Allgemeine Zeitung, Nr. 36, 5. Februar 1850.[Spaltenumbruch]
unsere deutsche Geschichte zurückzuschauen, sobald wir jetzt die Gegenwart In Ermangelung aller natürlichen, geographischen wie ökonomischen Wir haben es in den frühern Briefen schon einmal ausgesprochen daß Erst mit der Gründung des Zollvereins trat das deutsche Bürger- Bei der völligen Abtrennung in welcher das Metternich'sche System [Spaltenumbruch]
unſere deutſche Geſchichte zurückzuſchauen, ſobald wir jetzt die Gegenwart In Ermangelung aller natürlichen, geographiſchen wie ökonomiſchen Wir haben es in den frühern Briefen ſchon einmal ausgeſprochen daß Erſt mit der Gründung des Zollvereins trat das deutſche Bürger- Bei der völligen Abtrennung in welcher das Metternich’ſche Syſtem <TEI> <text> <body> <div> <p> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <p><pb facs="#f0012" n="572"/><cb/> unſere deutſche Geſchichte zurückzuſchauen, ſobald wir jetzt die Gegenwart<lb/> begreifen und aus ihr die Zukunft naturgemäß — nicht nach fremden<lb/> Ideen, ſondern aus der eigenen inneren Grundanlage unſeres Volksweſens<lb/> heraus — uns zu entwickeln beabſichtigen. Wir haben früher den Satz<lb/> aufgeſtellt daß Deutſchland deßwegen nicht zur ſtraffen ſtaatlichen Eini-<lb/> gung durchgedrungen iſt, weil ſeine Herrſcher im Mittelalter weder die<lb/> franzöſiſchen Mittel zur Beſeitigung der unabhängigen Vaſallen anwand-<lb/> ten, noch ſein Bürgerthum ſtark genug war um aus ſich heraus die poli-<lb/> tiſchen Bande enger anzuziehen. Die deutſchen Kaiſer vergeudeten ihre<lb/> Kräfte an der Erwerbung von Italien, das zwar damals den ökonomiſchen<lb/> Schwerpunkt Europa’s bildete, welches ihnen jedoch geographiſch ſogar<lb/> über die Peripherie hinausging, und durch die türkiſchen Eroberungen<lb/> einerſeits, wie durch die Entdeckung Amerika’s andererſeits ſpäter raſch ſei-<lb/> ner bisherigen Stellung entſetzt wurde; der Reichthum Mitteldeutſchlands<lb/> ging unter in dem Augenblicke als die Fugger und Welſer, eben der<lb/> Osmanen wegen, die Schätze Indiens nicht mehr auf der Donau herauf-<lb/> kommen laſſen konnten; und die Macht des norddeutſchen Städtebundes<lb/> verſank, nachdem die Aufſindung der neuen Welten jenſeits des Oceans<lb/> die <hi rendition="#g">geſammte</hi> atlantiſche Parcelle unſers Erdtheils zum Seeleben er-<lb/> weckt hatte. Keine einzige Kraft waltete nach dieſer Periode mehr in<lb/> Deutſchland welche die centrifugale Bewegung des rein agricolen Lebens<lb/> auch nur in etwas zu paralyſiren im Stande geweſen wäre. Unſere<lb/> theologiſchen Kämpfe, auf welche wir in geiſtiger Beziehung gewiß mit<lb/> allem Rechte ſtolz ſind, wurzeln im unterſten Boden gleichfalls in dieſer<lb/> ökonomiſch-politiſchen Zerſetzungsepoche — der Agriculturſtaat iſt der<lb/> Zuſtand des individuellen Separatismus — und ſie haben vermöge ihrer<lb/> ſubjectiven Wechſelwirkung nur noch mehr dazu beigetragen das heilige<lb/> römiſche Reich deutſcher Nation in lauter Einzelnheiten aufzulöſen; indem<lb/> die Politik der einſeitig egoiſtiſchen Vaſallenfürſten es trefflich verſtand<lb/> dieſe moraliſchen Hebel zu ihren ſehr materiellen Zwecken in Bewegung<lb/> zu