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Allgemeine Zeitung, Nr. 91, 3. April 1900.

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Nr. 91.
Morgenblatt.
103. Jahrgang. München, Dienstag, 3. April 1900.

Wöchentlich
22 Ausgaben.
Bezugspreise:
Durch die Postämter:
jährlich M. 36. --,
ohne Beil. M. 18. --
(viertelj. M. 9. --,
ohne Beil. M. 4.50);
in München b. d Ex-
pedition od. d. Depots
monatlich M. 2. --,
ohne Beil. M. 1. 20.
Zustellg. mil. 50 Pf.
Direkter Vezug für
Deutschl. u. Oesterreich
monatlich M. 4. --,
ohne Beil. M. 3. --,
Ausland M. 5. 60,
ohne Beil. M. 4. 40.

Allgemeine Zeitung.

Insertionspreis
für die kleinspaltige
Kolonelzeile od. deren
Raum 25 Pfennig;
finanzielle Anzeigen
35 Pf.; lokale Ver-
kaufsanzeig. 20 Pf.;
Stellengesuche 15 Pf.



Redaktion und Expe-
dition besinden sich
Schwanthalerstr. 35
in München.


Berichte sind an die
Nedaktion, Inserat-
aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
zusenden.



Abonnements für Berlin nimmt unsere dortige Filiale in der Leipzigerstraße 11 entgegen.
Abonnements für das Ausland
nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str., London; für Frankreich.
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klincksieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien,
Niederlande, Rumänien. Rußland, Schweden und Norwegen. Schweiz, Serbien die dortigen Postämter; für den Orient
das k. k. Postamt in Wien oder Triest; für Nordamerika F. W. Christern, E. Steiger u. Co., Gust.
E. Stechert, Westermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.

[Abbildung]

Inseratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerstraße 36, in Berlin in unserer Filiale,
Leipzigerstraße 11,
ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg,
Wien, Pest, London, Zürich, Basel etc. bei den Annoncenbureaux N. Mosse, Haasenstein u. Vogler, G. L.
Daube u. Co
. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz etc.
Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenstraße 26) und S. Kornik (Kochstraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co
., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris.

Verantwortlich für den politischen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Mensi, für den Handelstheil Ernst Barth, sämmtlich in München.
Druck und Verlag der Gesellschaft mit beschränkter Haftung "Verlag der Allgemeinen Zeitung" in München.



Das südafrikanische Abkommen Englands und
Deutschlands.

Das Publikum und die Presse
Englands haben allerdings im allgemeinen über die von
dem Berner Schiedsgericht betreffs des Delagoa-
Bahn-Streits
getroffene Entscheidung ihr lebhaftes
Mißvergnügen ausgesprochen. Aber es scheint, daß die
britische Regierung dieses Mißvergnügen nicht theilt. Der
"Daily Graphic" nämlich, der vom Auswärtigen Amt
zuweilen zur Ausstrenung von Winken über international-
politische Angelegenheiten benutzt wird, bringt heute unter
der Ueberschrift "Großbritannien und Portugal"
eine Mittheilung, die ganz den Anschein trägt, als ob sie
aus Downing Street stamme, und die uns so bemerkens-
werth erscheint, daß wir sie hier wörtlich wiedergeben.
Sie lautet:

"Wir vernehmen mit Befriedigung, daß das Urtheil des
Delagoa-Bai-Schiedsgerichts zu keinen internationalen Ver-
wicklungen führen wird. Es gab eine Zeit, wo man annahm,
daß die Entschädigungssumme so hoch angesetzt werden würde, daß
Portugal, um sie zu bezahlen, einige seiner Besitzungen würde
losschlagen müssen. Im Hinblick auf diese Möglichkeit
wurde im Herbst 1898 zwischen der britischen und
der deutschen Regierung ein Vertrag geschlossen,

nach welchem die beiden Mächte übereinkamen, Portugal auf
gewisse Bedingungen hin mit den nöthigen Mitteln zu ver-
sehen. Glücklicherweise wird nicht die Nothwendig-
keit entstehen, nach diesem Abkommen zu handeln
.
Portugal hat sich mit einer finanziellen Voraussicht,
die es bisher selten gezeigt hat, gegen den Berner
Schiedsspruch vorgesehen, und es trifft sich, daß seine
vorräthigen Mittel für den Fall völlig genügen. Wäre die
Sache umgekehrt, so würde dem britischen Publikum,
wie uns scheinen will, im gegenwärtigen Augen-
blick gerade nicht besonders daran gelegen sein,
von dem englisch-deutschen Abkommen Gebrauch zu
machen, da die Hoffnungen, mit Deutschland in
kolonialen Fragen zusammenwirken zu können
--
Hoffnungen, die den Anstoß zu jenem Abkommen gaben --, sich
nicht verwirklicht haben
. Es gewährt uns Freude,
daß der Streit über die Delagoa-Eifenbahn zu keiner
Neuvertheilung
der europäischen Kolonien in Afrika
führen wird. Ein freundliches Portugal ist für uns
von bei weitem größeren Werth als eine neidische
Großmacht
. Portugal ist einer unsrer alten und geschätzten
Bundesgenossen. Seine Unabhängigkeit und der Vollbestand
seiner Kolonialbesitzungen sind durch unsre Bürgschaft ge-
währleistet, und wir hegen die Zuversicht, daß es dadurch
auf lange Zeit beschützt sein wird. Wir hätten indeß den
Wunsch, eine weisere Verwaltung in Lissabon und deutlichere
Zeichen einer festen und dauernden Wiedergeburt zu sehen."

Wir haben uns gestattet, die kennzeichnendsten Sätze
zu unterstreichen. Sie bedürfen keines Kommentars, sie
sprechen für sich selbst. Wir haben nie den Muth gehabt,
viel von dem südafrikanischen Abkommen für Deutschland
zu erwarten. Es war unter allen Umständen -- mit Eng-
land als Partner -- eine unsichere Spekulation. Vor
kurzem wiesen wir im Anschluß an die Ausführungen
[Spaltenumbruch] eines hiesigen konservativen Blattes darauf hin, daß die
hier erfolgte plötzliche Veröffentlichung der energischen
Bülow'schen Depeschen über die Beschlagnahme deutscher
Schiffe wohl als ein Zeichen dafür anzusehen wäre, daß
die britische Politik im Begriff sei, eine
Schwenkung in einem für Deutschland nicht be-
sonders günstigen Sinne zu machen
. Wir können
jetzt wenig Zweifel darüber haben, daß die britische Re-
gierung, nachdem sie sich als Herrin der Lage in
Südafrika
zu fühlen glaubt, es als nichts weniger
denn als eine Kalamität betrachtet, infolge des Berner
Schiedsspruches von ihren Verpflichtungen gegen die
deutsche Regierung loszukommen. Der Mohr hat seine
Schuldigkeit gethan, nun kann er gehen. Die Wahrheit
dieses Satzes wird vielleicht in der Folge noch deutlicher
hervortreten. Die Beziehungen der britischen und der
deutschen Regierung sind in das Verhältniß der "Kor-
rektheit
" zurückgetreten -- sie haben seit mehreren
Monaten aufgehört, intim zu sein.



Deutsches Reich.
Vom Tage.

Tel. Die "Nordd. Allg. Ztg."
schreibt: In den letzten Tagen tauchten in der Tages-
presse beunruhigende Nachrichten über den Zustand der
Plantagen in Kamerun auf. Schon seit langem wurde
seitens des Gouvernements von Kamerun auf die beson-
ders schwierigen Arbeiterverhältnisse im ganzen Schutz-
gebiete aufmerksam gemacht, und die Regierung war be-
müht, der immer mehr zunehmenden Arbeiternoth
auf den Plantagen durch besondere Maßnahmen Einhalt
zu thun. Die Kolonialabtheilung lud u. a. zu diesem
Zwecke sämmtliche Plantageninteressenten Kameruns zu einer
Besprechung der fraglos für die Entwicklung des genannten
Schutzgebietes äußerst wichtigen Angelegenheit ein. Es
ist zu hoffen, daß das Ergebniß dieser Berathung dazu
führen wird, ernstliche Rückschläge in der vielversprechen-
den Plantagenwirthschaft Kameruns zu verhindern. --
Die "Berl. Korresp." meldet: Die von der Kommission
des Abgeordnetenhauses
zur Berathung der
Waaren haussteuer gefaßten Beschlüsse, welche dem
Zwecke der Vorlage, nämlich eine angemessene Besteuerung
der durch die Gewerbesteuer nur unvollständig erfaßten
Betriebsformen herbeizuführen, durchaus widersprechen
und die deutliche Tendenz der Erdrosselung zeigen,
sind für die Staatsregierung völlig unan-
nehmbar
. Das Blatt erwartet für die zweite Lesung
eine Einigung unter Beseitigung der zu weitgehenden
Beschlüsse.

