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Allgemeine Zeitung, Nr. 345, 13. Dezember 1890.

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Samstag,
Zweites Morgenblatt, Nr. 345 der Allgemeinen Zeitung.
13. December 1890.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Uebersicht.
Deutscher Reichstag.
Handel und Volkswirthschaft.


Deutscher Reichstag.
Telegraphischer Privatbericht der Allg. Ztg.
40. Sitzung.

Die Sitzung wird Vormittags 11 Uhr
erössnet. Am Tische des Bundesraths: v. Caprivi, v. Boetticher,
v. Maltzahn
und Commissarien. Zur ersten Lesung des am
26. August d. J. zwischen dem Reiche und der Türkei ab-
geschlossenen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrts-
vertrags
erhält das Wort

Abg. Dr. Siemens (deutschfreis.):

Die Bedeutung des Ver-
trags ist nicht sowohl eine commercielle, als eine politische. Der
Vertrag, wenn man ihn genau ansieht, enthält keine gegenseitige,
sondern nur eine einseitige Bindung der Türkei im Tarif für Ein-
fuhrzölle, während eine Bindung Deutschlands in dem Vertrage
nicht Platz greift. Hinsichtlich der gegenseitigen Bindung durch
die Einräumung des Meistbegünstigungsrechts hat man sich auf
das Bersprechen einer gleichmäßigen Behandlung der Angehörigen beider
Nationen und ihrer Bewegungsfreiheit, sowie auf die Einräumung
des Meistbegünstigungsrechts hinsichtlich der Ausfuhrzölle beschränkt.
Was die türkischen Zölle und deren Höhe betrifft, so sind dieselben
abgestuft und man kann wohl sagen, daß für einzelne wesentliche
Erzeugnisse unsrer Industrie, z. B. für die Eisen- und die chemische
Industrie, eine erheblich bessere Situation eingetreten ist. Die
Türkei hatte früher 8 Procent des Werthes von der Einfuhr er-
hoben, jetzt sind die Sätze verschieden normirt, bei einem Theil
niedriger, für andere höher. Für Spiritus und Branntwein, der
bekanntlich den Mohammedanern verboten ist, tritt eine Erhöhung
bis zu 20 Procent ein. Hinsichtlich dieser Punkte sind Licht und
Schatten ziemlich gleichmäßig vertheilt, oder gleichen sich wenigstens
aus. Aber die Bedeutung des Vertrages liegt auf anderem Ge-
biet. Die türkische Regierung hat sich in den letzten Jahren in
einer ziemlich abnormen Lage befunden. Die Entwicklung des
inneren Steuersystems durch directe Steuern war in Folge der
mangelhaften Organisation ihrer Bureaukratie eine krankhafte und
das Land war für die Erhebung und Aufbringung der Mittel zu
seiner Verwaltung im wesentlichen auf die Zölle angewiesen.
Die Abstufung der Zölle war wieder eine solche, daß sie nicht ge-
nügende Erträge brachte und andrerseits doch den Ruin einer
alten großen und berühmten Industrie, der Wirk- und Webe-
industrie, im großen und ganzen hervorgerufen hat. Die Folge
war, daß man sich bestrebte, durch locale Durchgangsabgaben
diesem Zustand abzuhelfen, und dadurch eine ungeheure Unsicherheit
in den Handelsverkehr mit der Türkei hineinbrachte. Es ist ein
großer Vorzug dieses Vertrages, daß man dieses System der localen
Durchgangsabgaben vernichtet oder wenigstens durchbrochen hat.
Zu gleicher Zeit aber macht man der Türkei das Zugeständniß,
daß sie die Vorbereitungen für die Einführung mehrerer Monopole,
des Zündhölzer-, des Cigarettenpapier- und des Petroleum-
Monopols u. dgl., treffen kann. Denn die Möglichkeit einer
Steuererhöhung in diesem verhältnißmäßig wenig bureaukratisch
organisirten Lande liegt in der Einführung und Verwerthung
der Monopole. Der Vertrag erhöht also die finanzielle Leistungs-
fähigkeit der Türkei und damit ihre politische Kraft.
Meine Herren! Das Deutsche Reich ist der erste unter den west-
lichen Staaten, der jetzt, nachdem das System der bisherigen türki-
schen Handelsverträge seinem Ende entgegengeht, den neuen Weg
eingeschlagen hat, und es wird sich dadurch ohne Zweifel starke
Sympathien im Orient gewinnen, auf die ich noch einen besonderen
commerciellen Werth lege, weil sie uns auf commerciellem Gebiet
erheblich zu statten kommen werden. Seit einigen Jahren hat das
deutsche Capital begonnen, sich in einer mehr organisirten Form
nach dem Orient zu begeben: durch den Bau von Gasanstalten,
Eisenbahnen u. dgl. beginnt es die dortigen Gebiete zu erschließen.
Früher ging es nach dem Auslande mehr in einer dienenden Form.
Es war bei uns Gewohnheit, daß wir uns bei englischen und
französischen Unternehmungen betheiligten, alle ihre Risiken mit-
trugen, aber ihre Führung den fremden Nationen überließen und
damit auch der fremdländischen Industrie die Einheimsung aller
mit solchen Unternehmungen verbundenen Vortheile gestatteten und
sogar mit unserm Gelde zuführten. Das Resultat der neuen Con-
structionen, die in den letzten Jahren der Arbeitsart des deutschen
Capitals gegeben sind, hat eine verhältnißmäßig sehr starke Be-
schästigung unsrer Industrie in der Gegenwart zur Folge gehabt.
Ferner ist von politischer Bedeutung Art. 22 des Vertrages, durch
den zu gleicher Zeit eine Parallelisirung des Vasallen-Fürstenthums
Bulgarien und Aegyptens und mithin die Möglichkeit eines Ab-
schlusses directer Handelsverträge mit Bulgarien vorbereitet wird.
Meine Herren! Das Deutsche Reich, die deutsche Nation hat im
Orient nichts zu erobern und nichts zu wünschen. Wir haben nur
ein Interesse an der Stabilisirung der dortigen Verhältnisse, und
ich begrüße es mit Freuden, daß wir diesen gerade dazu dienenden
Schritt gethan haben. Ich möchte nur den Wunsch aussprechen,
daß die anderen westlichen Nationen uns auf diesem Gebiet folgen
möchten. Ich empfehle daher die Annahme des Vertrages und
wünsche unsrer Diplomatie zu der Art, wie sie sich dieser Frage
gegenüber gestellt hat, meinerseits geradezu Glück. (Beifall links.)

Da eine commissarische Berathung des Vertrages von keiner
Seite beantragt wird, tritt das Haus sofort in die zweite ein
und genehmigt den Vertrag in allen seinen Theilen.

Es folgt die erste Berathung des Gesetzentwurfes, betr. die
Besteuerung des Zuckers.