ſetzen. Unter ſolchen Verhältniſſen, wo eigentlich gar keine <hi rendition="#g">poli-<lb/> tiſche</hi> Motoren in der <hi rendition="#g">Geſammtheit</hi> mehr thätig waren, da dem Kaiſer-<lb/> hauſe, abgeſehen von ſeiner Hausmacht, dem Weſen nach alle Anſatzpunkte<lb/> zur nachdrücklichen Vollſtreckung ſeines etwaigen Willens im Reiche ver-<lb/> loren gegangen, darf es uns in unſerer hiſtoriſchen Auffaſſungsweiſe nicht<lb/> beirren, wenn wir die Bedeutung des Einzelnen im ſtaatlichen Leben mehr<lb/> als gewöhnlich hervortreten ſehen. Preußen ſagt immer daß es ſeine<lb/> Gründung dem Genie ſeiner früheren Fürſten verdanke, und hat darin<lb/> vollkommen Recht: zu einer Zeit wo das Bürgerthum über den ganz<lb/> gewöhnlichen Handwerkerſtand in den Städten nicht mehr hinausging,<lb/> wo der Adel in der Zerſplitterung und Verſchuldung ſeiner Güter keine<lb/> Widerſtandsfähigkeit mehr in ſich trug, wo nirgends das kreiſende Blut<lb/> des kosmiſchen Güterlebens im Vaterland mit unerbitterlicher Strenge<lb/> die Unterwerfung unter ſeine Souveränetät forderte, konnte es dem Geiſte<lb/> und der Energie <hi rendition="#g">eines</hi> Fürſten ſchon gelingen ſeinen urſprünglichen<lb/> Machtskreis ſelbſt um ein bedeutendes zu erweitern, und ſeinem gleichge-<lb/> arteten Erben die Fortſetzung ſeines Strebens zu überlaſſen. Die geiſti-<lb/> gen Hebel traten bei dem gänzlichen Schlafen der ökonomiſchen zu dieſer<lb/> Periode in ungebrochener Kraft in die Schranken, und die politiſche Con-<lb/> centration des im Proteſtantismus liegenden Weſens gab außerdem eine<lb/> nicht zu überſehende Oppoſitionsquelle gegen das katholiſche <hi rendition="#g">recht-<lb/> mäßige</hi> Oberhaupt des Reiches ab. Ich ſage: das <hi rendition="#g">rechtmäßige Ober-<lb/> haupt</hi>. Denn wenn in Berlin die „Herren von der Wilhelmsſtraße,“<lb/> die jener böſe Artikel der „deutſchen Zeitung“ über Radowitz vorigen<lb/> Winter unbarmherzig an das Licht zog, jetzt ſo gerne hinter das Jahr<lb/> 1789 mit ihrem Staate zurückkehren möchten, ſo wird niemand dem Pu-<lb/> bliciſten ein noch weiteres Rückgreifen verargen, bis er dahin gelangt wo<lb/> das Ei des heutigen Preußenthums gelegt wurde.</p><lb/> <p>In Ermangelung aller natürlichen, geographiſchen wie ökonomiſchen<lb/> Bedingungen gab es für Preußen nun keinen andern Weg um zu einem<lb/> Staatsorganismus zu gelangen als durch Militärdeſpotie in Verbindung<lb/> mit einem unbeſchränkten bureaukratiſchen Syſtem. Zu Wien, dem die<lb/> eine ganze Seite, die deutſche nämlich, allmählich abgeſtorben war, hatte<lb/> man ebenfalls keine andern Regierungsmittel; und wenn auch unſere Zeit<lb/> noch ſo ſehr durch die herüberragenden Nachwirkungen jener Epoche zu<lb/> leiden hat, ſo dürfen wir das doch keinen Augenblick verkennen daß unter<lb/><hi rendition="#g">den gegebenen Verhältniſſen</hi> dieſes die einzige Art war auf welcher<lb/> Deutſchland vor dem Untergang gerettet werden konnte, der jedem reinen,<lb/> iſolirten Agriculturſtaat von Seiten ſeiner weiter entwickelten Nachbar-<lb/> völker unausbleiblich droht. Zwar hat uns die Napoleoniſche Eroberung<lb/> zu unwiderleglich die Erfahrung an die Hand gegeben