Deutsch-schweizerische Verhandlungen.

* Ueber einen inzwischen erledigten deutsch-schweize-
rischen Zwischenfall
macht der jetzt bekannt gewordene
Geschäftsbericht des politischen Departements der Eid-
genossenschaft für das Jahr 1899 folgende Mittheilungen:

"Mehrere in Preußen niedergelassene, im militär-
pflichtigen Alter stehende Schweizer
hatten von den
preußischen Behörden die Aufforderung erhalten,
[Spaltenumbruch] sich binnen einer bestimmten Frist darüber auszuweisen,
daß sie in ihrem Heimathland der Militärpflicht genügt
haben, widrigenfalls sie sich in der gleichen Frist für die Auf-
nahme in den preußischen Staatsverband anzumelden, sonst
die Ausweisung aus dem deutschen Reichsgebiet zu gewärtigen
hätten. Diese Maßregel schien uns mit Art. 5 des Nieder-
lassungsvertrags mit Deutschland vom 31. Mai 1890 in
Widerspruch zu stehen, welcher lautet: "Die Angehörigen des
einen der beiden Länder, welche in dem anderen wohnhaft
sind, bleiben den Gesetzen ihres Vaterlandes über die Militär-
pflicht oder die an deren Stelle tretende Ersatzleistung unter-
worfen, und können deßhalb in dem Land, in welchem sie sich
aufhalten, weder zu persönlichem Militärdienst, noch zu einer
Ersatzleistung angehalten werden."

Wir beauftragten unsre Gesandtschaft in Berlin, bei der
deutschen Reichsregierung auf Grund dieser Bestimmung gegen
das Vorgehen der preußischen Behörden Einsprache zu er-
heben. Von deutscher Seite wurde eingewendet: Jenem Ver-
fahren stehe der deutsch-schweizerische Niederlassungsvertrag
aus dem Grund nicht entgegen, weil im Art. 4 dieses Ver-
trags das Recht eines jeden der vertragschließenden Theile,
Angehörigen des anderen Theils aus Gründen der inneren
und äußeren Sicherheit des Staates den Aufenthalt zu
versagen, ausdrücklich vorbehalten sei. Eine Gefährdung
der inneren Sicherheit des Staates müsse in dem demorali-
sirenden Einfluß erblickt werden, welchen im militärpflichtigen
Alter stehende, keinen Dienst leistende und auch keine Ersatz-
steuer bezahlende Ausländer auf die zum Militärdienst in der
deutschen Armee herangezogenen Reichsangehörigen ausübten.
Demgegenüber vertraten wir den Standpunkt, daß bei dem
Vertragsabschluß beiderseits zweifellos ausschließlich solche
Handlungen als die innere und äußere Sicherheit des Staats
gefährdend ins Auge gefaßt worden seien, welche sich als
politische, gegen die staatliche Ordnung direkt oder indirekt
gerichtete Umtriebe darstellten. Einer über diese Grenze
hinausgehenden Interpretation der gedachten Vertragsbestim-
mung stünden nach der Auffassung des Bundesraths ernste
Bedenken prinzipieller Natur entgegen.

Da indeß die deutsche Reichsregierung auf dem von ihr
vertretenen Standpunkt beharren zu müssen erklärte und da
andrerseits bei den fortgesetzten Verhandlungen uns hinsicht-
lich des in den betreffenden Fällen einzuschlagenden Ver-
fahrens für die Folge nach verschiedenen Richtungen Zu-
geständnisse in Aussicht gestellt wurden, welche als den von
uns geltend gemachten Bedenken in ziemlich weitgehendem
Maße Rechnung tragend angesehen werden konnten, so er-
mächtigten wir schließlich den schweizerischen Gesandten in
Berlin, dem Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches unter
Wahrung unsres prinzipiellen Standpunktes die Erklärung
abzugeben, der Bundesrath sei bereit, in der Weise zu einer
Verständigung die Hand zu bieten, daß er das Verfahren der
preußischen Behörden bis auf weiteres nicht beanstanden
wolle, wenn die Kaiserliche Regierung sich damit einverstanden
erkläre, a) daß ein Ausweis darüber, daß die betreffenden
Schweizerbürger, die durch die Gesetze ihres Heimathlandes
an Stelle des persönlichen Militärdienstes vorgesehene Ersatz-
leistung entrichtet haben, ebenfalls als vollgültiger Beweis
für die Erfüllung der Militärpflicht anerkannt werden soll,
und b) daß die zuständigen Provinzialbehörden anzuweisen



Berliner Plauderei.

Der Widerstand gegen die lex Heinze hat während
der letzten Wochen in dem geistigen Leben Berlins eine
große Rolle gespielt. Und wer wollte ihm die Berechti-
gung absprechen! Das Kunstwerk, das eine gesellschaftliche
Aufgabe hat, steht unter dem Sittengesetz, und wenn es
nicht sittlich schön ist, so verdient es seinen Namen über-
haupt nicht mehr. Aber die Kunst wird von anderen Ge-
setzen beherrscht wie die Wirklichkeit, und so deckt sich der
Begriff der Sittlichkeit und Unsittlichkeit hier und dort
durchaus nicht. Die Unsittlichkeit in der Kunst kann durch
einen Gesetzesparagraphen meist gar nicht getroffen werden,
während andrerseits die Gefahr besteht, daß die, welche
ihn anzuwenden haben und nicht kunstverständig sind, sich
nur an das halten werden, was man im Leben unsittlich
nennt, ohne zu berücksichtigen, daß es, wie das Nackte, wie
beispielsweise die im Reichstag viel citirte Leda mit dem
Schwan, durch die Kunst geadelt wird und seinen unsitt-
lichen Charakter dadurch verliert. Die Unsittlichkeit in der
Kunst besteht in der Form, in der ein Stoff behandelt
wird, beziehungsweise in der Formlosigkeit, die beispiels-
weise für die den Stoff nicht meisternden, sondern von ihm
bemeisterten Naturalisten bezeichnend ist, sie besteht in der
Charakteristik der Figuren, in einem falschen Realismus,
im Pessimismus, in der Freude am Schmutz und an der
Schlüpfrigkeit in gewissen mystisch-sinnlichen Vorstellungen,
in einer egoistischen und anarchistischen, gesellschaftsfeind-
lichen Tendenz u. s. w. Unsre moderne Kunst ist zum
größten Theil stark unsittlich, wie ich nachher auch an
einigen Beispielen zeigen werde, welche uns hier in der
letzten Zeit viel beschäftigt haben, aber mit Gesetzespara-
graphen ist daran nichts zu ändern. Immerhin hat es
mich überrascht, unter den eifrigsten Wortführern der
Opposition gegen die lex Heinze gerade viele Naturalisten
zu finden, die an der zur Anwendung jenes Gesetzes be-
rufenen armen Polizei auch nicht ein gutes Haar ließen.
Und doch sind sie dazu am allerwenigsten berufen, denn
indem sie das Niveau der Kunst auf das der Wirklichkeit
herabdrücken, befähigen sie ja gerade den vielgeschmähten
[Spaltenumbruch] Unterthanenverstand des Polizisten zur Beurtheilung ihrer
Werke. Der Polizist, der Corregio's "Leda" aus dem
Schaufenster entfernen läßt, weil die Königstochter nackt
und der Vorgang unsittliche Vorstellungen weckt, urtheilt
nicht banausischer, als der Dichter, der jenen Vorgang
oder Vorgänge ähnlicher Natur realistisch ausmalt und
kein höheres künstlerisches Ziel hat, als die möglichst treue
Wiedergabe der äußeren Wahrheit.