Schatzsecretär v. Maltzahn:

Dem Gesetzentwurf ist eine ein-
gehende Begründung beigegeben; der Gegenstand ist aber ein so
wichtiger und die geplante Maßregel eine so einschneidende, daß
ich mich doch verpflichtet halte, Ihnen die Haupterwägungen vorzu-
führen, welche die verbündeten Regierungen zu dem Entschluß be-
stimmt haben, Ihnen ein Gesetz vorzulegen, welches das bisherige
System der Zuckersteuer von Grund aus umgestalten will. Wird
dieser Entwurf Gesetz, so wird in Deutschland die Material-
besteuerung als ursprünglich alleinige, später theilweise Grund-
lage der Zuckerbesteuerung fortfallen. Unter der Herrschaft des
bisherigen Steuersystems hat die deutsche Zuckerproduction
es verstanden, den inländischen Markt sich ausschließlich
zu sichern und auf dem Weltmarkte den ersten Platz zu erringen.
Sie hat dadurch große Capitalien ins Land hereingebracht, den
Wohlstand in den verschiedenen Gegenden unsres Landes geweckt
und gehoben, und sie hat diesen Nutzen nicht etwa einem kleinen
Kreise von Industriellen gewährt, sondern auch der Landwirthschaft
in den betheiligten Gegenden den allergrößten Vortheil gebracht.
Dieses Ziel ist erreicht nicht durch die Besteuerungsform allein,
sondern in erster Linie durch den andauernden Fleiß von Gene-
rationen von Landwirthen und Technikern, durch äußerste Anspan-
nung des Nachdenkens geistig bedeutender Menschen. Es ist da-
durch erreicht, daß die deutsche Rübe eine solche Vollkommenheit
erlangt hat, daß sie mit Recht in einer der letzten Eingaben an
[Spaltenumbruch] uns und den Reichstag von Seite der sachverständigsten Leute der
Magdeburger Zuckerinteressenten jetzt ihrem Zuckergehalt nach als
dem Rohr ebenbürtig an die Seite gestellt werden konnte. Durch
den Anbau der Zuckerrübe ist zugleich der gesammte Er-
trag der Güter gesördert worden. Es ist ferner die
Technik der Entzuckerung auf das bisher überhaupt er-
reichte höchste Maß der Vollkommenheit gebracht worden.
In der Besteuerung des Rohmaterials lag der Antrieb, ein möglichst
vollkommenes Rohmaterial zu erzielen und daraus mit den denkbar
geringsten Kosten den höchsten Procentsatz an Zucker zu gewinnen.
In den ersten Jahren der deutschen Zuckerindustrie gewann sie Vor-
theile dadurch, daß sie aus einem möglichst geringen Quantum be-
steuerten Nohmaterials möglichst viel Zucker für den inländischen
Absatz gewann, in den späteren dadurch, daß, nachdem man dazu
gekommen war, für den exportirten Zucker die Rübensteuer zurück-
zuerstatten, in der Form, daß man pro Centner ein gewisses
Quantum von Steuer zurückzahlte, das Trachten der Industrie --
von ihrem Standpunkte vollkommen mit Recht -- dahin ging, die
Zuckerproduction für den Morgen angebauter und zur Verarbeitung
gelangender Rüben noch zu steigern, um auf diese Weise in der
Exportvergütung nicht nur die wirklich bezahlte Zuckersteuer er-
stattet zu erhalten, sondern darüber hinaus noch eine Bonification.
Ein solches System zu verlassen, ist nur gerechtfertigt,
wenn ganz überwiegende Gründe dafür sprechen. Solche zwingende
Gründe liegen im gegenwärtigen Moment nach der Ansicht der
verbündeten Regierungen in der That vor. Die Begünstigung,
welche zur Zeit die deutsche Zuckerproduction genießt, trägt einen
völlig singulären Charakter innerhalb der deutschen Gesetzgebung.
Es handelt sich nicht wie bei den Schutzzöllen darum, einem
Productionszweige die ausschließliche Beherrschung des inländischen
Marktes zu ermöglichen. Diese Beherrschung würde ja auch nach
Annahme des neuen Entwurfs völlig gesichert bleiben; denn
der neue Entwurf enthält einen starken Schutzzoll, welcher
verhindern soll, daß die ausländische Industrie etwa mit
ihren Producten auf den inländischen Markt kommen könnte.
Es handelt sich auch nicht darum, der deutschen Zuckerproduction
die lastenfreie Fabrication für den Auslandsmarkt zu sichern, denn
auch dieser bleibt ihr nach dem neuen Gesetz vollkommen gesichert.
Der Zucker, den die deutsche Industrie für das Ausland producirt,
wird hier mit keiner Mark Zoll belegt, es handelt sich nur darum,
den thatsächlich eingetretenen Zustand zu beseitigen, daß jetzt für
jeden exportirten Zucker der deutschen Zuckerproduction ein directer
Zuschuß aus den allgemeinen Mitteln des Reiches, welche durch
Steuern auskommen, gewährt werden muß, und daß in Folge
davon die Zuckerproduction im Stande ist, auf dem Inlandsmarkte
den Confumenten einen Preis zu machen, in dem ebenfalls der
Industrie ein entsprechender Vortheil zufließt, so daß der in-
ländische Consument zur Zeit thatsächlich durch unser Zuckerstener-
system ebenso hoch belastet ist, wie er es bei Annahme des neuen
Gesetzes sein würde, nur mit dem Unterschied, daß bei diesem Gesetz
die gesammte Steuerbelastung der inländischen Consumenten der Reichs-
casse und damit den übrigen Steuerzahlern zu gute käme, während jetzt
ein erheblicher Theil der Steuerbelastung den Producenten zufließt.
Derartige finguläre Begünstigungen haben, mögen sie absichtlich
eingeführt sein oder, wie es hier der Fall ist, sich thatsächlich ent-
wickelt haben, in sich selber den Keim des Todes. Es ist undenk-
bar, daß ein derartiges System in alle Ewigkeit aufrechterhalten
wird; man wird es nur so lange aufrechterhalten, als es für die
betreffenden Kreise nothwendig ist. Man wird es aber auch, wenn
es aufgehört hat, nothwendig zu sein, besteben lassen dürfen, so-
lange es noch fortdauernd nützlich wirkt und folange nicht über-
wiegende Gründe, hergenommen aus den Interessen der übrigen
Angehörigen des betreffenden Landes oder Reiches, es er-
fordern, dem System ein Ende zu machen. Tritt aber aus
solchen Rücksichten die Nothwendigkeit ein, in absehbarer Zeit ein
solches System zu beendigen, so ist es Pflicht einer fürsorgenden
Regierung, die Maßregel in einem solchen Augenblick in Vorschlag
zu bringen, wo der Uebergang in die neuen Verhältnisse mit mög-
lichst geringer Schädigung der vorhandenen oder noch entstehenden
Interessen durchgeführt werden kann. Nun sind die verbündeten
Regierungen der Meinung, daß die Nothwendigkeit der Fortdauer des
bisherigen Systems nicht mehr besteht, daß das System aufgehört
hat oder wenigstens leicht aufhören kann, nützlich zu wirken.
Dazu kommt, daß die überwiegende Mehrheit der deutschen Reichs-
angehörigen und Steuerzahler die Aufhebung des Systems fordert.
Der augenblickliche Moment ist verhältnißmäßig der günstigste, um
mit einer solchen Maßregel vorzugehen. Die Befürchtung, daß
nach Annahme dieses Gesetzes die Zuckerindustrie im Auslande
nicht mehr concurrenzfähig sein würde, theile ich nicht. Der Ge-
setzentwurf enthält selber Bestimmungen, welche die Production für
den Export auch in Zukunst für uns zu sichern bestimmt sind.
Streitiger ist, ob wir bei dem Zeitpunkt angekommen sind, wo es
fraglich ist, ob das jetzige System noch nützlich sei. Ich persönlich
bin in Bezug auf diese Seite der Frage vor Jahr und Tag noch
nicht so sicher in meiner Ueberzeugung gewesen, wie ich es heute
bin. Je mehr ich mich mit der Sache beschäftigt habe, desto fester
bin ich davon durchdrungen worden, daß dieses System verlassen werden
kann. Die Zuckerindustrie war ursprünglich gedacht -- und war
es auch ursprünglich -- als ein landwirthschaftliches Gewerbe.
Sie hat sich in neuerer Zeit mehr und mehr entwickelt zu einer
industriellen großen Exportfabrication, so daß man bei einer Reihe
von neuen Zuckerfabriken eher sagen könnte, die Landwirthschaft
sei das Nebengewerbe. Die Landwirthschaft hat an dem Gedeihen
der Zuckerindustrie, abgesehen davon, daß den Landwirthen die-
jenigen Antheile zufließen, welche ihnen als Actienbesitzern zu-
kommen, das Interesse, ein möglichst großes Quantum ihres Areals
unter die Rübencultur zu bringen und dadurch dessen Culturzustand
zu erhöhen. Es ist für die Landwirthschaft nicht gleichgültig, ob
sie einen Doppelcentner Zucker aus fünf oder zehn Doppelcentner
Rüben gewinnt; im Gegentheil, die Landwirthschaft hätte eher
ein Interesse, daß sie zehn Doppelcentner Rüben dazu an-
bauen müßte. Es liegt nicht im Interesse der Landwirth-
schaft, wenn seitens der Zuckerfabriken mehr und mehr auf
eine Verfeinerung der Rübe gedrängt und die Vilmorin-Rübe an
die Stelle der Wanzleben-Rübe gesetzt wird. Die Landwirthe
haben sich der Einführung der Vilmorin-Rübe widersetzt.
Die meisten Zuckerfabriken stellen selbstverständlich den Landwirthen