daß ein unnatürlich<lb/> zuſammengefaßter Militärbeamtenſtaat, wenn ihm in ſeiner Spitze die<lb/> Kraft des Genies fehlt, mit einer einzigen Schlacht vernichtet werden<lb/> kann — und das ſollte man an der Spree nie vergeſſen! — während das<lb/> halbgelähmte Oeſterreich wegen der geſunderen Geſtaltung ſeiner andern<lb/><cb/> Hälfte trotz aller Verluſte ſtets noch Widerſtandsfähigkeit in ſich fand;<lb/> allein dieſe „mathematiſchen“ Gebäude gaben damals doch immer die erſte<lb/> Form ab in welche das geſunde Volksblut während der Freiheitskriege ſo<lb/> viel Leben hineinzugießen vermochte, um wenigſtens wieder eigener Herr<lb/> ſeines Grundes und Bodens zu werden.</p><lb/> <p>Wir haben es in den frühern Briefen ſchon einmal ausgeſprochen daß<lb/> mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten das deutſche Bürgerthum<lb/> wieder aufzuwachen begann; unſere Nordſeeküſte vermochte erſt damals<lb/> mit Amerika in directe Verbindung zu treten. Ein zweiter Moment zu<lb/> ſeiner Kräftigung liegt dann in den großartigen Hebungsmitteln des öko-<lb/> nomiſchen Lebens, welche der franzöſiſche Kaiſer zur Durchführung ſeines<lb/> Kampfes gegen England auch in Deutſchland in Bewegung ſetzte; und<lb/> endlich mußte ſich dem Volk am meiſten das Bewußtſeyn ſeiner eigent-<lb/> lichen Stellung im Staate durch den Umſtand aufdrängen daß <hi rendition="#g">es</hi> haupt-<lb/> ſächlich Deutſchlands nationale Unabhängigkeit wieder errungen hatte.<lb/> Freilich war in den embryoniſchen Jahren der Neugeſtaltung unſers Bür-<lb/> gerthums dieſes Bewußtſeyn bloß noch traumartig ahnend, es trat faſt<lb/> nur, der kaum vollendeten litterariſchen Epoche ſich hingebend, in poeti-<lb/> ſchen Formen hervor; und deßwegen darf es uns nicht wundern daß die<lb/><hi rendition="#g">litterariſche</hi> Romantik — nicht die <hi rendition="#g">natioalökonomiſche</hi> eines Adam<lb/> Müller — ſich in das agricole Mittelalter vertiefte, während ſie doch ei-<lb/> gentlich die „Freiheit“ des Bürgerthums, die politiſche Anerkennung des<lb/><hi rendition="#g">beweglichen</hi> Eigenthums, miterkämpfen wollte. 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Ich habe es oft in<lb/> dieſen Blättern ausgeſprochen, der Zollverein war, wenn man ſeine Grün-<lb/> der dabei im Auge hat, abgeſehen von dem genialen Benzenberg, <hi rendition="#g">nichts<lb/> weniger als eine ſtaatsmänniſche Schöpfung!</hi> Die Note des<lb/> Hrn. v. Berſtett, am 15 Aug. in Karlsbad eingereicht, worin es heißt<lb/> daß man das Volk durch materielle Befriedigung von ſeinen „liebgewon-<lb/> nenen Ideen“ abziehen müſſe, laſſen darüber ebenſo wenig einen Zweifel<lb/> übrig als die gleichfalls oft citirten Denkſchriften unſers Bürgermeiſters<lb/> Johann Smidt, der „durch die an die Gränzen verlegten Einnahmsquellen<lb/> der Staaten den ſüddeutſchen Ständen das Steuerverweigerungsrecht para-<lb/> lyſtren“ wollte! Die Macht der Umſtände hat dieſe Handelseinigung her-<lb/> vorgerufen, die ökonomiſchen Verhältniſſe brachten ſich durch alle jämmer-<lb/> lichen Intriguen der Diplomatie in gerader Linie zur Geltung, obgleich<lb/> es dabei immerhin, der Anſicht des Hrn. v. Lerchenfeld