Die Verführung Gretchens, die Kuppelei Martha's
sind in Wirklichkeit gewiß sehr unsittliche Dinge, aber sie
wirken so nicht im Kunstwerk, weil die Läuterung Gret-
chens, die Reue Fausts, Inhalt und Verlauf der Handlung
deutlich zeigen, daß sich Goethe dem Sittengesetz unter-
wirst. Ich kenne andrerseits nichts Unsittlicheres, als
Jbsens "Nora", in der Frau Sorma übrigens demnächst
im Lessing-Theater wiederauftreten wird, nachdem das von
ihr geplante Pariser Gastspiel zu Wasser geworden ist.
Gegen diese sich wider das Sittengesetz auflehnende Frauen-
gestalt ist die lex Heinze ganz ohnmächtig, und doch wirkt
ihr Beispiel sehr viel entsittlichenderer, als alle Frauen-
gestalten Goethe's zusammengenommen, die doch längst
nicht alle auf dem Pfade der Tugend wandeln. Durch
den Mund des Dichters verkündet Nora, daß die Frau
nur Rechte und keine Pflichten gegen Mann und Kinder
und gegen die Gesellschaft hat, was auf viele Zuschauerinnen
oder Leserinnen einen sehr bösen Einfluß ausüben dürfte.
Es kommt hinzu, daß diese unglückselige Dichterfigur,
dank der von Jbsen auf unsre Modernen geübten Sug-
gestion, auf der Bühne eine Fülle von Unternoras, von
wildgewordenen, anarchistisch gesonnenen, halb amazonen-
haft, halb mannstoll sich gebärdenden Frauen gezeitigt
hat, genug, um damit die Phantasie einer ganzen Gene-
ration von Töchtern Eva's zu vergiften. Ein solcher
Uebermensch im Unterrock ist beispielsweise die Magda in
Sudermanns "Heimath", ein Seitenstück zur Nympho-
manin Rebekka in "Rosmersholm". Auch Jbsen hat neben
seiner Nora mit Vorliebe Frauen gezeichnet, die, um "sich
ausleben" zu können, ihrem Mann einfach entlaufen sind,
entlaufen oder entlaufen wollen, so Frau Alving (Ge-
spenster), Frau Elvstedt (Hedda Gabler), Ellida (Frau vom
[Spaltenumbruch] Meere), und da die Handlung ihnen recht zu geben scheint,
da Jbsen ersichtlich der freien Liebe das Wort redet und
es als ein Selbstbestimmungsrecht des Individuums geltend
macht, jeder seiner krankhaften Launen, jedem thierischen
Triebe zu gehorchen, so sind jene Figuren nebst den
Stücken, in denen sie des angeblich die "Lebenslüge" be-
kämpfenden Jbsens gesellschaftsfeindliche Weisheit ver-
künden, in höchstem Grade unsittlich und unwahr dazu. In
Reicke's "Freilicht", das vor kurzem im "Berliner Theater"
nicht ohne Erfolg aufgeführt wurde, wird die neue Lehre
vom "Selbstbestimmungsrecht des weiblichen Geschlechts",
über das sich cum grano salis ja reden läßt, mit derselben
Verachtung des Sittengesetzes gepredigt, und so verläßt
die Heldin, die, wie Sudermanns Magda, angeblich weit
über den engen Horizont ihrer Familie herausblickt, ohne
weiteres ihren Bräutigam und wirft sich dem ersten besten
Maler an den Hals. Das Publikum nimmt daran kaum
noch Anstoß, so sehr fördert die neueste Mode derartige
unerquickliche Frauengestalten, in deren Verkörperung unsre
hervorragendsten Darstellerinnen ihren höchsten Triumph
suchen. Ich erinnere nur an die Sorma und an die
Triesch, an die Sandrock, Duse und Sarah Bernhardt,
die sämmtlich mit Vorliebe hysterische oder schwindsüchtige,
sich gegen die Gesellschaftsordnung auflehnende, ihren
sexuellen Zwangsantrieben blindlings gehorchende Frauen-
zimmer spielen oder sich gar in Hosenrollen verlieben.
Was ist es denn, was einige von ihnen an der Hamlet-
Rolle oder an der des jungen Herzogs von Reichstadt so
verlockend erscheint --? wieder nur krankhafte Züge, welche
dem Geist unsrer an Nervenüberreizungen und geistiger
Ermüdung so reichen Zeit entsprechen, vor allem der
Pessimismus, die Willensunfähigkeit. Der eigentlich zum
Handeln geborene Sohn des ersten Napoleon ist mehr
noch durch sein Temperament als durch die Verhältnisse
zur Unthätigkeit verdammt, das ist die Tragik seines
Schicksals. Er ist eine Abart des Hamlet. Statt zu
handeln, vermag er nur endlos zu schwatzen, und das
ist's, was Sarah Bernhardt triebhaft anzog. Des "Aiglon"
patriotische Tiraden sind ein Seitenstück zur anarchisti-
schen Kannegießerei der Ibsen'schen Helden, von denen


Nr. 91.
Morgenblatt.
103. Jahrgang. München, Dienſtag, 3. April 1900.

Wöchentlich
22 Ausgaben.
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Deutſchl. u. Oeſterreich
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Ausland M. 5. 60,
ohne Beil. M. 4. 40.

Allgemeine Zeitung.

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Redaktion und Expe-
dition beſinden ſich
Schwanthalerſtr. 35
in München.


Berichte ſind an die
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aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
zuſenden.



Abonnements für Berlin nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen.
Abonnements für das Ausland
nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str., London; für Frankreich.
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien,
Niederlande, Rumänien. Rußland, Schweden und Norwegen. Schweiz, Serbien die dortigen Poſtämter; für den Orient
das k. k. Poſtamt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt.
E. Stechert, Weſtermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.

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Inſeratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerſtraße 36, in Berlin in unſerer Filiale,
Leipzigerſtraße 11,
ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg,
Wien, Peſt, London, Zürich, Baſel ꝛc. bei den Annoncenbureaux N. Moſſe, Haaſenſtein u. Vogler, G. L.
Daube u. Co
. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc.
Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtraße 26) und S. Kornik (Kochſtraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co
., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris.

Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſi, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München.
Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ in München.



Das ſüdafrikaniſche Abkommen Englands und
Deutſchlands.

Das Publikum und die Preſſe
Englands haben allerdings im allgemeinen über die von
dem Berner Schiedsgericht betreffs des Delagoa-
Bahn-Streits
getroffene Entſcheidung ihr lebhaftes
Mißvergnügen ausgeſprochen. Aber es ſcheint, daß die
britiſche Regierung dieſes Mißvergnügen nicht theilt. Der
Daily Graphic“ nämlich, der vom Auswärtigen Amt
zuweilen zur Ausſtrenung von Winken über international-
politiſche Angelegenheiten benutzt wird, bringt heute unter
der Ueberſchrift „Großbritannien und Portugal
eine Mittheilung, die ganz den Anſchein trägt, als ob ſie
aus Downing Street ſtamme, und die uns ſo bemerkens-
werth erſcheint, daß wir ſie hier wörtlich wiedergeben.
Sie lautet:

„Wir vernehmen mit Befriedigung, daß das Urtheil des
Delagoa-Bai-Schiedsgerichts zu keinen internationalen Ver-
wicklungen führen wird. Es gab eine Zeit, wo man annahm,
daß die Entſchädigungsſumme ſo hoch angeſetzt werden würde, daß
Portugal, um ſie zu bezahlen, einige ſeiner Beſitzungen würde
losſchlagen müſſen. Im Hinblick auf dieſe Möglichkeit
wurde im Herbſt 1898 zwiſchen der britiſchen und
der deutſchen Regierung ein Vertrag geſchloſſen,

nach welchem die beiden Mächte übereinkamen, Portugal auf
gewiſſe Bedingungen hin mit den nöthigen Mitteln zu ver-
ſehen. Glücklicherweiſe wird nicht die Nothwendig-
keit entſtehen, nach dieſem Abkommen zu handeln
.
Portugal hat ſich mit einer finanziellen Vorausſicht,
die es bisher ſelten gezeigt hat, gegen den Berner
Schiedsſpruch vorgeſehen, und es trifft ſich, daß ſeine
vorräthigen Mittel für den Fall völlig genügen. Wäre die
Sache umgekehrt, ſo würde dem britiſchen Publikum,
wie uns ſcheinen will, im gegenwärtigen Augen-
blick gerade nicht beſonders daran gelegen ſein,
von dem engliſch-deutſchen Abkommen Gebrauch zu
machen, da die Hoffnungen, mit Deutſchland in
kolonialen Fragen zuſammenwirken zu können

Hoffnungen, die den Anſtoß zu jenem Abkommen gaben —, ſich
nicht verwirklicht haben
. Es gewährt uns Freude,
daß der Streit über die Delagoa-Eifenbahn zu keiner
Neuvertheilung
der europäiſchen Kolonien in Afrika
führen wird. Ein freundliches Portugal iſt für uns
von bei weitem größeren Werth als eine neidiſche
Großmacht
. Portugal iſt einer unſrer alten und geſchätzten
Bundesgenoſſen. Seine Unabhängigkeit und der Vollbeſtand
ſeiner Kolonialbeſitzungen ſind durch unſre Bürgſchaft ge-
währleiſtet, und wir hegen die Zuverſicht, daß es dadurch
auf lange Zeit beſchützt ſein wird. Wir hätten indeß den
Wunſch, eine weiſere Verwaltung in Liſſabon und deutlichere
Zeichen einer feſten und dauernden Wiedergeburt zu ſehen.“

Wir haben uns geſtattet, die kennzeichnendſten Sätze
zu unterſtreichen. Sie bedürfen keines Kommentars, ſie
ſprechen für ſich ſelbſt. Wir haben nie den Muth gehabt,
viel von dem ſüdafrikaniſchen Abkommen für Deutſchland
zu erwarten. Es war unter allen Umſtänden — mit Eng-
land als Partner — eine unſichere Spekulation. Vor
kurzem wieſen wir im Anſchluß an die Ausführungen
[Spaltenumbruch] eines hieſigen konſervativen Blattes darauf hin, daß die
hier erfolgte plötzliche Veröffentlichung der energiſchen
Bülow’ſchen Depeſchen über die Beſchlagnahme deutſcher
Schiffe wohl als ein Zeichen dafür anzuſehen wäre, daß
die britiſche Politik im Begriff ſei, eine
Schwenkung in einem für Deutſchland nicht be-
ſonders günſtigen Sinne zu machen
. Wir können
jetzt wenig Zweifel darüber haben, daß die britiſche Re-
gierung, nachdem ſie ſich als Herrin der Lage in
Südafrika
zu fühlen glaubt, es als nichts weniger
denn als eine Kalamität betrachtet, infolge des Berner
Schiedsſpruches von ihren Verpflichtungen gegen die
deutſche Regierung loszukommen. Der Mohr hat ſeine
Schuldigkeit gethan, nun kann er gehen. Die Wahrheit
dieſes Satzes wird vielleicht in der Folge noch deutlicher
hervortreten. Die Beziehungen der britiſchen und der
deutſchen Regierung ſind in das Verhältniß der „Kor-
rektheit
“ zurückgetreten — ſie haben ſeit mehreren
Monaten aufgehört, intim zu ſein.



Deutſches Reich.
Vom Tage.

Tel. Die „Nordd. Allg. Ztg.“
ſchreibt: In den letzten Tagen tauchten in der Tages-
preſſe beunruhigende Nachrichten über den Zuſtand der
Plantagen in Kamerun auf. Schon ſeit langem wurde
ſeitens des Gouvernements von Kamerun auf die beſon-
ders ſchwierigen Arbeiterverhältniſſe im ganzen Schutz-
gebiete aufmerkſam gemacht, und die Regierung war be-
müht, der immer mehr zunehmenden Arbeiternoth
auf den Plantagen durch beſondere Maßnahmen Einhalt
zu thun. Die Kolonialabtheilung lud u. a. zu dieſem
Zwecke ſämmtliche Plantagenintereſſenten Kameruns zu einer
Beſprechung der fraglos für die Entwicklung des genannten
Schutzgebietes äußerſt wichtigen Angelegenheit ein. Es
iſt zu hoffen, daß das Ergebniß dieſer Berathung dazu
führen wird, ernſtliche Rückſchläge in der vielverſprechen-
den Plantagenwirthſchaft Kameruns zu verhindern. —
Die „Berl. Korreſp.“ meldet: Die von der Kommiſſion
des Abgeordnetenhauſes
zur Berathung der
Waaren hausſteuer gefaßten Beſchlüſſe, welche dem
Zwecke der Vorlage, nämlich eine angemeſſene Beſteuerung
der durch die Gewerbeſteuer nur unvollſtändig erfaßten
Betriebsformen herbeizuführen, durchaus widerſprechen
und die deutliche Tendenz der Erdroſſelung zeigen,
ſind für die Staatsregierung völlig unan-
nehmbar
. Das Blatt erwartet für die zweite Leſung
eine Einigung unter Beſeitigung der zu weitgehenden
Beſchlüſſe.

Deutſch-ſchweizeriſche Verhandlungen.

* Ueber einen inzwiſchen erledigten deutſch-ſchweize-
riſchen Zwiſchenfall
macht der jetzt bekannt gewordene
Geſchäftsbericht des politiſchen Departements der Eid-
genoſſenſchaft für das Jahr 1899 folgende Mittheilungen:

„Mehrere in Preußen niedergelaſſene, im militär-
pflichtigen Alter ſtehende Schweizer
hatten von den
preußiſchen Behörden die Aufforderung erhalten,
[Spaltenumbruch] ſich binnen einer beſtimmten Friſt darüber auszuweiſen,
daß ſie in ihrem Heimathland der Militärpflicht genügt
haben, widrigenfalls ſie ſich in der gleichen Friſt für die Auf-
nahme in den preußiſchen Staatsverband anzumelden, ſonſt
die Ausweiſung aus dem deutſchen Reichsgebiet zu gewärtigen
hätten. Dieſe Maßregel ſchien uns mit Art. 5 des Nieder-
laſſungsvertrags mit Deutſchland vom 31. Mai 1890 in
Widerſpruch zu ſtehen, welcher lautet: „Die Angehörigen des
einen der beiden Länder, welche in dem anderen wohnhaft
ſind, bleiben den Geſetzen ihres Vaterlandes über die Militär-
pflicht oder die an deren Stelle tretende Erſatzleiſtung unter-
worfen, und können deßhalb in dem Land, in welchem ſie ſich
aufhalten, weder zu perſönlichem Militärdienſt, noch zu einer
Erſatzleiſtung angehalten werden.“

Wir beauftragten unſre Geſandtſchaft in Berlin, bei der
deutſchen Reichsregierung auf Grund dieſer Beſtimmung gegen
das Vorgehen der preußiſchen Behörden Einſprache zu er-
heben. Von deutſcher Seite wurde eingewendet: Jenem Ver-
fahren ſtehe der deutſch-ſchweizeriſche Niederlaſſungsvertrag
aus dem Grund nicht entgegen, weil im Art. 4 dieſes Ver-
trags das Recht eines jeden der vertragſchließenden Theile,
Angehörigen des anderen Theils aus Gründen der inneren
und äußeren Sicherheit des Staates den Aufenthalt zu
verſagen, ausdrücklich vorbehalten ſei. Eine Gefährdung
der inneren Sicherheit des Staates müſſe in dem demorali-
ſirenden Einfluß erblickt werden, welchen im militärpflichtigen
Alter ſtehende, keinen Dienſt leiſtende und auch keine Erſatz-
ſteuer bezahlende Ausländer auf die zum Militärdienſt in der
deutſchen Armee herangezogenen Reichsangehörigen ausübten.
Demgegenüber vertraten wir den Standpunkt, daß bei dem
Vertragsabſchluß beiderſeits zweifellos ausſchließlich ſolche
Handlungen als die innere und äußere Sicherheit des Staats
gefährdend ins Auge gefaßt worden ſeien, welche ſich als
politiſche, gegen die ſtaatliche Ordnung direkt oder indirekt
gerichtete Umtriebe darſtellten. Einer über dieſe Grenze
hinausgehenden Interpretation der gedachten Vertragsbeſtim-
mung ſtünden nach der Auffaſſung des Bundesraths ernſte
Bedenken prinzipieller Natur entgegen.