die Bedingung, daß sie ihren Rübensamen von der Fabrik nehmen,
und wenn die Landwirthe sagen: wir wollen Wanzlebener bauen,
so sagt man ihnen: wir geben Ihnen auch keinen Vilmorin, son-
dern Wanzlebener Samen. Aber gleichzeitig wurde der Wanz-
lebener Samen von der Firma Gebr. Dippe in Quedlinburg und
Anderen von Jahr zu Jahr in Bezug auf den Zuckergehalt ver-
bessert. Für die Landwirthe ist es auch kein Vortheil, wenn die
Fabriken riesengroß sind. Für die Landwirthschaft sind die besten
Fabriken diejenigen, bei denen sie einen Haupteinfluß hat, also die
kleinen Fabriken und nicht die großen, welche selbst die Führung
übernehmen und sich die Landwirthschaft nur angliedern. Unser
jetziges System führt nothwendig dazu, die Fabriken so groß wie
möglich zu bauen, denn natürlich ist die Herausnahme der letzten
Procente Zucker das Theuerste. Das Streben geht also dahin, die Fabrik
[Spaltenumbruch] auf möglichst großen Betrieb einzurichten, um durch Verminderung
der Generalkosten eine vollständige Zuckergewinnung zu ermöglichen.
In dem jetzigen Zeitpunkte ist die weitere Aufrechterhaltung des
bestehenden Systems für unsre Zuckerindustrie nicht mehr nützlich,
vielleicht sogar schädlich. In der Zuckerproduction für den Welt-
markt bahnt sich eine Ueberproduction an, noch gesteigert durch
jede neu entstehende Fabrik. In Deutschland haben wir etwa
400 Zuckerfabriken. Seit 1889/90 sind 11 neue Fabriken er-
öffnet, und so viel ich weiß, sind 7 neue Fabriken im Bau oder
geplant. Rechne ich nur mit 15 neuen Fabriken, so würden diese,
da die Durchschnittsproduction einer Fabrik 30,000 Doppelcentner
beträgt, eine Vermehrung der Zuckerproduction um 450,000 Doppel-
centner repräsentiren bei einer Gesammtproduction von 12 Mill.
Doppelcentner in Deutschland. Zwei Drittel davon gehen in
das Ausland; es erschwert also die vermehrte Production den
Absatz auf dem Weltmarkte. Nach dem Zuckerconsum in Deutsch-
land würden die neuen Fabriken zur Consumirung ihrer Pro-
duction 41/2 Millionen neue Zuckerconsumenten gewinnen müssen.
Eine derartige Vermehrung der Production ist nicht allein in
Deutschland im Gange, sondern in allen an der Zuckerproduction
betheiligten Ländern und steht ferner zu erwarten in solchen
Ländern, die, wie Nordamerika, weite Gegenden haben, die zur
Cultur der Rüben geeignet, aber noch nicht mit Rüben bestellt
sind. Auch in den Zuckerrohrländern und den Sorghumländern
macht sich das Bestreben geltend, das Rohmaterial zu verbessern.
Nun könnte man sagen: was will die Concurrenz der Rohrzucker-
länder bedeuten? Heute steht die Sache anders. Wer gründet
in den Concurrenzländern die Fabriken? Deutsches Capital,
deutsche Techniker, deutsche Maschinen kommen unsern Concurrenz-
ländern zu gute. Ich freue mich zwar, daß die deutsche Arbeit
im Auslande sich einen Platz erwirbt, aber dieser Entwicklung
gegenüber muß man befürchten, daß mit der Production die Con-
sumenten nicht mehr Schritt halten können. Dazu droht unser
Absatzmarkt sich in absehbarer Zeit zu verringern; Amerika schließt
sich ab. Vermehrte Production und geringerer Absatz -- ist da
nicht eine Gefahr, daß eine Krisis eintritt? Ist es da noch ge-
boten, die stärkere Entwicklung der deutschen Zuckerproduction durch
Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln zu fördern? Dazu kommt
noch, daß die Steigerung unsrer Reichsausgaben bereits jetzt
einen solchen Umfang angenommen hat, daß den Einzelstaaten von den
Reichseinnahmen für ihre Zwecke herzlich wenig übrig bleibt,
weniger vielfach, als die Summen betragen, welche die Einzel-
staaten im Hinblick auf die zu erwartenden Einnahmen aus dem
Reiche für Landeszwecke festgelegt haben. Wir können auch nicht
auf eine Verminderung unsres Ausgabedürfnisses rechnen, wohl
aber noch auf eine Steigerung. Wenn nun noch eine neue Aus-
gabe hinzutritt, wie die Alters- und Invaliditätsversicherung, welche
an die Reichscasse Anforderungen stellen wird, die wir zwar in
Bezug auf ihre Höhe und den Zeitpunkt ihres Eintretens nicht be-
rechnen können, so fordert die effective Uebernahme einer solchen
neuen Ausgabe auch die Sicherstellung der dafür nöthigen
Mittel durch Schaffung neuer Einnahmen oder wenigstens da-
durch, daß man dafür sorgt, daß die Steuerbelastung, welche
jetzt den Deutschen trifft, wirklich der Reichscasse zufließt.
Diese Erwägungen überzeugten die Regierung, daß man das System
der Materialsteuer verlassen muß. Der gegenwärtige Moment ist
dazu verhältnißmäßig günstig. Von einer Seite des Hauses wird
seit Jahren darauf gedrängt, mit dem jetzigen System zu brechen.
Ich bin persönlich wiederholt interpellirt worden, ob wir die
Materialsteuer nicht verlassen werden. Dazu haben sich die ver-
bündeten Regierungen stets ablehnend verhalten, weil wir bisher
hoffen konnten, auf Grund der Londoner Convention unsre Con-
currenzländer dazu zu bringen, mit uns gleichzeitig ihre Prämien
aufzuheben, wenn wir damit vorgingen. Die Ratificationsfrist der
Londoner Convention lief bis zum 1. August d. J. Mit Rücksicht
darauf lehnte ich noch in der vorigen Session eine positive Erklä-
rung darüber ab, was wir thun würden, wenn die Convention
nicht zu Stande kommen sollte. Wir glauben allerdings,
daß, wenn Deutschland diesen Schritt thut, die anderen an
der Zuckerproduction betheiligten Staaten demselben folgen
werden in wohlverstandenem eigenen Interesse, und wir geben, da
wir Ihnen vorschlagen, für die Uebergangszeit feste Zuschüsse bei
dem Export von Zucker zu gewähren, die Mittel noch nicht aus der
Hand, auf die Beschlüsse der betheiligten anderen Staaten unsrer-
seits zu wirken. Wir behalten gleichsam durch die festen Prämien
unsern Nachbarstaaten gegenüber den Stock in der Hand. In
einigen Jahren würde uns das Geldbedürfniß der Reichscasse vor-
aussichtlich doch zu dieser Maßregel zwingen, und dann würde
gegenüber der vermehrten Weltproduction an Zucker und der Be-
schränkung des Absatzgebietes unsre Zuckerindustrie sich in viel
schwierigerer Lage befinden als heute. Würden wir die Maßregel
erst nach drei Jahren einsühren, so hätten wir 20--25 neue
Fabriken mehr, die alle noch in den Kinderschuhen stäken und durch
Fortfall der bisherigen Steuervergünstigung viel härter getroffen
würden, als die bereits bestehenden Fabriken. Außerdem ist es
jetzt möglich, den Uebergang milde und allmählich zu gestalten, weil
das zwingende Geldbedürfniß erst in einigen Jahren eintreten
wird. Gehen wir erst vor, wenn das Geldbedürfniß wirklich dringend
und unauffchiebbar ist, so kann man den betheiligten Kreisen der-
artige Uebergangserleichterungen nicht gewähren. Deßhalb legen
die verbündeten Regierungen gegenwärtig den Gesetzentwurf vor.
Die vorgeschlagenen festen Prämien für die Uebergangszeit werden
nun von einem Theil der Zuckerindustriellen damit bekämpft, daß
dadurch die Steuervortheile, welche bisher nur diejenigen Gegenden
voll genossen, welche besonders zuckerreiche Rüben bauen, auch
denen zufließen würden, welche minder zuckerreiche Rüben
bauen. Das ist kein durchschlagendes Moment, denn wenn wir
überhaupt Steuervortheile gewähren, so ist es billig, sie
auch allen betheiligten Gegenden zuzuwenden. Für die Zukunft
ist ferner eine Besteuerung des Stärkezuckers vorbehalten,
der unsrer Zuckerindustrie eine gewisse Concurrenz macht.
Die Stärkeindustrie arbeitet ohne Besteuerung. Dieses Verhältniß
kann man aufrecht erhalten, so lange die Zuckerindustrie aus dem
bestehenden System wesentliche Steuervortheile genießt; fallen diese
fort, so ist es eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit, daß
man auch das Concurrenzproduct, den Stärkezucker, zur Steuer
beranzieht. Da aber dieser Augenblick erst für das Etatsjahr
1896/97 eintritt, so ist es noch nicht nothwendig, diesen Gedanken
schon jetzt im Einzelnen auszugestalten. Wir wollen die Ent-
scheidung über die Form und Höhe der Besteuerung des Stärke-
zuckers und des Saccharins vertagen, bis die jetzige Steuer-
begünstigung der Zuckerindustrie definitiv fortfällt. Wie auch der
Reichstag entscheiden wird: die verbündeten Regierungen haben der
bei dem Zuckerbau betheiligten Industrie gegenüber ein reines Ge-
wissen, wenn sie dieses Gesetz vorlegen und volle Klarheit schaffen
über das, was sie anstreben. Ich bitte das hohe Haus, dem
Gesetze zuzustimmen im Interesse sowohl einer Gesundung unser
Reichsfinanzen, als auch im Interesse der betheiligten Kreise selbst.
(Beifall.)

