. 1 Linie aus
gewöhnlicher Schrift 1 kr. Für
Tübingen u. Umgegend abon-
nirt man bei d. Redaction in d.
langen Gasse nächst d. Stifts-
kirche, wo auch Ankündigun-
gen und Aufsätze aller Art
abgegeben werden können.

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Tübinger [Abbildung] Chronik.

[Spaltenumbruch]

Briefkästen sind aufgestellt:
bei Hrn. Messerschmidt Busse
nächst d. Rathhaus, bei Hrn.
Bürstenfabrikant Klein beim
Hirsch, bei Fr. Messrschm[unleserliches Material]Wlh[unleserliches Material]. Fack in d. neuen Straße
bei Hrn. - - am
Neckarsthor u. bei Hrn -

- in der Neckarhalde, in
welche Ankündigungen aller
Art eingelegt werden können.
Diese Briefkästen werden je-
den Tag geleert.

[Ende Spaltensatz]
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 82. Mittwoch den 9. Juli. 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Kurzgefaßter Lebens=Abriß des durch Gift
ermordeten Goldarbeiters Ruthardt.
Von einem seiner Freunde.
Schluß.

Statt die Briefe zu senden, ließ er mir Mon-
tags sagen, daß er erkrankt sei, und ließ mich er-
suchen, zu ihm zu kommen. Nachdem ich einige
Augenblicke mit ihm gesprochen, erzählte mir seine
Frau Folgendes: "denken Sie nur, gestern wollten
wir mit Herrn R..... nach Cannstadt, um dort
zu Mittag zu essen, nahmen aber zuvor ein zweites
Frühstück; durch Regen abgehalten, waren wir um 12
Uhr noch hier, zu wenig Zeit vor mir, um ein
Mittagessen zu bereiten und doch hungrig, machte
ich noch in der Eile auf Verlangen des Ruthardt
einige polnische Pfannkuchen fertig; das Wetter
hellte sich auf und wir traten den Weg an. Jn
der Gegend des Schloßgartens klagte Ruthardt über
Uebelkeit, und ich wiederholte, was ich schon während
des Essens gesagt, - er habe zu viel Pfannkuchen
gegessen - sie seien fett gewesen, was er noch nie
habe ertragen können, sie seien umgekehrt und kaum
zu Hause angelangt, habe das fürchterliche Erbrechen
begonnen, welches erst vor Kurzem nachgelassen habe."
Ruthardt war für das kurze Kranksein sehr entstellt,
glaubte aber das Aergste überstanden zu haben.

Donnerstags darauf besuchte ich ihn wieder,
fühlte mich aber selbst sehr unwohl, und durch die
Erzählung der Leiden des R., welche ich von dessen
Frau im Wohnzimmer angehört, während ein Freund
demselben wartete, so sehr angegriffen, daß ich bat,
meinen Besuch dem Kranken zu verschweigen, ich
wolle in freier Luft eine Stunde gehen und alsdann
wiederkommen. Es konnte ihr nicht verborgen blei-
ben, daß ich mit innerem Abscheu ihre kalte Erzäh-
lung aufgenommen, und sie schloß mit folgenden
Worten: "Es fällt Jhnen auf, daß ich so gefaßt
bin - aber ich kann ja nicht traurig seyn, sein
Ende so nahe zu sehen, ich muß es sogar wünschen,
dann was habe ich für eine Zukünft - entweder
mein Leben lang einen Narren oder einen kranken
Mann, denn, denken Sie sich - was Sie noch gar
nicht wissen - er hat sich vorgesetzt, ein Perpetuum
mobile
zu erfinden." - Auf die rohe Sprache hin
war ich höchst erbittert, und sagte nur: "was R.
[Spaltenumbruch] macht und gemacht hat, können Sie wohl einem
Fremden in diesem Namen bezeichnen, aber nicht
mir - verschweigen Sie meinen Besuch, ich komme
später." - Jch konnte nicht Wort halten, erkrankte
selber ernstlicher und sah ihn niemals wieder.