Da indeß die deutſche Reichsregierung auf dem von ihr
vertretenen Standpunkt beharren zu müſſen erklärte und da
andrerſeits bei den fortgeſetzten Verhandlungen uns hinſicht-
lich des in den betreffenden Fällen einzuſchlagenden Ver-
fahrens für die Folge nach verſchiedenen Richtungen Zu-
geſtändniſſe in Ausſicht geſtellt wurden, welche als den von
uns geltend gemachten Bedenken in ziemlich weitgehendem
Maße Rechnung tragend angeſehen werden konnten, ſo er-
mächtigten wir ſchließlich den ſchweizeriſchen Geſandten in
Berlin, dem Auswärtigen Amt des Deutſchen Reiches unter
Wahrung unſres prinzipiellen Standpunktes die Erklärung
abzugeben, der Bundesrath ſei bereit, in der Weiſe zu einer
Verſtändigung die Hand zu bieten, daß er das Verfahren der
preußiſchen Behörden bis auf weiteres nicht beanſtanden
wolle, wenn die Kaiſerliche Regierung ſich damit einverſtanden
erkläre, a) daß ein Ausweis darüber, daß die betreffenden
Schweizerbürger, die durch die Geſetze ihres Heimathlandes
an Stelle des perſönlichen Militärdienſtes vorgeſehene Erſatz-
leiſtung entrichtet haben, ebenfalls als vollgültiger Beweis
für die Erfüllung der Militärpflicht anerkannt werden ſoll,
und b) daß die zuſtändigen Provinzialbehörden anzuweiſen



Berliner Plauderei.

Der Widerſtand gegen die lex Heinze hat während
der letzten Wochen in dem geiſtigen Leben Berlins eine
große Rolle geſpielt. Und wer wollte ihm die Berechti-
gung abſprechen! Das Kunſtwerk, das eine geſellſchaftliche
Aufgabe hat, ſteht unter dem Sittengeſetz, und wenn es
nicht ſittlich ſchön iſt, ſo verdient es ſeinen Namen über-
haupt nicht mehr. Aber die Kunſt wird von anderen Ge-
ſetzen beherrſcht wie die Wirklichkeit, und ſo deckt ſich der
Begriff der Sittlichkeit und Unſittlichkeit hier und dort
durchaus nicht. Die Unſittlichkeit in der Kunſt kann durch
einen Geſetzesparagraphen meiſt gar nicht getroffen werden,
während andrerſeits die Gefahr beſteht, daß die, welche
ihn anzuwenden haben und nicht kunſtverſtändig ſind, ſich
nur an das halten werden, was man im Leben unſittlich
nennt, ohne zu berückſichtigen, daß es, wie das Nackte, wie
beiſpielsweiſe die im Reichstag viel citirte Leda mit dem
Schwan, durch die Kunſt geadelt wird und ſeinen unſitt-
lichen Charakter dadurch verliert. Die Unſittlichkeit in der
Kunſt beſteht in der Form, in der ein Stoff behandelt
wird, beziehungsweiſe in der Formloſigkeit, die beiſpiels-
weiſe für die den Stoff nicht meiſternden, ſondern von ihm
bemeiſterten Naturaliſten bezeichnend iſt, ſie beſteht in der
Charakteriſtik der Figuren, in einem falſchen Realismus,
im Peſſimismus, in der Freude am Schmutz und an der
Schlüpfrigkeit in gewiſſen myſtiſch-ſinnlichen Vorſtellungen,
in einer egoiſtiſchen und anarchiſtiſchen, geſellſchaftsfeind-
lichen Tendenz u. ſ. w. Unſre moderne Kunſt iſt zum
größten Theil ſtark unſittlich, wie ich nachher auch an
einigen Beiſpielen zeigen werde, welche uns hier in der
letzten Zeit viel beſchäftigt haben, aber mit Geſetzespara-
graphen iſt daran nichts zu ändern. Immerhin hat es
mich überraſcht, unter den eifrigſten Wortführern der
Oppoſition gegen die lex Heinze gerade viele Naturaliſten
zu finden, die an der zur Anwendung jenes Geſetzes be-
rufenen armen Polizei auch nicht ein gutes Haar ließen.
Und doch ſind ſie dazu am allerwenigſten berufen, denn
indem ſie das Niveau der Kunſt auf das der Wirklichkeit
herabdrücken, befähigen ſie ja gerade den vielgeſchmähten
[Spaltenumbruch] Unterthanenverſtand des Poliziſten zur Beurtheilung ihrer
Werke. Der Poliziſt, der Corregio’s „Leda“ aus dem
Schaufenſter entfernen läßt, weil die Königstochter nackt
und der Vorgang unſittliche Vorſtellungen weckt, urtheilt
nicht banauſiſcher, als der Dichter, der jenen Vorgang
oder Vorgänge ähnlicher Natur realiſtiſch ausmalt und
kein höheres künſtleriſches Ziel hat, als die möglichſt treue
Wiedergabe der äußeren Wahrheit.