Abg. Dr. Witte (dfrs.) spricht seine Freude darüber aus, daß
vom Bundesrathstische jetzt dieselben Argumente vorgebracht werden,

Samſtag,
Zweites Morgenblatt, Nr. 345 der Allgemeinen Zeitung.
13. December 1890.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Ueberſicht.
Deutſcher Reichstag.
Handel und Volkswirthſchaft.


Deutſcher Reichstag.
Telegraphiſcher Privatbericht der Allg. Ztg.
40. Sitzung.

Die Sitzung wird Vormittags 11 Uhr
eröſſnet. Am Tiſche des Bundesraths: v. Caprivi, v. Boetticher,
v. Maltzahn
und Commiſſarien. Zur erſten Leſung des am
26. Auguſt d. J. zwiſchen dem Reiche und der Türkei ab-
geſchloſſenen Freundſchafts-, Handels- und Schifffahrts-
vertrags
erhält das Wort

Abg. Dr. Siemens (deutſchfreiſ.):

Die Bedeutung des Ver-
trags iſt nicht ſowohl eine commercielle, als eine politiſche. Der
Vertrag, wenn man ihn genau anſieht, enthält keine gegenſeitige,
ſondern nur eine einſeitige Bindung der Türkei im Tarif für Ein-
fuhrzölle, während eine Bindung Deutſchlands in dem Vertrage
nicht Platz greift. Hinſichtlich der gegenſeitigen Bindung durch
die Einräumung des Meiſtbegünſtigungsrechts hat man ſich auf
das Berſprechen einer gleichmäßigen Behandlung der Angehörigen beider
Nationen und ihrer Bewegungsfreiheit, ſowie auf die Einräumung
des Meiſtbegünſtigungsrechts hinſichtlich der Ausfuhrzölle beſchränkt.
Was die türkiſchen Zölle und deren Höhe betrifft, ſo ſind dieſelben
abgeſtuft und man kann wohl ſagen, daß für einzelne weſentliche
Erzeugniſſe unſrer Induſtrie, z. B. für die Eiſen- und die chemiſche
Induſtrie, eine erheblich beſſere Situation eingetreten iſt. Die
Türkei hatte früher 8 Procent des Werthes von der Einfuhr er-
hoben, jetzt ſind die Sätze verſchieden normirt, bei einem Theil
niedriger, für andere höher. Für Spiritus und Branntwein, der
bekanntlich den Mohammedanern verboten iſt, tritt eine Erhöhung
bis zu 20 Procent ein. Hinſichtlich dieſer Punkte ſind Licht und
Schatten ziemlich gleichmäßig vertheilt, oder gleichen ſich wenigſtens
aus. Aber die Bedeutung des Vertrages liegt auf anderem Ge-
biet. Die türkiſche Regierung hat ſich in den letzten Jahren in
einer ziemlich abnormen Lage befunden. Die Entwicklung des
inneren Steuerſyſtems durch directe Steuern war in Folge der
mangelhaften Organiſation ihrer Bureaukratie eine krankhafte und
das Land war für die Erhebung und Aufbringung der Mittel zu
ſeiner Verwaltung im weſentlichen auf die Zölle angewieſen.
Die Abſtufung der Zölle war wieder eine ſolche, daß ſie nicht ge-
nügende Erträge brachte und andrerſeits doch den Ruin einer
alten großen und berühmten Induſtrie, der Wirk- und Webe-
induſtrie, im großen und ganzen hervorgerufen hat. Die Folge
war, daß man ſich beſtrebte, durch locale Durchgangsabgaben
dieſem Zuſtand abzuhelfen, und dadurch eine ungeheure Unſicherheit
in den Handelsverkehr mit der Türkei hineinbrachte. Es iſt ein
großer Vorzug dieſes Vertrages, daß man dieſes Syſtem der localen
Durchgangsabgaben vernichtet oder wenigſtens durchbrochen hat.
Zu gleicher Zeit aber macht man der Türkei das Zugeſtändniß,
daß ſie die Vorbereitungen für die Einführung mehrerer Monopole,
des Zündhölzer-, des Cigarettenpapier- und des Petroleum-
Monopols u. dgl., treffen kann. Denn die Möglichkeit einer
Steuererhöhung in dieſem verhältnißmäßig wenig bureaukratiſch
organiſirten Lande liegt in der Einführung und Verwerthung
der Monopole. Der Vertrag erhöht alſo die finanzielle Leiſtungs-
fähigkeit der Türkei und damit ihre politiſche Kraft.
Meine Herren! Das Deutſche Reich iſt der erſte unter den weſt-
lichen Staaten, der jetzt, nachdem das Syſtem der bisherigen türki-
ſchen Handelsverträge ſeinem Ende entgegengeht, den neuen Weg
eingeſchlagen hat, und es wird ſich dadurch ohne Zweifel ſtarke
Sympathien im Orient gewinnen, auf die ich noch einen beſonderen
commerciellen Werth lege, weil ſie uns auf commerciellem Gebiet
erheblich zu ſtatten kommen werden. Seit einigen Jahren hat das
deutſche Capital begonnen, ſich in einer mehr organiſirten Form
nach dem Orient zu begeben: durch den Bau von Gasanſtalten,
Eiſenbahnen u. dgl. beginnt es die dortigen Gebiete zu erſchließen.
Früher ging es nach dem Auslande mehr in einer dienenden Form.
Es war bei uns Gewohnheit, daß wir uns bei engliſchen und
franzöſiſchen Unternehmungen betheiligten, alle ihre Riſiken mit-
trugen, aber ihre Führung den fremden Nationen überließen und
damit auch der fremdländiſchen Induſtrie die Einheimſung aller
mit ſolchen Unternehmungen verbundenen Vortheile geſtatteten und
ſogar mit unſerm Gelde zuführten. Das Reſultat der neuen Con-
ſtructionen, die in den letzten Jahren der Arbeitsart des deutſchen
Capitals gegeben ſind, hat eine verhältnißmäßig ſehr ſtarke Be-
ſchäſtigung unſrer Induſtrie in der Gegenwart zur Folge gehabt.
Ferner iſt von politiſcher Bedeutung Art. 22 des Vertrages, durch
den zu gleicher Zeit eine Paralleliſirung des Vaſallen-Fürſtenthums
Bulgarien und Aegyptens und mithin die Möglichkeit eines Ab-
ſchluſſes directer Handelsverträge mit Bulgarien vorbereitet wird.
Meine Herren! Das Deutſche Reich, die deutſche Nation hat im
Orient nichts zu erobern und nichts zu wünſchen. Wir haben nur
ein Intereſſe an der Stabiliſirung der dortigen Verhältniſſe, und
ich begrüße es mit Freuden, daß wir dieſen gerade dazu dienenden
Schritt gethan haben. Ich möchte nur den Wunſch ausſprechen,
daß die anderen weſtlichen Nationen uns auf dieſem Gebiet folgen
möchten. Ich empfehle daher die Annahme des Vertrages und
wünſche unſrer Diplomatie zu der Art, wie ſie ſich dieſer Frage
gegenüber geſtellt hat, meinerſeits geradezu Glück. (Beifall links.)

