Allgemeine Zeitung, Nr. 80, 20. März 1848.[Spaltenumbruch]
Beziehungen friedlicher Art zwischen unserem östlichen und unserem west- Die lautklopfende Warnung von 1802 wurde in den deutschen Ca- Wir sollten noch eine dritte erleben. Am Grabe Friedrichs des Großen hatten Preußens König und Wenn die Freundschaft Rußlands uns dem Verderben nahe ge- Um gegen Frankreich stark zu seyn, schloß Rußland 24 März 1812 Zur ersten Bedingung derjenigen Unterhandlungen welche am In den dreiundzwanzig Jahren 1792--1815 hat uns Rußland als [Spaltenumbruch]
Beziehungen friedlicher Art zwiſchen unſerem öſtlichen und unſerem weſt- Die lautklopfende Warnung von 1802 wurde in den deutſchen Ca- Wir ſollten noch eine dritte erleben. Am Grabe Friedrichs des Großen hatten Preußens König und Wenn die Freundſchaft Rußlands uns dem Verderben nahe ge- Um gegen Frankreich ſtark zu ſeyn, ſchloß Rußland 24 März 1812 Zur erſten Bedingung derjenigen Unterhandlungen welche am In den dreiundzwanzig Jahren 1792—1815 hat uns Rußland als <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0013" n="1277"/><cb/> Beziehungen friedlicher Art zwiſchen unſerem öſtlichen und unſerem weſt-<lb/> lichen Nachbarn an. Paul trat in einen vertraulichen Briefwechſel mit<lb/> Bonaparte, in dem über die künftige Geſtaltung Deutſchlands verhan-<lb/> delt wurde. Die Ermordung des ruſſiſchen Kaiſers änderte in dieſen<lb/> Verhältniſſen nichts. Sein Nachfolger Alexander fand es vortheil-<lb/> hafter mit den Franzoſen als gegen ſie zu gehen. Jn den geheimen<lb/> Artikeln vom 11 October 1801 kamen das St. Petersburger und das<lb/> franzöſiſche Cabinet über eine gemeinſame Vermittelung in Betreff Deutſch-<lb/> lands überein. Am 18 Aug. 1802 überreichten die Geſandten von Frankreich<lb/> und Rußland der Reichsdeputation einen Plan welchen beide Mächte<lb/> zur neuen Territorialeintheilung Deutſchlands verfaßt hatten, und ſetz-<lb/> ten zugleich zwei Monate Friſt zur Beendigung der Verhandlungen<lb/> darüber. Der Plan ward angenommen, und die erſte Folge davon<lb/> daß Rußland mit Deutſchland einen Principienkampf gegen Frank-<lb/> reich begonnen hatte, war: daß die drei geiſtlichen Kurfürſtenthümer<lb/> Mainz, Trier und Köln aufgehoben wurden, daß ſämmtliche noch<lb/> beſtehende Bisthümer und Abteien, ſämmtliche unmittelbare kleine<lb/> Grafen und Ritter, ſämmtliche freie Reichsſtädte bis auf ſechs ihrer<lb/> Unabhängigkeit beraubt wurden; daß der Großherzog von Toscana<lb/> Salzburg, der Herzog von Modena das Breisgau erhielt. Die erſte<lb/> Folge wenn Rußland mit Deutſchland kämpft, wird Vernichtung der<lb/> kleineren Staaten ſeyn: zu Gunſten nicht der deutſchen Freiheit, ſon-<lb/> dern fremder Herrſcher und abſolutiſtiſcher Gewalt.</p><lb/> <p>Die lautklopfende Warnung von 1802 wurde in den deutſchen Ca-<lb/> binetten überhört. Als Oeſterreich von neuem gegen Napoleon auf-<lb/> trat, erhob ſich mit ihm nicht auch das übrige Deutſchland. 