gemäß, wahr blei-<lb/> ben kann daß Preußen nur darum ſich ſo ſchleunig mit dem Großherzog-<lb/> thum Heſſen verſtändigte um die Plane Bayerns zu durchkreuzen. Frei-<lb/> lich blieb der Zollverein ohne Nordſeeküſte, und bei ſeiner ächt polniſch<lb/> agricolen, eine allſeitige Zuſtimmung fordernden Organiſation immer nur<lb/> eine ganz kleine Abſchlagszahlung an das Bürgerthum; aber ſie genügte<lb/> dieſem, um ſich in unſerm ſo glücklich gelegenen productiven Lande wenig-<lb/> ſtens zu einer gewiſſen Selbſtändigkeit mühſam emporzuringen. Daß die<lb/> Entwickelung ſo langſam vor ſich ging, lag theils in dem völligen| Mangel auch<lb/> des kleinſten gemeinſamen politiſchen Anſatzpunktes; theils iſt der Grund<lb/> davon in den Beſchränkungen zu ſuchen denen ſich ſelbſt das öffentliche<lb/> Wort, die Preſſe, unterwerfen mußte. Die ſüddeutſchen Ständekammern<lb/> waren der einzige Ort wo die Wünſche des Bürgerthums wenigſtens theil-<lb/> weiſe laut werden und ſich abklären konnten, und ſo kam es daß Provin-<lb/> zialverfaſſungen, die bei den kleinen Verhältniſſen auf welchen ſie erbaut<lb/> waren, eigentlich nur ein ſcheincouſtitutionelles Leben zu entwickeln ver-<lb/> mochten, für den Gang unſerer Einigungsgeſchichte die hohe Bedeutung<lb/> erlangt haben. Trotz der wenigen und ſchwachen Hebel welche ſie aufzu-<lb/> wenden hatten, verſetzten ſie dennoch das geſammte Volk in eine auf <hi rendition="#g">einen</hi><lb/> Punkt ſich richtende Maſſenbewegung; bei der durch ſie allmählich er-<lb/> kämpften größern Freiheit der Preſſe war es möglich die Geſammtintereſſen<lb/> der Nation in ökonomiſcher Beziehung wenigſtens von der Tribüne der<lb/> Journale herunter zu vertreten. Die Vorſchläge zu einer Erweiterung<lb/> des Zollvereins wurden von der ganzen Maſſe getragen, die ſüddeutſchen<lb/> Ständemitglieder ſetzten ſich mit einander in Verbindung, und die Nation<lb/> jauchzte als endlich die Forderung nach einer Vertretung des Volks beim<lb/> Bundestag fiel! Zwar war dieſes unaufyaltſame Vorwärtsſchreiten auch<lb/> nur noch ein Tappen nach einem geahneten, nicht klar geſchauten Ziele.</p><lb/> <p>Bei der völligen Abtrennung in welcher das Metternich’ſche Syſtem<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </p> </div> </body> </text> </TEI> [572/0012]
unſere deutſche Geſchichte zurückzuſchauen, ſobald wir jetzt die Gegenwart
begreifen und aus ihr die Zukunft naturgemäß — nicht nach fremden
Ideen, ſondern aus der eigenen inneren Grundanlage unſeres Volksweſens
heraus — uns zu entwickeln beabſichtigen. Wir haben früher den Satz
aufgeſtellt daß Deutſchland deßwegen nicht zur ſtraffen ſtaatlichen Eini-
gung durchgedrungen iſt, weil ſeine Herrſcher im Mittelalter weder die
franzöſiſchen Mittel zur Beſeitigung der unabhängigen Vaſallen anwand-
ten, noch ſein Bürgerthum ſtark genug war um aus ſich heraus die poli-
tiſchen Bande enger anzuziehen. Die deutſchen Kaiſer vergeudeten ihre
Kräfte an der Erwerbung von Italien, das zwar damals den ökonomiſchen
Schwerpunkt Europa’s bildete, welches ihnen jedoch geographiſch ſogar
über die Peripherie hinausging, und durch die türkiſchen Eroberungen