Da eine commiſſariſche Berathung des Vertrages von keiner
Seite beantragt wird, tritt das Haus ſofort in die zweite ein
und genehmigt den Vertrag in allen ſeinen Theilen.

Es folgt die erſte Berathung des Geſetzentwurfes, betr. die
Beſteuerung des Zuckers.

Schatzſecretär v. Maltzahn:

Dem Geſetzentwurf iſt eine ein-
gehende Begründung beigegeben; der Gegenſtand iſt aber ein ſo
wichtiger und die geplante Maßregel eine ſo einſchneidende, daß
ich mich doch verpflichtet halte, Ihnen die Haupterwägungen vorzu-
führen, welche die verbündeten Regierungen zu dem Entſchluß be-
ſtimmt haben, Ihnen ein Geſetz vorzulegen, welches das bisherige
Syſtem der Zuckerſteuer von Grund aus umgeſtalten will. Wird
dieſer Entwurf Geſetz, ſo wird in Deutſchland die Material-
beſteuerung als urſprünglich alleinige, ſpäter theilweiſe Grund-
lage der Zuckerbeſteuerung fortfallen. Unter der Herrſchaft des
bisherigen Steuerſyſtems hat die deutſche Zuckerproduction
es verſtanden, den inländiſchen Markt ſich ausſchließlich
zu ſichern und auf dem Weltmarkte den erſten Platz zu erringen.
Sie hat dadurch große Capitalien ins Land hereingebracht, den
Wohlſtand in den verſchiedenen Gegenden unſres Landes geweckt
und gehoben, und ſie hat dieſen Nutzen nicht etwa einem kleinen
Kreiſe von Induſtriellen gewährt, ſondern auch der Landwirthſchaft
in den betheiligten Gegenden den allergrößten Vortheil gebracht.
Dieſes Ziel iſt erreicht nicht durch die Beſteuerungsform allein,
ſondern in erſter Linie durch den andauernden Fleiß von Gene-
rationen von Landwirthen und Technikern, durch äußerſte Anſpan-
nung des Nachdenkens geiſtig bedeutender Menſchen. Es iſt da-
durch erreicht, daß die deutſche Rübe eine ſolche Vollkommenheit
erlangt hat, daß ſie mit Recht in einer der letzten Eingaben an
[Spaltenumbruch] uns und den Reichstag von Seite der ſachverſtändigſten Leute der
Magdeburger Zuckerintereſſenten jetzt ihrem Zuckergehalt nach als
dem Rohr ebenbürtig an die Seite geſtellt werden konnte. Durch
den Anbau der Zuckerrübe iſt zugleich der geſammte Er-
trag der Güter geſördert worden. Es iſt ferner die
Technik der Entzuckerung auf das bisher überhaupt er-
reichte höchſte Maß der Vollkommenheit gebracht worden.
In der Beſteuerung des Rohmaterials lag der Antrieb, ein möglichſt
vollkommenes Rohmaterial zu erzielen und daraus mit den denkbar
geringſten Koſten den höchſten Procentſatz an Zucker zu gewinnen.
In den erſten Jahren der deutſchen Zuckerinduſtrie gewann ſie Vor-
theile dadurch, daß ſie aus einem möglichſt geringen Quantum be-
ſteuerten Nohmaterials möglichſt viel Zucker für den inländiſchen
Abſatz gewann, in den ſpäteren dadurch, daß, nachdem man dazu
gekommen war, für den exportirten Zucker die Rübenſteuer zurück-
zuerſtatten, in der Form, daß man pro Centner ein gewiſſes
Quantum von Steuer zurückzahlte, das Trachten der Induſtrie —
von ihrem Standpunkte vollkommen mit Recht — dahin ging, die
Zuckerproduction für den Morgen angebauter und zur Verarbeitung
gelangender Rüben noch zu ſteigern, um auf dieſe Weiſe in der
Exportvergütung nicht nur die wirklich bezahlte Zuckerſteuer er-
ſtattet zu erhalten, ſondern darüber hinaus noch eine Bonification.
Ein ſolches Syſtem zu verlaſſen, iſt nur gerechtfertigt,
wenn ganz überwiegende Gründe dafür ſprechen. Solche zwingende
Gründe liegen im gegenwärtigen Moment nach der Anſicht der
verbündeten Regierungen in der That vor. Die Begünſtigung,
welche zur Zeit die deutſche Zuckerproduction genießt, trägt einen
völlig ſingulären Charakter innerhalb der deutſchen Geſetzgebung.
Es handelt ſich nicht wie bei den Schutzzöllen darum, einem
Productionszweige die ausſchließliche Beherrſchung des inländiſchen
Marktes zu ermöglichen. Dieſe Beherrſchung würde ja auch nach
Annahme des neuen Entwurfs völlig geſichert bleiben; denn
der neue Entwurf enthält einen ſtarken Schutzzoll, welcher
verhindern ſoll, daß die ausländiſche Induſtrie etwa mit
ihren Producten auf den inländiſchen Markt kommen könnte.
Es handelt ſich auch nicht darum, der deutſchen Zuckerproduction
die laſtenfreie Fabrication für den Auslandsmarkt zu ſichern, denn
auch dieſer bleibt ihr nach dem neuen Geſetz vollkommen geſichert.
Der Zucker, den die deutſche Induſtrie für das Ausland producirt,
wird hier mit keiner Mark Zoll belegt, es handelt ſich nur darum,
den thatſächlich eingetretenen Zuſtand zu beſeitigen, daß jetzt für
jeden exportirten Zucker der deutſchen Zuckerproduction ein directer
Zuſchuß aus den allgemeinen Mitteln des Reiches, welche durch
Steuern auſkommen, gewährt werden muß, und daß in Folge
davon die Zuckerproduction im Stande iſt, auf dem Inlandsmarkte
den Confumenten einen Preis zu machen, in dem ebenfalls der
Induſtrie ein entſprechender Vortheil zufließt, ſo daß der in-
ländiſche Conſument zur Zeit thatſächlich durch unſer Zuckerſtener-
ſyſtem ebenſo hoch belaſtet iſt, wie er es bei Annahme des neuen
Geſetzes ſein würde, nur mit dem Unterſchied, daß bei dieſem Geſetz
die geſammte Steuerbelaſtung der inländiſchen Conſumenten der Reichs-
caſſe und damit den übrigen Steuerzahlern zu gute käme, während jetzt
ein erheblicher Theil der Steuerbelaſtung den Producenten zufließt.
Derartige finguläre Begünſtigungen haben, mögen ſie abſichtlich
eingeführt ſein oder, wie es hier der Fall iſt, ſich thatſächlich ent-
wickelt haben, in ſich ſelber den Keim des Todes. Es iſt undenk-
bar, daß ein derartiges Syſtem in alle Ewigkeit aufrechterhalten
wird; man wird es nur ſo lange aufrechterhalten, als es für die
betreffenden Kreiſe nothwendig iſt. Man wird es aber auch, wenn
es aufgehört hat, nothwendig zu ſein, beſteben laſſen dürfen, ſo-
lange es noch fortdauernd nützlich wirkt und folange nicht über-