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Auf dem willigte Napoleon<lb/> (12 October 1808) in die Vereinigung der Moldau und Walachei mit<lb/> dem ruſſiſchen Reich ein: letztere wurde bald darauf vollzogen, dadurch<lb/><cb/> unſerm deutſchen Südoſten ſeine Schlagader unterbunden, und eine<lb/> neue Vergrößerung des Zaarenreichs unmittelbar auf deutſche Koſten,<lb/> fand 14 October 1809 ſtatt. Im Wiener Frieden trat Oeſterreich an<lb/> das mit Frankreich verbundene Rußland einen Theil von Oſtgalizien,<lb/> 400,000 Einwohner ſtark, ab. Das Bündniß Frankreichs mit Ruß-<lb/> land noch einige Jahre, und Deutſchland war ein antiquirter Begriff,<lb/> eine hiſtoriſche Reminiscenz. Vor ſolchem Unglück rettete uns nun<lb/> zwar die napoleoniſche Eroberungsſucht; aber ehe wir gerettet waren,<lb/> ſollten wir neue Beweiſe der ruſſiſchen Geſinnungen für Deutſchland<lb/> erhalten.</p><lb/> <p>Um gegen Frankreich ſtark zu ſeyn, ſchloß Rußland 24 März 1812<lb/> einen Offenſiv- und Defenſivvertrag mit Schweden, in deſſen drittem<lb/> Artikel feſtgeſetzt wurde: Schweden erhält Norwegen, welches Däne-<lb/> mark ihm abtreten muß; thut Dänemark das freiwillig, fo ſoll es da-<lb/> für in Deutſchland entſchädigt werden. Im vierten Artikel ließ ſich<lb/> Alexander von Schweden die Vorrückung der Gränzen Rußlands bis<lb/> an die Weichſel zuerkennen. Im Januar 1813 ſtanden die Ruſſen<lb/> in unſerm Vaterland: in ihren Proclamationen war alles Liebe für<lb/> Deutſchland, Haß gegen Frankreich. Man vernahm: „das ruſſiſche<lb/> Volk bietet den Deutſchen zu ihrer Befreiung die Hand,“ „das Vor-<lb/> dringen der ruſſiſchen Heere iſt durch einen über jede Selbſtſucht erha-<lb/> benen Zweck geleitet.“ Daß bald darauf in dem gewonnenen Sachſen<lb/> ein ruſſiſcher Generalgouverneur abſolut herrſchte, die Officiere vom<lb/> Hauptmann abwärts ernannte, während nach ſeinen Vorſchlägen der<lb/> ruſſiſche Kaiſer die Stabsofficiere wählte, wurde im Drang der Be-<lb/> gebenheiten weniger bemerkt. Klarer dagegen konnte man über Ruß-<lb/> lands letztes Wollen bei den ſpätern Verhandlungen der europäiſchen<lb/> Mächte ſehen.</p><lb/> <p>Zur erſten Bedingung derjenigen Unterhandlungen welche am<lb/> 30 Mai den erſten Pariſer Frieden herbeiführten, machte Alexander<lb/> daß Lothringen und Elſaß franzöſiſch bleiben ſollten. Auf dem Wie-<lb/> ner Congreß verlangte Rußland für ſich ganz Polen und behauptete:<lb/> „dieſe Forderung ſey eine moraliſche Pflicht für das Zaaren-<lb/> reich; ſie ſey nothwendig zur Verbeſſerung der Verwaltung der polni-<lb/> ſchen Unterthanen Sr. kaiſerlichen Majeſtät und für die Einwohner des<lb/> Herzogthums Warſchau, welche ihm gegenwärtig Kraft der militäri-<lb/> ſchen Occupation des Herzogthums gleichfalls unterthan wären“ —<lb/> ein Fingerzeig, was etwa jetzt, da der Gedanke des Panſlavismus er-<lb/> wacht iſt, unter Umſtänden von Rußland für eine moraliſche Pflicht<lb/> angeſehen werden möchte. Nur mit Mühe brachten es die widerſtre-<lb/> benden Mächte dahin daß Alexander ſich mit dem jetzigen Königreich<lb/> Polen begnügte, welches zum guten Theil aus preußiſchen, d. h. deut-<lb/> ſchen Abtretungen im Tilſiter Frieden beſtand. 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Beziehungen friedlicher Art zwiſchen unſerem öſtlichen und unſerem weſt-