Da er während dieser Zeit Verlangen trug, mich
zu sehen, ich diesem aber leider nicht entsprechen
konnte, schrieb ich an seinen Arzt und sagte in die-
sen Zeilen, daß ich von Ruthardt in ein höchst wich-
tiges Geheimniß gezogen sei. Jm Fall es nöthig
wäre, Ruthardt meinen Brief vorzulesen, richtete
ich an diesen die Bitte, daß wenn er in Betreff des
besagten Geheimnisses mir noch etwas zu bemerken
habe, er es seinem Arzte an meiner Statt vertrauen
möchte, und wenn es Gottes Wille sei, daß er
nicht mehr genesen sollte, so bedürfe es keiner Wie-
derholung der Erinnerung meines Versprechens, daß
ich stets theilnehmender Freund seiner Familie seyn
und bleiben werde.

Zu meiner gänzlichen Bernhigung sagte er sei-
nem Arzte, daß er, in Beziehung dessen, was er
mir vertraut, nichts mehr zu bemerken habe, und
daß er mich nur gerne noch einmal gesehen hätte.

Daß Ruthardt ein Freigeist gewesen seyn soll,
ist allen, die ihn näher kannten, gänzlich fremd.

Am Vorabend seines Sterbetags ( erzählt ein
Freund und College des R. ) habe dessen Frau im
Beiseyn eines Dritten mit aller Fassung das Be-
gräbniß angeordnet, wobei ihr auch das Geringste
nicht entging.

Als ersterer kurz vor Mitternacht abermals ge-
rufen wurde, und bei seiner Aukunft dem Kranken
mit thränenden Augen Trost zusprach, entgegnete sie
in hartem Tone: "er habe nicht nöthig, ihrem
Manne Hoffnung zu machen, dieser sei schon so
vernünftig, um einzusehen, daß er heute noch ster-
ben müsse." Der Sterbende reichte dem Freunde
die Hand mit den Worten: ja - es - ist -
aus - mit - mir;" und da wie es schien, R.
bemerkte, daß seine Frau, als sie ihm am Bette
etwas zurecht legte, diese Verrichtung mit Wider-
willen that, sagte er in sterbendem Tone, " Na-
nette - thu es mir doch gerne - es währt ja nicht
lange mehr." -

Er starb den 11. Mai 1844, Mittags 12 Uhr.
Der Mord wurde noch an demselben Tage auf eine
höchst wunderbare Art endeckt, und so schließt das
Leben eines allgemein geachteten, wackern Mannes,
der sich mit vollem Rechte sagen konnte: "ich habe
keinen Feind gehabt."     F. F.

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Tübinger [Abbildung] Chronik.

[Spaltenumbruch]

Briefkästen sind aufgestellt:
bei Hrn. Messerschmidt Busse
nächst d. Rathhaus, bei Hrn.
Bürstenfabrikant Klein beim
Hirsch, bei Fr. Messrschm[unleserliches Material]Wlh[unleserliches Material]. Fack in d. neuen Straße
bei Hrn. – – am
Neckarsthor u. bei Hrn –

– in der Neckarhalde, in
welche Ankündigungen aller
Art eingelegt werden können.
Diese Briefkästen werden je-
den Tag geleert.

[Ende Spaltensatz]
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 82. Mittwoch den 9. Juli. 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Kurzgefaßter Lebens=Abriß des durch Gift
ermordeten Goldarbeiters Ruthardt.
Von einem seiner Freunde.
Schluß.

Statt die Briefe zu senden, ließ er mir Mon-
tags sagen, daß er erkrankt sei, und ließ mich er-
suchen, zu ihm zu kommen. Nachdem ich einige
Augenblicke mit ihm gesprochen, erzählte mir seine
Frau Folgendes: „denken Sie nur, gestern wollten
wir mit Herrn R..... nach Cannstadt, um dort
zu Mittag zu essen, nahmen aber zuvor ein zweites
Frühstück; durch Regen abgehalten, waren wir um 12
Uhr noch hier, zu wenig Zeit vor mir, um ein
Mittagessen zu bereiten und doch hungrig, machte
ich noch in der Eile auf Verlangen des Ruthardt
einige polnische Pfannkuchen fertig; das Wetter
hellte sich auf und wir traten den Weg an. Jn
der Gegend des Schloßgartens klagte Ruthardt über
Uebelkeit, und ich wiederholte, was ich schon während
des Essens gesagt, – er habe zu viel Pfannkuchen
gegessen – sie seien fett gewesen, was er noch nie
habe ertragen können, sie seien umgekehrt und kaum
zu Hause angelangt, habe das fürchterliche Erbrechen
begonnen, welches erst vor Kurzem nachgelassen habe.“
Ruthardt war für das kurze Kranksein sehr entstellt,
glaubte aber das Aergste überstanden zu haben.