wiegende Gründe, hergenommen aus den Intereſſen der übrigen
Angehörigen des betreffenden Landes oder Reiches, es er-
fordern, dem Syſtem ein Ende zu machen. Tritt aber aus
ſolchen Rückſichten die Nothwendigkeit ein, in abſehbarer Zeit ein
ſolches Syſtem zu beendigen, ſo iſt es Pflicht einer fürſorgenden
Regierung, die Maßregel in einem ſolchen Augenblick in Vorſchlag
zu bringen, wo der Uebergang in die neuen Verhältniſſe mit mög-
lichſt geringer Schädigung der vorhandenen oder noch entſtehenden
Intereſſen durchgeführt werden kann. Nun ſind die verbündeten
Regierungen der Meinung, daß die Nothwendigkeit der Fortdauer des
bisherigen Syſtems nicht mehr beſteht, daß das Syſtem aufgehört
hat oder wenigſtens leicht aufhören kann, nützlich zu wirken.
Dazu kommt, daß die überwiegende Mehrheit der deutſchen Reichs-
angehörigen und Steuerzahler die Aufhebung des Syſtems fordert.
Der augenblickliche Moment iſt verhältnißmäßig der günſtigſte, um
mit einer ſolchen Maßregel vorzugehen. Die Befürchtung, daß
nach Annahme dieſes Geſetzes die Zuckerinduſtrie im Auslande
nicht mehr concurrenzfähig ſein würde, theile ich nicht. Der Ge-
ſetzentwurf enthält ſelber Beſtimmungen, welche die Production für
den Export auch in Zukunſt für uns zu ſichern beſtimmt ſind.
Streitiger iſt, ob wir bei dem Zeitpunkt angekommen ſind, wo es
fraglich iſt, ob das jetzige Syſtem noch nützlich ſei. Ich perſönlich
bin in Bezug auf dieſe Seite der Frage vor Jahr und Tag noch
nicht ſo ſicher in meiner Ueberzeugung geweſen, wie ich es heute
bin. Je mehr ich mich mit der Sache beſchäftigt habe, deſto feſter
bin ich davon durchdrungen worden, daß dieſes Syſtem verlaſſen werden
kann. Die Zuckerinduſtrie war urſprünglich gedacht — und war
es auch urſprünglich — als ein landwirthſchaftliches Gewerbe.
Sie hat ſich in neuerer Zeit mehr und mehr entwickelt zu einer
induſtriellen großen Exportfabrication, ſo daß man bei einer Reihe
von neuen Zuckerfabriken eher ſagen könnte, die Landwirthſchaft
ſei das Nebengewerbe. Die Landwirthſchaft hat an dem Gedeihen
der Zuckerinduſtrie, abgeſehen davon, daß den Landwirthen die-
jenigen Antheile zufließen, welche ihnen als Actienbeſitzern zu-
kommen, das Intereſſe, ein möglichſt großes Quantum ihres Areals
unter die Rübencultur zu bringen und dadurch deſſen Culturzuſtand
zu erhöhen. Es iſt für die Landwirthſchaft nicht gleichgültig, ob
ſie einen Doppelcentner Zucker aus fünf oder zehn Doppelcentner
Rüben gewinnt; im Gegentheil, die Landwirthſchaft hätte eher
ein Intereſſe, daß ſie zehn Doppelcentner Rüben dazu an-
bauen müßte. Es liegt nicht im Intereſſe der Landwirth-
ſchaft, wenn ſeitens der Zuckerfabriken mehr und mehr auf
eine Verfeinerung der Rübe gedrängt und die Vilmorin-Rübe an
die Stelle der Wanzleben-Rübe geſetzt wird. Die Landwirthe
haben ſich der Einführung der Vilmorin-Rübe widerſetzt.
Die meiſten Zuckerfabriken ſtellen ſelbſtverſtändlich den Landwirthen
die Bedingung, daß ſie ihren Rübenſamen von der Fabrik nehmen,
und wenn die Landwirthe ſagen: wir wollen Wanzlebener bauen,
ſo ſagt man ihnen: wir geben Ihnen auch keinen Vilmorin, ſon-
dern Wanzlebener Samen. Aber gleichzeitig wurde der Wanz-
lebener Samen von der Firma Gebr. Dippe in Quedlinburg und
Anderen von Jahr zu Jahr in Bezug auf den Zuckergehalt ver-
beſſert. Für die Landwirthe iſt es auch kein Vortheil, wenn die
Fabriken rieſengroß ſind. Für die Landwirthſchaft ſind die beſten
Fabriken diejenigen, bei denen ſie einen Haupteinfluß hat, alſo die
kleinen Fabriken und nicht die großen, welche ſelbſt die Führung
übernehmen und ſich die Landwirthſchaft nur angliedern. Unſer
jetziges Syſtem führt nothwendig dazu, die Fabriken ſo groß wie
möglich zu bauen, denn natürlich iſt die Herausnahme der letzten
Procente Zucker das Theuerſte. Das Streben geht alſo dahin, die Fabrik
[Spaltenumbruch] auf möglichſt großen Betrieb einzurichten, um durch Verminderung
der Generalkoſten eine vollſtändige Zuckergewinnung zu ermöglichen.
In dem jetzigen Zeitpunkte iſt die weitere Aufrechterhaltung des
beſtehenden Syſtems für unſre Zuckerinduſtrie nicht mehr nützlich,
vielleicht ſogar ſchädlich. In der Zuckerproduction für den Welt-
markt bahnt ſich eine Ueberproduction an, noch geſteigert durch
jede neu entſtehende Fabrik. In Deutſchland haben wir etwa
400 Zuckerfabriken. Seit 1889/90 ſind 11 neue Fabriken er-
öffnet, und ſo viel ich weiß, ſind 7 neue Fabriken im Bau oder
geplant. Rechne ich nur mit 15 neuen Fabriken, ſo würden dieſe,
da die Durchſchnittsproduction einer Fabrik 30,000 Doppelcentner
beträgt, eine Vermehrung der Zuckerproduction um 450,000 Doppel-
centner repräſentiren bei einer Geſammtproduction von 12 Mill.
Doppelcentner in Deutſchland. Zwei Drittel davon gehen in
das Ausland; es erſchwert alſo die vermehrte Production den
Abſatz auf dem Weltmarkte. Nach dem Zuckerconſum in Deutſch-
land würden die neuen Fabriken zur Conſumirung ihrer Pro-
duction 4½ Millionen neue Zuckerconſumenten gewinnen müſſen.
Eine derartige Vermehrung der Production iſt nicht allein in
Deutſchland im Gange, ſondern in allen an der Zuckerproduction
betheiligten Ländern und ſteht ferner zu erwarten in ſolchen
Ländern, die, wie Nordamerika, weite Gegenden haben, die zur
Cultur der Rüben geeignet, aber noch nicht mit Rüben beſtellt
ſind. Auch in den Zuckerrohrländern und den Sorghumländern
macht ſich das Beſtreben geltend, das Rohmaterial zu verbeſſern.
Nun könnte man ſagen: was will die Concurrenz der Rohrzucker-
länder bedeuten? Heute ſteht die Sache anders. Wer gründet
in den Concurrenzländern die Fabriken? Deutſches Capital,
deutſche Techniker, deutſche Maſchinen kommen unſern Concurrenz-