lichen Nachbarn an. Paul trat in einen vertraulichen Briefwechſel mit
Bonaparte, in dem über die künftige Geſtaltung Deutſchlands verhan-
delt wurde. Die Ermordung des ruſſiſchen Kaiſers änderte in dieſen
Verhältniſſen nichts. Sein Nachfolger Alexander fand es vortheil-
hafter mit den Franzoſen als gegen ſie zu gehen. Jn den geheimen
Artikeln vom 11 October 1801 kamen das St. Petersburger und das
franzöſiſche Cabinet über eine gemeinſame Vermittelung in Betreff Deutſch-
lands überein. Am 18 Aug. 1802 überreichten die Geſandten von Frankreich
und Rußland der Reichsdeputation einen Plan welchen beide Mächte
zur neuen Territorialeintheilung Deutſchlands verfaßt hatten, und ſetz-
ten zugleich zwei Monate Friſt zur Beendigung der Verhandlungen
darüber. Der Plan ward angenommen, und die erſte Folge davon
daß Rußland mit Deutſchland einen Principienkampf gegen Frank-
reich begonnen hatte, war: daß die drei geiſtlichen Kurfürſtenthümer
Mainz, Trier und Köln aufgehoben wurden, daß ſämmtliche noch
beſtehende Bisthümer und Abteien, ſämmtliche unmittelbare kleine
Grafen und Ritter, ſämmtliche freie Reichsſtädte bis auf ſechs ihrer
Unabhängigkeit beraubt wurden; daß der Großherzog von Toscana
Salzburg, der Herzog von Modena das Breisgau erhielt. Die erſte
Folge wenn Rußland mit Deutſchland kämpft, wird Vernichtung der
kleineren Staaten ſeyn: zu Gunſten nicht der deutſchen Freiheit, ſon-
dern fremder Herrſcher und abſolutiſtiſcher Gewalt.
Die lautklopfende Warnung von 1802 wurde in den deutſchen Ca-
binetten überhört. Als Oeſterreich von neuem gegen Napoleon auf-
trat, erhob ſich mit ihm nicht auch das übrige Deutſchland. Unſere
Fürſten achteten eine ſchimpfliche Neutralität oder eine noch ſchimpf-
lichere Gebietsvergrößerung höher als die gemeinſame Nationalität.
Am Tage der Dreikaiſerſchlacht (2 Dec. 1805) ſtand kein preußiſches
Heer neben dem öſterreichiſchen, ſondern ein ruſſiſches. Der geſchla-
gene Lothringer fand in dem mitgeſchlagenen Romanow mindeſtens
keine kräftige Hülfe: die ruſſiſchen Officiere ſprachen von Deutſchland
als von dem verächtlichſten Theile der Erde; dem gewiß nicht über-
patriotiſchen Gentz drehten ſich ſeine „deutſchen“ Eingeweide um, wenn
er die Oeſterreicher von den Ruſſen mit Füßen getreten ſah, und hörte
wie ſich der Großfürſt Conſtantin gegen die Oeſterreicher benommen,
und das Ende des ruſſiſch-deutſchen Bündniſſes warder Preßburger Friede
(21 Dec. 1805). In ihm verlor Oeſterreich an 1000 Quadratmeilen
Gebiet, drei Millionen Seelen und fünfzehn Millionen Gulden Ein-
künfte. Schwächung der einen deutſchen Großmacht ohne unmittelba-
ren Vortheil für Rußland war die zweite Folge des ruſſiſch-deutſchen
Kampfes gegen Frankreich.
Wir ſollten noch eine dritte erleben.