Die Verführung Gretchens, die Kuppelei Martha’s
ſind in Wirklichkeit gewiß ſehr unſittliche Dinge, aber ſie
wirken ſo nicht im Kunſtwerk, weil die Läuterung Gret-
chens, die Reue Fauſts, Inhalt und Verlauf der Handlung
deutlich zeigen, daß ſich Goethe dem Sittengeſetz unter-
wirſt. Ich kenne andrerſeits nichts Unſittlicheres, als
Jbſens „Nora“, in der Frau Sorma übrigens demnächſt
im Leſſing-Theater wiederauftreten wird, nachdem das von
ihr geplante Pariſer Gaſtſpiel zu Waſſer geworden iſt.
Gegen dieſe ſich wider das Sittengeſetz auflehnende Frauen-
geſtalt iſt die lex Heinze ganz ohnmächtig, und doch wirkt
ihr Beiſpiel ſehr viel entſittlichenderer, als alle Frauen-
geſtalten Goethe’s zuſammengenommen, die doch längſt
nicht alle auf dem Pfade der Tugend wandeln. Durch
den Mund des Dichters verkündet Nora, daß die Frau
nur Rechte und keine Pflichten gegen Mann und Kinder
und gegen die Geſellſchaft hat, was auf viele Zuſchauerinnen
oder Leſerinnen einen ſehr böſen Einfluß ausüben dürfte.
Es kommt hinzu, daß dieſe unglückſelige Dichterfigur,
dank der von Jbſen auf unſre Modernen geübten Sug-
geſtion, auf der Bühne eine Fülle von Unternoras, von
wildgewordenen, anarchiſtiſch geſonnenen, halb amazonen-
haft, halb mannstoll ſich gebärdenden Frauen gezeitigt
hat, genug, um damit die Phantaſie einer ganzen Gene-
ration von Töchtern Eva’s zu vergiften. Ein ſolcher
Uebermenſch im Unterrock iſt beiſpielsweiſe die Magda in
Sudermanns „Heimath“, ein Seitenſtück zur Nympho-
manin Rebekka in „Rosmersholm“. Auch Jbſen hat neben
ſeiner Nora mit Vorliebe Frauen gezeichnet, die, um „ſich
ausleben“ zu können, ihrem Mann einfach entlaufen ſind,
entlaufen oder entlaufen wollen, ſo Frau Alving (Ge-
ſpenſter), Frau Elvſtedt (Hedda Gabler), Ellida (Frau vom
[Spaltenumbruch] Meere), und da die Handlung ihnen recht zu geben ſcheint,
da Jbſen erſichtlich der freien Liebe das Wort redet und
es als ein Selbſtbeſtimmungsrecht des Individuums geltend
macht, jeder ſeiner krankhaften Launen, jedem thieriſchen
Triebe zu gehorchen, ſo ſind jene Figuren nebſt den
Stücken, in denen ſie des angeblich die „Lebenslüge“ be-
kämpfenden Jbſens geſellſchaftsfeindliche Weisheit ver-
künden, in höchſtem Grade unſittlich und unwahr dazu. In
Reicke’s „Freilicht“, das vor kurzem im „Berliner Theater“
nicht ohne Erfolg aufgeführt wurde, wird die neue Lehre
vom „Selbſtbeſtimmungsrecht des weiblichen Geſchlechts“,
über das ſich cum grano salis ja reden läßt, mit derſelben
Verachtung des Sittengeſetzes gepredigt, und ſo verläßt
die Heldin, die, wie Sudermanns Magda, angeblich weit
über den engen Horizont ihrer Familie herausblickt, ohne
weiteres ihren Bräutigam und wirft ſich dem erſten beſten
Maler an den Hals. Das Publikum nimmt daran kaum
noch Anſtoß, ſo ſehr fördert die neueſte Mode derartige
unerquickliche Frauengeſtalten, in deren Verkörperung unſre
hervorragendſten Darſtellerinnen ihren höchſten Triumph
ſuchen. Ich erinnere nur an die Sorma und an die
Trieſch, an die Sandrock, Duſe und Sarah Bernhardt,
die ſämmtlich mit Vorliebe hyſteriſche oder ſchwindſüchtige,
ſich gegen die Geſellſchaftsordnung auflehnende, ihren
ſexuellen Zwangsantrieben blindlings gehorchende Frauen-
zimmer ſpielen oder ſich gar in Hoſenrollen verlieben.
Was iſt es denn, was einige von ihnen an der Hamlet-
Rolle oder an der des jungen Herzogs von Reichſtadt ſo
verlockend erſcheint —? wieder nur krankhafte Züge, welche
dem Geiſt unſrer an Nervenüberreizungen und geiſtiger
Ermüdung ſo reichen Zeit entſprechen, vor allem der
Peſſimismus, die Willensunfähigkeit. Der eigentlich zum
Handeln geborene Sohn des erſten Napoleon iſt mehr
noch durch ſein Temperament als durch die Verhältniſſe
zur Unthätigkeit verdammt, das iſt die Tragik ſeines
Schickſals. Er iſt eine Abart des Hamlet. Statt zu
handeln, vermag er nur endlos zu ſchwatzen, und das
iſt’s, was Sarah Bernhardt triebhaft anzog. Des „Aiglon“
patriotiſche Tiraden ſind ein Seitenſtück zur anarchiſti-
ſchen Kannegießerei der Ibſen’ſchen Helden, von denen