einerſeits, wie durch die Entdeckung Amerika’s andererſeits ſpäter raſch ſei-
ner bisherigen Stellung entſetzt wurde; der Reichthum Mitteldeutſchlands
ging unter in dem Augenblicke als die Fugger und Welſer, eben der
Osmanen wegen, die Schätze Indiens nicht mehr auf der Donau herauf-
kommen laſſen konnten; und die Macht des norddeutſchen Städtebundes
verſank, nachdem die Aufſindung der neuen Welten jenſeits des Oceans
die geſammte atlantiſche Parcelle unſers Erdtheils zum Seeleben er-
weckt hatte. Keine einzige Kraft waltete nach dieſer Periode mehr in
Deutſchland welche die centrifugale Bewegung des rein agricolen Lebens
auch nur in etwas zu paralyſiren im Stande geweſen wäre. Unſere
theologiſchen Kämpfe, auf welche wir in geiſtiger Beziehung gewiß mit
allem Rechte ſtolz ſind, wurzeln im unterſten Boden gleichfalls in dieſer
ökonomiſch-politiſchen Zerſetzungsepoche — der Agriculturſtaat iſt der
Zuſtand des individuellen Separatismus — und ſie haben vermöge ihrer
ſubjectiven Wechſelwirkung nur noch mehr dazu beigetragen das heilige
römiſche Reich deutſcher Nation in lauter Einzelnheiten aufzulöſen; indem
die Politik der einſeitig egoiſtiſchen Vaſallenfürſten es trefflich verſtand
dieſe moraliſchen Hebel zu ihren ſehr materiellen Zwecken in Bewegung
zu ſetzen. Unter ſolchen Verhältniſſen, wo eigentlich gar keine poli-
tiſche Motoren in der Geſammtheit mehr thätig waren, da dem Kaiſer-
hauſe, abgeſehen von ſeiner Hausmacht, dem Weſen nach alle Anſatzpunkte
zur nachdrücklichen Vollſtreckung ſeines etwaigen Willens im Reiche ver-
loren gegangen, darf es uns in unſerer hiſtoriſchen Auffaſſungsweiſe nicht
beirren, wenn wir die Bedeutung des Einzelnen im ſtaatlichen Leben mehr
als gewöhnlich hervortreten ſehen. Preußen ſagt immer daß es ſeine
Gründung dem Genie ſeiner früheren Fürſten verdanke, und hat darin
vollkommen Recht: zu einer Zeit wo das Bürgerthum über den ganz
gewöhnlichen Handwerkerſtand in den Städten nicht mehr hinausging,
wo der Adel in der Zerſplitterung und Verſchuldung ſeiner Güter keine
Widerſtandsfähigkeit mehr in ſich trug, wo nirgends das kreiſende Blut
des kosmiſchen Güterlebens im Vaterland mit unerbitterlicher Strenge
die Unterwerfung unter ſeine Souveränetät forderte, konnte es dem Geiſte
und der Energie eines Fürſten ſchon gelingen ſeinen urſprünglichen
Machtskreis ſelbſt um ein bedeutendes zu erweitern, und ſeinem gleichge-
arteten Erben die Fortſetzung ſeines Strebens zu überlaſſen. Die geiſti-
gen Hebel traten bei dem gänzlichen Schlafen der ökonomiſchen zu dieſer
Periode in ungebrochener Kraft in die Schranken, und die politiſche Con-
centration des im Proteſtantismus liegenden Weſens gab außerdem eine
nicht zu überſehende Oppoſitionsquelle gegen das katholiſche recht-
mäßige Oberhaupt des Reiches ab. Ich ſage: das rechtmäßige Ober-
haupt. Denn wenn in Berlin die „Herren von der Wilhelmsſtraße,“
die jener böſe Artikel der „deutſchen Zeitung“ über Radowitz vorigen
Winter unbarmherzig an das Licht zog, jetzt ſo gerne hinter das Jahr
1789 mit ihrem Staate zurückkehren möchten, ſo wird niemand dem Pu-
bliciſten ein noch weiteres Rückgreifen verargen, bis er dahin gelangt wo
das Ei des heutigen Preußenthums gelegt wurde.