ländern zu gute. Ich freue mich zwar, daß die deutſche Arbeit
im Auslande ſich einen Platz erwirbt, aber dieſer Entwicklung
gegenüber muß man befürchten, daß mit der Production die Con-
ſumenten nicht mehr Schritt halten können. Dazu droht unſer
Abſatzmarkt ſich in abſehbarer Zeit zu verringern; Amerika ſchließt
ſich ab. Vermehrte Production und geringerer Abſatz — iſt da
nicht eine Gefahr, daß eine Kriſis eintritt? Iſt es da noch ge-
boten, die ſtärkere Entwicklung der deutſchen Zuckerproduction durch
Zuſchüſſe aus öffentlichen Mitteln zu fördern? Dazu kommt
noch, daß die Steigerung unſrer Reichsausgaben bereits jetzt
einen ſolchen Umfang angenommen hat, daß den Einzelſtaaten von den
Reichseinnahmen für ihre Zwecke herzlich wenig übrig bleibt,
weniger vielfach, als die Summen betragen, welche die Einzel-
ſtaaten im Hinblick auf die zu erwartenden Einnahmen aus dem
Reiche für Landeszwecke feſtgelegt haben. Wir können auch nicht
auf eine Verminderung unſres Ausgabedürfniſſes rechnen, wohl
aber noch auf eine Steigerung. Wenn nun noch eine neue Aus-
gabe hinzutritt, wie die Alters- und Invaliditätsverſicherung, welche
an die Reichscaſſe Anforderungen ſtellen wird, die wir zwar in
Bezug auf ihre Höhe und den Zeitpunkt ihres Eintretens nicht be-
rechnen können, ſo fordert die effective Uebernahme einer ſolchen
neuen Ausgabe auch die Sicherſtellung der dafür nöthigen
Mittel durch Schaffung neuer Einnahmen oder wenigſtens da-
durch, daß man dafür ſorgt, daß die Steuerbelaſtung, welche
jetzt den Deutſchen trifft, wirklich der Reichscaſſe zufließt.
Dieſe Erwägungen überzeugten die Regierung, daß man das Syſtem
der Materialſteuer verlaſſen muß. Der gegenwärtige Moment iſt
dazu verhältnißmäßig günſtig. Von einer Seite des Hauſes wird
ſeit Jahren darauf gedrängt, mit dem jetzigen Syſtem zu brechen.
Ich bin perſönlich wiederholt interpellirt worden, ob wir die
Materialſteuer nicht verlaſſen werden. Dazu haben ſich die ver-
bündeten Regierungen ſtets ablehnend verhalten, weil wir bisher
hoffen konnten, auf Grund der Londoner Convention unſre Con-
currenzländer dazu zu bringen, mit uns gleichzeitig ihre Prämien
aufzuheben, wenn wir damit vorgingen. Die Ratificationsfriſt der
Londoner Convention lief bis zum 1. Auguſt d. J. Mit Rückſicht
darauf lehnte ich noch in der vorigen Seſſion eine poſitive Erklä-
rung darüber ab, was wir thun würden, wenn die Convention
nicht zu Stande kommen ſollte. Wir glauben allerdings,
daß, wenn Deutſchland dieſen Schritt thut, die anderen an
der Zuckerproduction betheiligten Staaten demſelben folgen
werden in wohlverſtandenem eigenen Intereſſe, und wir geben, da
wir Ihnen vorſchlagen, für die Uebergangszeit feſte Zuſchüſſe bei
dem Export von Zucker zu gewähren, die Mittel noch nicht aus der
Hand, auf die Beſchlüſſe der betheiligten anderen Staaten unſrer-
ſeits zu wirken. Wir behalten gleichſam durch die feſten Prämien
unſern Nachbarſtaaten gegenüber den Stock in der Hand. In
einigen Jahren würde uns das Geldbedürfniß der Reichscaſſe vor-
ausſichtlich doch zu dieſer Maßregel zwingen, und dann würde
gegenüber der vermehrten Weltproduction an Zucker und der Be-
ſchränkung des Abſatzgebietes unſre Zuckerinduſtrie ſich in viel
ſchwierigerer Lage befinden als heute. Würden wir die Maßregel
erſt nach drei Jahren einſühren, ſo hätten wir 20—25 neue
Fabriken mehr, die alle noch in den Kinderſchuhen ſtäken und durch
Fortfall der bisherigen Steuervergünſtigung viel härter getroffen
würden, als die bereits beſtehenden Fabriken. Außerdem iſt es
jetzt möglich, den Uebergang milde und allmählich zu geſtalten, weil
das zwingende Geldbedürfniß erſt in einigen Jahren eintreten
wird. Gehen wir erſt vor, wenn das Geldbedürfniß wirklich dringend
und unauffchiebbar iſt, ſo kann man den betheiligten Kreiſen der-
artige Uebergangserleichterungen nicht gewähren. Deßhalb legen
die verbündeten Regierungen gegenwärtig den Geſetzentwurf vor.
Die vorgeſchlagenen feſten Prämien für die Uebergangszeit werden
nun von einem Theil der Zuckerinduſtriellen damit bekämpft, daß
dadurch die Steuervortheile, welche bisher nur diejenigen Gegenden
voll genoſſen, welche beſonders zuckerreiche Rüben bauen, auch
denen zufließen würden, welche minder zuckerreiche Rüben
bauen. Das iſt kein durchſchlagendes Moment, denn wenn wir
überhaupt Steuervortheile gewähren, ſo iſt es billig, ſie
auch allen betheiligten Gegenden zuzuwenden. Für die Zukunft
iſt ferner eine Beſteuerung des Stärkezuckers vorbehalten,
der unſrer Zuckerinduſtrie eine gewiſſe Concurrenz macht.
Die Stärkeinduſtrie arbeitet ohne Beſteuerung. Dieſes Verhältniß
kann man aufrecht erhalten, ſo lange die Zuckerinduſtrie aus dem
beſtehenden Syſtem weſentliche Steuervortheile genießt; fallen dieſe
fort, ſo iſt es eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit, daß
man auch das Concurrenzproduct, den Stärkezucker, zur Steuer
beranzieht. Da aber dieſer Augenblick erſt für das Etatsjahr
1896/97 eintritt, ſo iſt es noch nicht nothwendig, dieſen Gedanken
ſchon jetzt im Einzelnen auszugeſtalten. Wir wollen die Ent-
ſcheidung über die Form und Höhe der Beſteuerung des Stärke-
zuckers und des Saccharins vertagen, bis die jetzige Steuer-
begünſtigung der Zuckerinduſtrie definitiv fortfällt. Wie auch der
Reichstag entſcheiden wird: die verbündeten Regierungen haben der
bei dem Zuckerbau betheiligten Induſtrie gegenüber ein reines Ge-
wiſſen, wenn ſie dieſes Geſetz vorlegen und volle Klarheit ſchaffen
über das, was ſie anſtreben. Ich bitte das hohe Haus, dem
Geſetze zuzuſtimmen im Intereſſe ſowohl einer Geſundung unſer
Reichsfinanzen, als auch im Intereſſe der betheiligten Kreiſe ſelbſt.
(Beifall.)