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[0001] Nr. 91. Morgenblatt. 103. Jahrgang. München, Dienſtag, 3. April 1900. Wöchentlich 22 Ausgaben. Bezugspreiſe: Durch die Poſtämter: jährlich M. 36. —, ohne Beil. M. 18. — (viertelj. M. 9. —, ohne Beil. M. 4.50); in München b. d Ex- pedition od. d. Depots monatlich M. 2. —, ohne Beil. M. 1. 20. Zuſtellg. mil. 50 Pf. Direkter Vezug für Deutſchl. u. Oeſterreich monatlich M. 4. —, ohne Beil. M. 3. —, Ausland M. 5. 60, ohne Beil. M. 4. 40. Allgemeine Zeitung. Inſertionspreis für die kleinſpaltige Kolonelzeile od. deren Raum 25 Pfennig; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; lokale Ver- kaufsanzeig. 20 Pf.; Stellengeſuche 15 Pf. Redaktion und Expe- dition beſinden ſich Schwanthalerſtr. 35 in München. Berichte ſind an die Nedaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko ein- zuſenden. Abonnements für Berlin nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str., London; für Frankreich. 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Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſi, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München. Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ in München. Das ſüdafrikaniſche Abkommen Englands und Deutſchlands. x. London, 31. März. Das Publikum und die Preſſe Englands haben allerdings im allgemeinen über die von dem Berner Schiedsgericht betreffs des Delagoa- Bahn-Streits getroffene Entſcheidung ihr lebhaftes Mißvergnügen ausgeſprochen. Aber es ſcheint, daß die britiſche Regierung dieſes Mißvergnügen nicht theilt. Der „Daily Graphic“ nämlich, der vom Auswärtigen Amt zuweilen zur Ausſtrenung von Winken über international- politiſche Angelegenheiten benutzt wird, bringt heute unter der Ueberſchrift „Großbritannien und Portugal“ eine Mittheilung, die ganz den Anſchein trägt, als ob ſie aus Downing Street ſtamme, und die uns ſo bemerkens- werth erſcheint, daß wir ſie hier wörtlich wiedergeben. Sie lautet: „Wir vernehmen mit Befriedigung, daß das Urtheil des Delagoa-Bai-Schiedsgerichts zu keinen internationalen Ver- wicklungen führen wird. Es gab eine Zeit, wo man annahm, daß die Entſchädigungsſumme ſo hoch angeſetzt werden würde, daß Portugal, um ſie zu bezahlen, einige ſeiner Beſitzungen würde losſchlagen müſſen. Im Hinblick auf dieſe Möglichkeit wurde im Herbſt 1898 zwiſchen der britiſchen und der deutſchen Regierung ein Vertrag geſchloſſen, nach welchem die beiden Mächte übereinkamen, Portugal auf gewiſſe Bedingungen hin mit den nöthigen Mitteln zu ver- ſehen. Glücklicherweiſe wird nicht die Nothwendig- keit entſtehen, nach dieſem Abkommen zu handeln. Portugal hat ſich mit einer finanziellen Vorausſicht, die es bisher ſelten gezeigt hat, gegen den Berner Schiedsſpruch vorgeſehen, und es trifft ſich, daß ſeine vorräthigen Mittel für den Fall völlig genügen. Wäre die Sache umgekehrt, ſo würde dem britiſchen Publikum, wie uns ſcheinen will, im gegenwärtigen Augen- blick gerade nicht beſonders daran gelegen ſein, von dem engliſch-deutſchen Abkommen Gebrauch zu machen, da die Hoffnungen, mit Deutſchland in kolonialen Fragen zuſammenwirken zu können — Hoffnungen, die den Anſtoß zu jenem Abkommen gaben —, ſich nicht verwirklicht haben. Es gewährt uns Freude, daß der Streit über die Delagoa-Eifenbahn zu keiner Neuvertheilung der europäiſchen Kolonien in Afrika führen wird. Ein freundliches Portugal iſt für uns von bei weitem größeren Werth als eine neidiſche Großmacht. Portugal iſt einer unſrer alten und geſchätzten Bundesgenoſſen. Seine Unabhängigkeit und der Vollbeſtand ſeiner Kolonialbeſitzungen ſind durch unſre Bürgſchaft ge- währleiſtet, und wir hegen die Zuverſicht, daß es dadurch auf lange Zeit beſchützt ſein wird. Wir hätten indeß den Wunſch, eine weiſere Verwaltung in Liſſabon und deutlichere Zeichen einer feſten und dauernden Wiedergeburt zu ſehen.“ Wir haben uns geſtattet, die kennzeichnendſten Sätze zu unterſtreichen. Sie bedürfen keines Kommentars, ſie ſprechen für ſich ſelbſt. Wir haben nie den Muth gehabt, viel von dem ſüdafrikaniſchen Abkommen für Deutſchland zu erwarten. Es war unter allen Umſtänden — mit Eng- land als Partner — eine unſichere Spekulation. Vor kurzem wieſen wir im Anſchluß an die Ausführungen eines hieſigen konſervativen Blattes darauf hin, daß die hier erfolgte plötzliche Veröffentlichung der energiſchen Bülow’ſchen Depeſchen über die Beſchlagnahme deutſcher Schiffe wohl als ein Zeichen dafür anzuſehen wäre, daß die britiſche Politik im Begriff ſei, eine Schwenkung in einem für Deutſchland nicht be- ſonders günſtigen Sinne zu machen. Wir können jetzt wenig Zweifel darüber haben, daß die britiſche Re- gierung, nachdem ſie ſich als Herrin der Lage in Südafrika zu fühlen glaubt, es als nichts weniger denn als eine Kalamität betrachtet, infolge des Berner Schiedsſpruches von ihren Verpflichtungen gegen die deutſche Regierung loszukommen. Der Mohr hat ſeine Schuldigkeit gethan, nun kann er gehen. Die Wahrheit dieſes Satzes wird vielleicht in der Folge noch deutlicher hervortreten. Die Beziehungen der britiſchen und der deutſchen Regierung ſind in das Verhältniß der „Kor- rektheit“ zurückgetreten — ſie haben ſeit mehreren Monaten aufgehört, intim zu ſein. Deutſches Reich. Vom Tage. * Berlin, 2. April. Tel. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ ſchreibt: In den letzten Tagen tauchten in der Tages- preſſe beunruhigende Nachrichten über den Zuſtand der Plantagen in Kamerun auf. Schon ſeit langem wurde ſeitens des Gouvernements von Kamerun auf die beſon- ders ſchwierigen Arbeiterverhältniſſe im ganzen Schutz- gebiete aufmerkſam gemacht, und die Regierung war be- müht, der immer mehr zunehmenden Arbeiternoth auf den Plantagen durch beſondere Maßnahmen Einhalt zu thun. Die Kolonialabtheilung lud u. a. zu dieſem Zwecke ſämmtliche Plantagenintereſſenten Kameruns zu einer Beſprechung der fraglos für die Entwicklung des genannten Schutzgebietes äußerſt wichtigen Angelegenheit ein. Es iſt zu hoffen, daß das Ergebniß dieſer Berathung dazu führen wird, ernſtliche Rückſchläge in der vielverſprechen- den Plantagenwirthſchaft Kameruns zu verhindern. — Die „Berl. Korreſp.“ meldet: Die von der Kommiſſion des Abgeordnetenhauſes zur Berathung der Waaren hausſteuer gefaßten Beſchlüſſe, welche dem Zwecke der Vorlage, nämlich eine angemeſſene Beſteuerung der durch die Gewerbeſteuer nur unvollſtändig erfaßten Betriebsformen herbeizuführen, durchaus widerſprechen und die deutliche Tendenz der Erdroſſelung zeigen, ſind für die Staatsregierung völlig unan- nehmbar. Das Blatt erwartet für die zweite Leſung eine Einigung unter Beſeitigung der zu weitgehenden Beſchlüſſe. Deutſch-ſchweizeriſche Verhandlungen. * Ueber einen inzwiſchen erledigten deutſch-ſchweize- riſchen Zwiſchenfall macht der jetzt bekannt gewordene Geſchäftsbericht des politiſchen Departements der Eid- genoſſenſchaft für das Jahr 1899 folgende Mittheilungen: „Mehrere in Preußen niedergelaſſene, im militär- pflichtigen Alter ſtehende Schweizer hatten von den preußiſchen Behörden die Aufforderung erhalten, ſich binnen einer beſtimmten Friſt darüber auszuweiſen, daß ſie in ihrem Heimathland der Militärpflicht genügt haben, widrigenfalls ſie ſich in der gleichen Friſt für die Auf- nahme in den preußiſchen Staatsverband anzumelden, ſonſt die Ausweiſung aus dem deutſchen Reichsgebiet zu gewärtigen hätten. Dieſe Maßregel ſchien uns mit Art. 5 des Nieder- laſſungsvertrags mit Deutſchland vom 31. Mai 1890 in Widerſpruch zu ſtehen, welcher lautet: „Die Angehörigen des einen der beiden Länder, welche in dem anderen wohnhaft ſind, bleiben den Geſetzen ihres Vaterlandes über die Militär- pflicht oder die an deren Stelle tretende Erſatzleiſtung unter- worfen, und können deßhalb in dem Land, in welchem ſie ſich aufhalten, weder zu perſönlichem Militärdienſt, noch zu einer Erſatzleiſtung angehalten werden.