In Ermangelung aller natürlichen, geographiſchen wie ökonomiſchen
Bedingungen gab es für Preußen nun keinen andern Weg um zu einem
Staatsorganismus zu gelangen als durch Militärdeſpotie in Verbindung
mit einem unbeſchränkten bureaukratiſchen Syſtem. Zu Wien, dem die
eine ganze Seite, die deutſche nämlich, allmählich abgeſtorben war, hatte
man ebenfalls keine andern Regierungsmittel; und wenn auch unſere Zeit
noch ſo ſehr durch die herüberragenden Nachwirkungen jener Epoche zu
leiden hat, ſo dürfen wir das doch keinen Augenblick verkennen daß unter
den gegebenen Verhältniſſen dieſes die einzige Art war auf welcher
Deutſchland vor dem Untergang gerettet werden konnte, der jedem reinen,
iſolirten Agriculturſtaat von Seiten ſeiner weiter entwickelten Nachbar-
völker unausbleiblich droht. Zwar hat uns die Napoleoniſche Eroberung
zu unwiderleglich die Erfahrung an die Hand gegeben daß ein unnatürlich
zuſammengefaßter Militärbeamtenſtaat, wenn ihm in ſeiner Spitze die
Kraft des Genies fehlt, mit einer einzigen Schlacht vernichtet werden
kann — und das ſollte man an der Spree nie vergeſſen! — während das
halbgelähmte Oeſterreich wegen der geſunderen Geſtaltung ſeiner andern
Hälfte trotz aller Verluſte ſtets noch Widerſtandsfähigkeit in ſich fand;
allein dieſe „mathematiſchen“ Gebäude gaben damals doch immer die erſte
Form ab in welche das geſunde Volksblut während der Freiheitskriege ſo
viel Leben hineinzugießen vermochte, um wenigſtens wieder eigener Herr
ſeines Grundes und Bodens zu werden.
Wir haben es in den frühern Briefen ſchon einmal ausgeſprochen daß
mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten das deutſche Bürgerthum
wieder aufzuwachen begann; unſere Nordſeeküſte vermochte erſt damals
mit Amerika in directe Verbindung zu treten. Ein zweiter Moment zu
ſeiner Kräftigung liegt dann in den großartigen Hebungsmitteln des öko-
nomiſchen Lebens, welche der franzöſiſche Kaiſer zur Durchführung ſeines
Kampfes gegen England auch in Deutſchland in Bewegung ſetzte; und
endlich mußte ſich dem Volk am meiſten das Bewußtſeyn ſeiner eigent-
lichen Stellung im Staate durch den Umſtand aufdrängen daß es haupt-
ſächlich Deutſchlands nationale Unabhängigkeit wieder errungen hatte.
Freilich war in den embryoniſchen Jahren der Neugeſtaltung unſers Bür-
gerthums dieſes Bewußtſeyn bloß noch traumartig ahnend, es trat faſt
nur, der kaum vollendeten litterariſchen Epoche ſich hingebend, in poeti-
ſchen Formen hervor; und deßwegen darf es uns nicht wundern daß die
litterariſche Romantik — nicht die natioalökonomiſche eines Adam
Müller — ſich in das agricole Mittelalter vertiefte, während ſie doch ei-
gentlich die „Freiheit“ des Bürgerthums, die politiſche Anerkennung des
beweglichen Eigenthums, miterkämpfen wollte. Die Ideen traten in
Widerſpruch mit den zu Grunde liegenden ökonomiſchen Motioren; war es
doch damals eigentlich nur das Herz der Jugend das den neuen Staat auf-
bauen wollte, nicht der Kopf des Mannes; und ſo blieb es für die deutſchen
Diplomaten, dieſe Vertreter der reinen vielköpfigen dynaſtiſchen In-
tereſſen, in Verbindung mit den Staatsmännern des Auslandes, eine
verhältnißmäßig leichte Aufgabe durch Ränke und Bajonnette den jungen
Geiſt des deutſchen Volks niederzuhalten.