Donnerstags darauf besuchte ich ihn wieder,
fühlte mich aber selbst sehr unwohl, und durch die
Erzählung der Leiden des R., welche ich von dessen
Frau im Wohnzimmer angehört, während ein Freund
demselben wartete, so sehr angegriffen, daß ich bat,
meinen Besuch dem Kranken zu verschweigen, ich
wolle in freier Luft eine Stunde gehen und alsdann
wiederkommen. Es konnte ihr nicht verborgen blei-
ben, daß ich mit innerem Abscheu ihre kalte Erzäh-
lung aufgenommen, und sie schloß mit folgenden
Worten: „Es fällt Jhnen auf, daß ich so gefaßt
bin – aber ich kann ja nicht traurig seyn, sein
Ende so nahe zu sehen, ich muß es sogar wünschen,
dann was habe ich für eine Zukünft – entweder
mein Leben lang einen Narren oder einen kranken
Mann, denn, denken Sie sich – was Sie noch gar
nicht wissen – er hat sich vorgesetzt, ein Perpetuum
mobile
zu erfinden.“ – Auf die rohe Sprache hin
war ich höchst erbittert, und sagte nur: „was R.
[Spaltenumbruch] macht und gemacht hat, können Sie wohl einem
Fremden in diesem Namen bezeichnen, aber nicht
mir – verschweigen Sie meinen Besuch, ich komme
später.“ – Jch konnte nicht Wort halten, erkrankte
selber ernstlicher und sah ihn niemals wieder.

Da er während dieser Zeit Verlangen trug, mich
zu sehen, ich diesem aber leider nicht entsprechen
konnte, schrieb ich an seinen Arzt und sagte in die-
sen Zeilen, daß ich von Ruthardt in ein höchst wich-
tiges Geheimniß gezogen sei. Jm Fall es nöthig
wäre, Ruthardt meinen Brief vorzulesen, richtete
ich an diesen die Bitte, daß wenn er in Betreff des
besagten Geheimnisses mir noch etwas zu bemerken
habe, er es seinem Arzte an meiner Statt vertrauen
möchte, und wenn es Gottes Wille sei, daß er
nicht mehr genesen sollte, so bedürfe es keiner Wie-
derholung der Erinnerung meines Versprechens, daß
ich stets theilnehmender Freund seiner Familie seyn
und bleiben werde.

Zu meiner gänzlichen Bernhigung sagte er sei-
nem Arzte, daß er, in Beziehung dessen, was er
mir vertraut, nichts mehr zu bemerken habe, und
daß er mich nur gerne noch einmal gesehen hätte.

Daß Ruthardt ein Freigeist gewesen seyn soll,
ist allen, die ihn näher kannten, gänzlich fremd.

Am Vorabend seines Sterbetags ( erzählt ein
Freund und College des R. ) habe dessen Frau im
Beiseyn eines Dritten mit aller Fassung das Be-
gräbniß angeordnet, wobei ihr auch das Geringste
nicht entging.