Am Grabe Friedrichs des Großen hatten Preußens König und
Rußlands Zaar ſich ewige Freundſchaft gelobt. Die perſönliche Ver-
bindung zwiſchen den beiden Herrſchern, die gleiche Furcht beider vor Napo-
leon ſchien das Bündniß unter ihnen gegen den Franzoſenkaiſer un-
auflöslich zu machen. Nach der Schlacht von Friedland beſaß Alexan-
der noch immer Mittel übergenug, um gegen die Franzoſen einen
langen Krieg zu Gunſten Preußens zu führen, aber ſie anzuwenden
ſah er ſich nicht gemüßigt. Im Frieden von Tilſit (7 und 9 Julius
1807) verlor Preußen die Hälfte ſeiner Länder; Rußland gewann den
bisher preußiſchen Diſtrict von Bialyflock (206 Quadratmeilen groß)
und ein geheimer Artikel ſetzte feſt daß wenn die Pforte, auf deren Län-
der Rußland längſt ein lüſternes Auge geworfen hatte, die Vermitte-
lung Napoleons in ihrem Kriege mit dem Zaar nicht annehmen wolle,
alsdann Frankreich und Rußland gemeinſchaftlich ſie bekriegen und
ihr alle europäiſchen Beſitzungen außer Rumelien und Konſtantinopel
entziehen ſollten. Die dritte Folge des deutſch-ruſſiſchen Bündniſſes
war daß die zweite deutſche Großmacht zum unmittelbaren Vortheil
Rußlands geſchwächt ward, daß Rußland Ausſichten gewann auf die
Donaufürſtenthümer, dieſes für uns ſo wichtige Gebiet, und daß Ruß-
land und Frankreich fortan in ein Bündniß mit einander traten.
Wenn die Freundſchaft Rußlands uns dem Verderben nahe ge-
bracht hatte, ſo drohte ſeine Feindſchaft uns vollends in dasſelbe hin-
einzuſtoßen. Ungeachtet der Friede von Tilſit vorgeſchrieben hatte, die
ruſſiſchen Truppen ſollten ſich aus der Moldau und Walachei zurück-
ziehen, verbleiben ſie dennoch mit Bewilligung Frankreichs in dieſen
Ländern bis zum Congreß von Erfurt. Auf dem willigte Napoleon
(12 October 1808) in die Vereinigung der Moldau und Walachei mit
dem ruſſiſchen Reich ein: letztere wurde bald darauf vollzogen, dadurch
unſerm deutſchen Südoſten ſeine Schlagader unterbunden, und eine
neue Vergrößerung des Zaarenreichs unmittelbar auf deutſche Koſten,
fand 14 October 1809 ſtatt. Im Wiener Frieden trat Oeſterreich an
das mit Frankreich verbundene Rußland einen Theil von Oſtgalizien,
400,000 Einwohner ſtark, ab. Das Bündniß Frankreichs mit Ruß-
land noch einige Jahre, und Deutſchland war ein antiquirter Begriff,
eine hiſtoriſche Reminiscenz. Vor ſolchem Unglück rettete uns nun
zwar die napoleoniſche Eroberungsſucht; aber ehe wir gerettet waren,
ſollten wir neue Beweiſe der ruſſiſchen Geſinnungen für Deutſchland
erhalten.
Um gegen Frankreich ſtark zu ſeyn, ſchloß Rußland 24 März 1812
einen Offenſiv- und Defenſivvertrag mit Schweden, in deſſen drittem
Artikel feſtgeſetzt wurde: Schweden erhält Norwegen, welches Däne-
mark ihm abtreten muß; thut Dänemark das freiwillig, fo ſoll es da-
für in Deutſchland entſchädigt werden. Im vierten Artikel ließ ſich
Alexander von Schweden die Vorrückung der Gränzen Rußlands bis
an die Weichſel zuerkennen. Im Januar 1813 ſtanden die Ruſſen
in unſerm Vaterland: in ihren Proclamationen war alles Liebe für
Deutſchland, Haß gegen Frankreich. Man vernahm: „das ruſſiſche
Volk bietet den Deutſchen zu ihrer Befreiung die Hand,“ „das Vor-
dringen der ruſſiſchen Heere iſt durch einen über jede Selbſtſucht erha-
benen Zweck geleitet.“ Daß bald darauf in dem gewonnenen Sachſen
ein ruſſiſcher Generalgouverneur abſolut herrſchte, die Officiere vom
Hauptmann abwärts ernannte, während nach ſeinen Vorſchlägen der
ruſſiſche Kaiſer die Stabsofficiere wählte, wurde im Drang der Be-
gebenheiten weniger bemerkt. Klarer dagegen konnte man über Ruß-
lands letztes Wollen bei den ſpätern Verhandlungen der europäiſchen
Mächte ſehen.