Erſt mit der Gründung des Zollvereins trat das deutſche Bürger-
thum auf eine feſte politiſche Baſis. Es wußte das ſelbſt damals nicht,
wie es dieſe Wahrheit auch gegenwärtig noch nicht ganz überſchaut, und
ebenſo wenig wußten es die deutſchen Diplomaten. Ich habe es oft in
dieſen Blättern ausgeſprochen, der Zollverein war, wenn man ſeine Grün-
der dabei im Auge hat, abgeſehen von dem genialen Benzenberg, nichts
weniger als eine ſtaatsmänniſche Schöpfung! Die Note des
Hrn. v. Berſtett, am 15 Aug. in Karlsbad eingereicht, worin es heißt
daß man das Volk durch materielle Befriedigung von ſeinen „liebgewon-
nenen Ideen“ abziehen müſſe, laſſen darüber ebenſo wenig einen Zweifel
übrig als die gleichfalls oft citirten Denkſchriften unſers Bürgermeiſters
Johann Smidt, der „durch die an die Gränzen verlegten Einnahmsquellen
der Staaten den ſüddeutſchen Ständen das Steuerverweigerungsrecht para-
lyſtren“ wollte! Die Macht der Umſtände hat dieſe Handelseinigung her-
vorgerufen, die ökonomiſchen Verhältniſſe brachten ſich durch alle jämmer-
lichen Intriguen der Diplomatie in gerader Linie zur Geltung, obgleich
es dabei immerhin, der Anſicht des Hrn. v. Lerchenfeld gemäß, wahr blei-
ben kann daß Preußen nur darum ſich ſo ſchleunig mit dem Großherzog-
thum Heſſen verſtändigte um die Plane Bayerns zu durchkreuzen. Frei-
lich blieb der Zollverein ohne Nordſeeküſte, und bei ſeiner ächt polniſch
agricolen, eine allſeitige Zuſtimmung fordernden Organiſation immer nur
eine ganz kleine Abſchlagszahlung an das Bürgerthum; aber ſie genügte
dieſem, um ſich in unſerm ſo glücklich gelegenen productiven Lande wenig-
ſtens zu einer gewiſſen Selbſtändigkeit mühſam emporzuringen. Daß die
Entwickelung ſo langſam vor ſich ging, lag theils in dem völligen| Mangel auch
des kleinſten gemeinſamen politiſchen Anſatzpunktes; theils iſt der Grund
davon in den Beſchränkungen zu ſuchen denen ſich ſelbſt das öffentliche
Wort, die Preſſe, unterwerfen mußte. Die ſüddeutſchen Ständekammern
waren der einzige Ort wo die Wünſche des Bürgerthums wenigſtens theil-
weiſe laut werden und ſich abklären konnten, und ſo kam es daß Provin-
zialverfaſſungen, die bei den kleinen Verhältniſſen auf welchen ſie erbaut
waren, eigentlich nur ein ſcheincouſtitutionelles Leben zu entwickeln ver-
mochten, für den Gang unſerer Einigungsgeſchichte die hohe Bedeutung
erlangt haben. Trotz der wenigen und ſchwachen Hebel welche ſie aufzu-
wenden hatten, verſetzten ſie dennoch das geſammte Volk in eine auf einen
Punkt ſich richtende Maſſenbewegung; bei der durch ſie allmählich er-
kämpften größern Freiheit der Preſſe war es möglich die Geſammtintereſſen
der Nation in ökonomiſcher Beziehung wenigſtens von der Tribüne der
Journale herunter zu vertreten. Die Vorſchläge zu einer Erweiterung
des Zollvereins wurden von der ganzen Maſſe getragen, die ſüddeutſchen
Ständemitglieder ſetzten ſich mit einander in Verbindung, und die Nation
jauchzte als endlich die Forderung nach einer Vertretung des Volks beim
Bundestag fiel! Zwar war dieſes unaufyaltſame Vorwärtsſchreiten auch
nur noch ein Tappen nach einem geahneten, nicht klar geſchauten Ziele.
Bei der völligen Abtrennung in welcher das Metternich’ſche Syſtem
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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