“ Wir beauftragten unſre Geſandtſchaft in Berlin, bei der deutſchen Reichsregierung auf Grund dieſer Beſtimmung gegen das Vorgehen der preußiſchen Behörden Einſprache zu er- heben. Von deutſcher Seite wurde eingewendet: Jenem Ver- fahren ſtehe der deutſch-ſchweizeriſche Niederlaſſungsvertrag aus dem Grund nicht entgegen, weil im Art. 4 dieſes Ver- trags das Recht eines jeden der vertragſchließenden Theile, Angehörigen des anderen Theils aus Gründen der inneren und äußeren Sicherheit des Staates den Aufenthalt zu verſagen, ausdrücklich vorbehalten ſei. Eine Gefährdung der inneren Sicherheit des Staates müſſe in dem demorali- ſirenden Einfluß erblickt werden, welchen im militärpflichtigen Alter ſtehende, keinen Dienſt leiſtende und auch keine Erſatz- ſteuer bezahlende Ausländer auf die zum Militärdienſt in der deutſchen Armee herangezogenen Reichsangehörigen ausübten. Demgegenüber vertraten wir den Standpunkt, daß bei dem Vertragsabſchluß beiderſeits zweifellos ausſchließlich ſolche Handlungen als die innere und äußere Sicherheit des Staats gefährdend ins Auge gefaßt worden ſeien, welche ſich als politiſche, gegen die ſtaatliche Ordnung direkt oder indirekt gerichtete Umtriebe darſtellten. Einer über dieſe Grenze hinausgehenden Interpretation der gedachten Vertragsbeſtim- mung ſtünden nach der Auffaſſung des Bundesraths ernſte Bedenken prinzipieller Natur entgegen. Da indeß die deutſche Reichsregierung auf dem von ihr vertretenen Standpunkt beharren zu müſſen erklärte und da andrerſeits bei den fortgeſetzten Verhandlungen uns hinſicht- lich des in den betreffenden Fällen einzuſchlagenden Ver- fahrens für die Folge nach verſchiedenen Richtungen Zu- geſtändniſſe in Ausſicht geſtellt wurden, welche als den von uns geltend gemachten Bedenken in ziemlich weitgehendem Maße Rechnung tragend angeſehen werden konnten, ſo er- mächtigten wir ſchließlich den ſchweizeriſchen Geſandten in Berlin, dem Auswärtigen Amt des Deutſchen Reiches unter Wahrung unſres prinzipiellen Standpunktes die Erklärung abzugeben, der Bundesrath ſei bereit, in der Weiſe zu einer Verſtändigung die Hand zu bieten, daß er das Verfahren der preußiſchen Behörden bis auf weiteres nicht beanſtanden wolle, wenn die Kaiſerliche Regierung ſich damit einverſtanden erkläre, a) daß ein Ausweis darüber, daß die betreffenden Schweizerbürger, die durch die Geſetze ihres Heimathlandes an Stelle des perſönlichen Militärdienſtes vorgeſehene Erſatz- leiſtung entrichtet haben, ebenfalls als vollgültiger Beweis für die Erfüllung der Militärpflicht anerkannt werden ſoll, und b) daß die zuſtändigen Provinzialbehörden anzuweiſen Berliner Plauderei. Der Widerſtand gegen die lex Heinze hat während der letzten Wochen in dem geiſtigen Leben Berlins eine große Rolle geſpielt. Und wer wollte ihm die Berechti- gung abſprechen! Das Kunſtwerk, das eine geſellſchaftliche Aufgabe hat, ſteht unter dem Sittengeſetz, und wenn es nicht ſittlich ſchön iſt, ſo verdient es ſeinen Namen über- haupt nicht mehr. Aber die Kunſt wird von anderen Ge- ſetzen beherrſcht wie die Wirklichkeit, und ſo deckt ſich der Begriff der Sittlichkeit und Unſittlichkeit hier und dort durchaus nicht. Die Unſittlichkeit in der Kunſt kann durch einen Geſetzesparagraphen meiſt gar nicht getroffen werden, während andrerſeits die Gefahr beſteht, daß die, welche ihn anzuwenden haben und nicht kunſtverſtändig ſind, ſich nur an das halten werden, was man im Leben unſittlich nennt, ohne zu berückſichtigen, daß es, wie das Nackte, wie beiſpielsweiſe die im Reichstag viel citirte Leda mit dem Schwan, durch die Kunſt geadelt wird und ſeinen unſitt- lichen Charakter dadurch verliert. Die Unſittlichkeit in der Kunſt beſteht in der Form, in der ein Stoff behandelt wird, beziehungsweiſe in der Formloſigkeit, die beiſpiels- weiſe für die den Stoff nicht meiſternden, ſondern von ihm bemeiſterten Naturaliſten bezeichnend iſt, ſie beſteht in der Charakteriſtik der Figuren, in einem falſchen Realismus, im Peſſimismus, in der Freude am Schmutz und an der Schlüpfrigkeit in gewiſſen myſtiſch-ſinnlichen Vorſtellungen, in einer egoiſtiſchen und anarchiſtiſchen, geſellſchaftsfeind- lichen Tendenz u. ſ. w. Unſre moderne Kunſt iſt zum größten Theil ſtark unſittlich, wie ich nachher auch an einigen Beiſpielen zeigen werde, welche uns hier in der letzten Zeit viel beſchäftigt haben, aber mit Geſetzespara- graphen iſt daran nichts zu ändern. Immerhin hat es mich überraſcht, unter den eifrigſten Wortführern der Oppoſition gegen die lex Heinze gerade viele Naturaliſten zu finden, die an der zur Anwendung jenes Geſetzes be- rufenen armen Polizei auch nicht ein gutes Haar ließen. Und doch ſind ſie dazu am allerwenigſten berufen, denn indem ſie das Niveau der Kunſt auf das der Wirklichkeit herabdrücken, befähigen ſie ja gerade den vielgeſchmähten Unterthanenverſtand des Poliziſten zur Beurtheilung ihrer Werke. Der Poliziſt, der Corregio’s „Leda“ aus dem Schaufenſter entfernen läßt, weil die Königstochter nackt und der Vorgang unſittliche Vorſtellungen weckt, urtheilt nicht banauſiſcher, als der Dichter, der jenen Vorgang oder Vorgänge ähnlicher Natur realiſtiſch ausmalt und kein höheres künſtleriſches Ziel hat, als die möglichſt treue Wiedergabe der äußeren Wahrheit. Die Verführung Gretchens, die Kuppelei Martha’s ſind in Wirklichkeit gewiß ſehr unſittliche Dinge, aber ſie wirken ſo nicht im Kunſtwerk, weil die Läuterung Gret- chens, die Reue Fauſts, Inhalt und Verlauf der Handlung deutlich zeigen, daß ſich Goethe dem Sittengeſetz unter- wirſt. Ich kenne andrerſeits nichts Unſittlicheres, als Jbſens „Nora“, in der Frau Sorma übrigens demnächſt im Leſſing-Theater wiederauftreten wird, nachdem das von ihr geplante Pariſer Gaſtſpiel zu Waſſer geworden iſt. Gegen dieſe ſich wider das Sittengeſetz auflehnende Frauen- geſtalt iſt die lex Heinze ganz ohnmächtig, und doch wirkt ihr Beiſpiel ſehr viel entſittlichenderer, als alle Frauen- geſtalten Goethe’s zuſammengenommen, die doch längſt nicht alle auf dem Pfade der Tugend wandeln. Durch den Mund des Dichters verkündet Nora, daß die Frau nur Rechte und keine Pflichten gegen Mann und Kinder und gegen die Geſellſchaft hat, was auf viele Zuſchauerinnen oder Leſerinnen einen ſehr böſen Einfluß ausüben dürfte. Es kommt hinzu, daß dieſe unglückſelige Dichterfigur, dank der von Jbſen auf unſre Modernen geübten Sug- geſtion, auf der Bühne eine Fülle von Unternoras, von wildgewordenen, anarchiſtiſch geſonnenen, halb amazonen- haft, halb mannstoll ſich gebärdenden Frauen gezeitigt hat, genug, um damit die Phantaſie einer ganzen Gene- ration von Töchtern Eva’s zu vergiften. Ein ſolcher Uebermenſch im Unterrock iſt beiſpielsweiſe die Magda in Sudermanns „Heimath“, ein Seitenſtück zur Nympho- manin Rebekka in „Rosmersholm“. Auch Jbſen hat neben ſeiner Nora mit Vorliebe Frauen gezeichnet, die, um „ſich ausleben“ zu können, ihrem Mann einfach entlaufen ſind, entlaufen oder entlaufen wollen, ſo Frau Alving (Ge- ſpenſter), Frau Elvſtedt (Hedda Gabler), Ellida (Frau vom Meere), und da die Handlung ihnen recht zu geben ſcheint, da Jbſen erſichtlich der freien Liebe das Wort redet und es als ein Selbſtbeſtimmungsrecht des Individuums geltend macht, jeder ſeiner krankhaften Launen, jedem thieriſchen Triebe zu gehorchen, ſo ſind jene Figuren nebſt den Stücken, in denen ſie des angeblich die „Lebenslüge“ be- kämpfenden Jbſens geſellſchaftsfeindliche Weisheit ver- künden, in höchſtem Grade unſittlich und unwahr dazu. In Reicke’s „Freilicht“, das vor kurzem im „Berliner Theater“ nicht ohne Erfolg aufgeführt wurde, wird die neue Lehre vom „Selbſtbeſtimmungsrecht des weiblichen Geſchlechts“, über das ſich cum grano salis ja reden läßt, mit derſelben Verachtung des Sittengeſetzes gepredigt, und ſo verläßt die Heldin, die, wie Sudermanns Magda, angeblich weit über den engen Horizont ihrer Familie herausblickt, ohne weiteres ihren Bräutigam und wirft ſich dem erſten beſten Maler an den Hals. Das Publikum nimmt daran kaum noch Anſtoß, ſo ſehr fördert die neueſte Mode derartige unerquickliche Frauengeſtalten, in deren Verkörperung unſre hervorragendſten Darſtellerinnen ihren höchſten Triumph ſuchen. Ich erinnere nur an die Sorma und an die Trieſch, an die Sandrock, Duſe und Sarah Bernhardt, die ſämmtlich mit Vorliebe hyſteriſche oder ſchwindſüchtige, ſich gegen die Geſellſchaftsordnung auflehnende, ihren ſexuellen Zwangsantrieben blindlings gehorchende Frauen- zimmer ſpielen oder ſich gar in Hoſenrollen verlieben. Was iſt es denn, was einige von ihnen an der Hamlet- Rolle oder an der des jungen Herzogs von Reichſtadt ſo verlockend erſcheint —? wieder nur krankhafte Züge, welche dem Geiſt unſrer an Nervenüberreizungen und geiſtiger Ermüdung ſo reichen Zeit entſprechen, vor allem der Peſſimismus, die Willensunfähigkeit. Der eigentlich zum Handeln geborene Sohn des erſten Napoleon iſt mehr noch durch ſein Temperament als durch die Verhältniſſe zur Unthätigkeit verdammt, das iſt die Tragik ſeines Schickſals. Er iſt eine Abart des Hamlet. Statt zu handeln, vermag er nur endlos zu ſchwatzen, und das iſt’s, was Sarah Bernhardt triebhaft anzog. Des „Aiglon“ patriotiſche Tiraden ſind ein Seitenſtück zur anarchiſti- ſchen Kannegießerei der Ibſen’ſchen Helden, von denen

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 91, 3. April 1900, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine91_1900/1>, abgerufen am 17.05.2024.