Als ersterer kurz vor Mitternacht abermals ge-
rufen wurde, und bei seiner Aukunft dem Kranken
mit thränenden Augen Trost zusprach, entgegnete sie
in hartem Tone: „er habe nicht nöthig, ihrem
Manne Hoffnung zu machen, dieser sei schon so
vernünftig, um einzusehen, daß er heute noch ster-
ben müsse.“ Der Sterbende reichte dem Freunde
die Hand mit den Worten: ja – es – ist –
aus – mit – mir;“ und da wie es schien, R.
bemerkte, daß seine Frau, als sie ihm am Bette
etwas zurecht legte, diese Verrichtung mit Wider-
willen that, sagte er in sterbendem Tone, „ Na-
nette – thu es mir doch gerne – es währt ja nicht
lange mehr.“ –

Er starb den 11. Mai 1844, Mittags 12 Uhr.
Der Mord wurde noch an demselben Tage auf eine
höchst wunderbare Art endeckt, und so schließt das
Leben eines allgemein geachteten, wackern Mannes,
der sich mit vollem Rechte sagen konnte: „ich habe
keinen Feind gehabt.“     F. F.

[Ende Spaltensatz]
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Statt die Briefe zu senden, ließ er mir Mon- tags sagen, daß er erkrankt sei, und ließ mich er- suchen, zu ihm zu kommen. Nachdem ich einige Augenblicke mit ihm gesprochen, erzählte mir seine Frau Folgendes: „denken Sie nur, gestern wollten wir mit Herrn R..... nach Cannstadt, um dort zu Mittag zu essen, nahmen aber zuvor ein zweites Frühstück; durch Regen abgehalten, waren wir um 12 Uhr noch hier, zu wenig Zeit vor mir, um ein Mittagessen zu bereiten und doch hungrig, machte ich noch in der Eile auf Verlangen des Ruthardt einige polnische Pfannkuchen fertig; das Wetter hellte sich auf und wir traten den Weg an. 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Da er während dieser Zeit Verlangen trug, mich zu sehen, ich diesem aber leider nicht entsprechen konnte, schrieb ich an seinen Arzt und sagte in die- sen Zeilen, daß ich von Ruthardt in ein höchst wich- tiges Geheimniß gezogen sei. Jm Fall es nöthig wäre, Ruthardt meinen Brief vorzulesen, richtete ich an diesen die Bitte, daß wenn er in Betreff des besagten Geheimnisses mir noch etwas zu bemerken habe, er es seinem Arzte an meiner Statt vertrauen möchte, und wenn es Gottes Wille sei, daß er nicht mehr genesen sollte, so bedürfe es keiner Wie- derholung der Erinnerung meines Versprechens, daß ich stets theilnehmender Freund seiner Familie seyn und bleiben werde. Zu meiner gänzlichen Bernhigung sagte er sei- nem Arzte, daß er, in Beziehung dessen, was er mir vertraut, nichts mehr zu bemerken habe, und daß er mich nur gerne noch einmal gesehen hätte. Daß Ruthardt ein Freigeist gewesen seyn soll, ist allen, die ihn näher kannten, gänzlich fremd. Am Vorabend seines Sterbetags ( erzählt ein Freund und College des R. ) habe dessen Frau im Beiseyn eines Dritten mit aller Fassung das Be- gräbniß angeordnet, wobei ihr auch das Geringste nicht entging. Als ersterer kurz vor Mitternacht abermals ge- rufen wurde, und bei seiner Aukunft dem Kranken mit thränenden Augen Trost zusprach, entgegnete sie in hartem Tone: „er habe nicht nöthig, ihrem Manne Hoffnung zu machen, dieser sei schon so vernünftig, um einzusehen, daß er heute noch ster- ben müsse.“ Der Sterbende reichte dem Freunde die Hand mit den Worten: ja – es – ist – aus – mit – mir;“ und da wie es schien, R. bemerkte, daß seine Frau, als sie ihm am Bette etwas zurecht legte, diese Verrichtung mit Wider- willen that, sagte er in sterbendem Tone, „ Na- nette – thu es mir doch gerne – es währt ja nicht lange mehr.“ – Er starb den 11. Mai 1844, Mittags 12 Uhr. Der Mord wurde noch an demselben Tage auf eine höchst wunderbare Art endeckt, und so schließt das Leben eines allgemein geachteten, wackern Mannes, der sich mit vollem Rechte sagen konnte: „ich habe keinen Feind gehabt.“ F. F.

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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
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Zitationshilfe: Tübinger Chronik. Nr. 82. [Tübingen (Württemberg)], 9. Juli 1845, S. [329]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_chronik082_1845/1>, abgerufen am 03.12.2024.