Zur erſten Bedingung derjenigen Unterhandlungen welche am
30 Mai den erſten Pariſer Frieden herbeiführten, machte Alexander
daß Lothringen und Elſaß franzöſiſch bleiben ſollten. Auf dem Wie-
ner Congreß verlangte Rußland für ſich ganz Polen und behauptete:
„dieſe Forderung ſey eine moraliſche Pflicht für das Zaaren-
reich; ſie ſey nothwendig zur Verbeſſerung der Verwaltung der polni-
ſchen Unterthanen Sr. kaiſerlichen Majeſtät und für die Einwohner des
Herzogthums Warſchau, welche ihm gegenwärtig Kraft der militäri-
ſchen Occupation des Herzogthums gleichfalls unterthan wären“ —
ein Fingerzeig, was etwa jetzt, da der Gedanke des Panſlavismus er-
wacht iſt, unter Umſtänden von Rußland für eine moraliſche Pflicht
angeſehen werden möchte. Nur mit Mühe brachten es die widerſtre-
benden Mächte dahin daß Alexander ſich mit dem jetzigen Königreich
Polen begnügte, welches zum guten Theil aus preußiſchen, d. h. deut-
ſchen Abtretungen im Tilſiter Frieden beſtand. Als darauf Lud-
wig XVIII zum zweitenmal in Frankreich durch Hülfe weſentlich deut-
ſcher Heere eingeſetzt war, ließ ſich Alexander von dem neuen König
verſprechen daß er Rußlands Plane auf Polen und den Orient un-
terſtützen wolle, und daß der zweite Pariſer Friede (20 Nov. 1815)
für uns Deutſche nicht günſtiger ausfiel, daran trägt außer England
vor allem Rußland die Schuld.
In den dreiundzwanzig Jahren 1792—1815 hat uns Rußland als
unſer principieller Bundesgenoſſe gegen Frankreich mehr geſchadet denn
als offener Bundesgenoſſe Frankreichs gegen uns. Was es uns in
den weiteren dreiunddreißig Jahren 1815—1848, gleichfalls als prin-
cipieller Bundesgenoſſe gegen Frankreich für Verderben gebracht, theils
geiſtiges, theils materielles, davon weiß jedes Kind in Deutſchland zu
reden, das bezeugen die Donaumündungen vernehmlich genug. Nicht
in der Perſönlichkeit eines einzelnen ruſſiſchen Kaiſers liegt das Ge-
fährliche des Zaarenreichs für uns, ſondern in der Richtung der ruſ-
ſiſchen Politik wie ſie durch die Eigenthümlichkeit des Staats gegeben
iſt. Die principielle Abneigung Pauls gegen Frankreich endete mit
einem Einverſtändniß Frankreichs und Rußlands gegen uns; die prin-
cipielle Abneigung Alexanders gegen Napoleon endete mit einer Ueber-
einkunft beider Kaiſer, die jenem den Oſten, dieſem den Weſten Eu-
ropa’s in die Hände liefern ſollte; die principielle Abneigung des Kai-
ſers Nicolaus gegen das conſtitutionelle Frankreich endete damit daß
kurz vor der Julirevolution 1830 der Zaar und Karl X ſich dahin
verabredeten, jener ſolle ſich im Oſten unſers Welttheils ausdehnen,
dieſer das linke Rheinufer erobern; Spuren davon daß die princi-
pielle Abneigung desſelben Nicolaus gegen Ludwig Philipp im Lauf
der Zeit ſich verlor, waren in den letzten Monaten in dem Geldan-
lehen Rußlands deutlich zu erblicken; wenn die geheime Geſchichte des
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Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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