Abg. Dr. Witte (dfrſ.) ſpricht ſeine Freude darüber aus, daß
vom Bundesrathstiſche jetzt dieſelben Argumente vorgebracht werden,

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Der Zucker, den die deut&#x017F;che Indu&#x017F;trie für das Ausland producirt,<lb/>
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&#x017F;olches Sy&#x017F;tem zu beendigen, &#x017F;o i&#x017F;t es Pflicht einer für&#x017F;orgenden<lb/>
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[0005] Samſtag, Zweites Morgenblatt, Nr. 345 der Allgemeinen Zeitung. 13. December 1890. Inhalts-Ueberſicht. Deutſcher Reichstag. Handel und Volkswirthſchaft. Deutſcher Reichstag. Telegraphiſcher Privatbericht der Allg. Ztg. 40. Sitzung. ⎈ Berlin, 12. Dec. Die Sitzung wird Vormittags 11 Uhr eröſſnet. Am Tiſche des Bundesraths: v. Caprivi, v. Boetticher, v. Maltzahn und Commiſſarien. Zur erſten Leſung des am 26. Auguſt d. J. zwiſchen dem Reiche und der Türkei ab- geſchloſſenen Freundſchafts-, Handels- und Schifffahrts- vertrags erhält das Wort Abg. Dr. Siemens (deutſchfreiſ.): Die Bedeutung des Ver- trags iſt nicht ſowohl eine commercielle, als eine politiſche. Der Vertrag, wenn man ihn genau anſieht, enthält keine gegenſeitige, ſondern nur eine einſeitige Bindung der Türkei im Tarif für Ein- fuhrzölle, während eine Bindung Deutſchlands in dem Vertrage nicht Platz greift. Hinſichtlich der gegenſeitigen Bindung durch die Einräumung des Meiſtbegünſtigungsrechts hat man ſich auf das Berſprechen einer gleichmäßigen Behandlung der Angehörigen beider Nationen und ihrer Bewegungsfreiheit, ſowie auf die Einräumung des Meiſtbegünſtigungsrechts hinſichtlich der Ausfuhrzölle beſchränkt. Was die türkiſchen Zölle und deren Höhe betrifft, ſo ſind dieſelben abgeſtuft und man kann wohl ſagen, daß für einzelne weſentliche Erzeugniſſe unſrer Induſtrie, z. B. für die Eiſen- und die chemiſche Induſtrie, eine erheblich beſſere Situation eingetreten iſt. Die Türkei hatte früher 8 Procent des Werthes von der Einfuhr er- hoben, jetzt ſind die Sätze verſchieden normirt, bei einem Theil niedriger, für andere höher. Für Spiritus und Branntwein, der bekanntlich den Mohammedanern verboten iſt, tritt eine Erhöhung bis zu 20 Procent ein. Hinſichtlich dieſer Punkte ſind Licht und Schatten ziemlich gleichmäßig vertheilt, oder gleichen ſich wenigſtens aus. Aber die Bedeutung des Vertrages liegt auf anderem Ge- biet. Die türkiſche Regierung hat ſich in den letzten Jahren in einer ziemlich abnormen Lage befunden. Die Entwicklung des inneren Steuerſyſtems durch directe Steuern war in Folge der mangelhaften Organiſation ihrer Bureaukratie eine krankhafte und das Land war für die Erhebung und Aufbringung der Mittel zu ſeiner Verwaltung im weſentlichen auf die Zölle angewieſen. Die Abſtufung der Zölle war wieder eine ſolche, daß ſie nicht ge- nügende Erträge brachte und andrerſeits doch den Ruin einer alten großen und berühmten Induſtrie, der Wirk- und Webe- induſtrie, im großen und ganzen hervorgerufen hat. Die Folge war, daß man ſich beſtrebte, durch locale Durchgangsabgaben dieſem Zuſtand abzuhelfen, und dadurch eine ungeheure Unſicherheit in den Handelsverkehr mit der Türkei hineinbrachte. Es iſt ein großer Vorzug dieſes Vertrages, daß man dieſes Syſtem der localen Durchgangsabgaben vernichtet oder wenigſtens durchbrochen hat. Zu gleicher Zeit aber macht man der Türkei das Zugeſtändniß, daß ſie die Vorbereitungen für die Einführung mehrerer Monopole, des Zündhölzer-, des Cigarettenpapier- und des Petroleum- Monopols u. dgl., treffen kann. Denn die Möglichkeit einer Steuererhöhung in dieſem verhältnißmäßig wenig bureaukratiſch organiſirten Lande liegt in der Einführung und Verwerthung der Monopole. Der Vertrag erhöht alſo die finanzielle Leiſtungs- fähigkeit der Türkei und damit ihre politiſche Kraft. Meine Herren! Das Deutſche Reich iſt der erſte unter den weſt- lichen Staaten, der jetzt, nachdem das Syſtem der bisherigen türki- ſchen Handelsverträge ſeinem Ende entgegengeht, den neuen Weg eingeſchlagen hat, und es wird ſich dadurch ohne Zweifel ſtarke Sympathien im Orient gewinnen, auf die ich noch einen beſonderen commerciellen Werth lege, weil ſie uns auf commerciellem Gebiet erheblich zu ſtatten kommen werden. Seit einigen Jahren hat das deutſche Capital begonnen, ſich in einer mehr organiſirten Form nach dem Orient zu begeben: durch den Bau von Gasanſtalten, Eiſenbahnen u. dgl. beginnt es die dortigen Gebiete zu erſchließen. Früher ging es nach dem Auslande mehr in einer dienenden Form. Es war bei uns Gewohnheit, daß wir uns bei engliſchen und franzöſiſchen Unternehmungen betheiligten, alle ihre Riſiken mit- trugen, aber ihre Führung den fremden Nationen überließen und damit auch der fremdländiſchen Induſtrie die Einheimſung aller mit ſolchen Unternehmungen verbundenen Vortheile geſtatteten und ſogar mit unſerm Gelde zuführten. Das Reſultat der neuen Con- ſtructionen, die in den letzten Jahren der Arbeitsart des deutſchen Capitals gegeben ſind, hat eine verhältnißmäßig ſehr ſtarke Be- ſchäſtigung unſrer Induſtrie in der Gegenwart zur Folge gehabt. Ferner iſt von politiſcher Bedeutung Art. 22 des Vertrages, durch den zu gleicher Zeit eine Paralleliſirung des Vaſallen-Fürſtenthums Bulgarien und Aegyptens und mithin die Möglichkeit eines Ab- ſchluſſes directer Handelsverträge mit Bulgarien vorbereitet wird. Meine Herren! Das Deutſche Reich, die deutſche Nation hat im Orient nichts zu erobern und nichts zu wünſchen. Wir haben nur ein Intereſſe an der Stabiliſirung der dortigen Verhältniſſe, und ich begrüße es mit Freuden, daß wir dieſen gerade dazu dienenden Schritt gethan haben. Ich möchte nur den Wunſch ausſprechen, daß die anderen weſtlichen Nationen uns auf dieſem Gebiet folgen möchten. Ich empfehle daher die Annahme des Vertrages und wünſche unſrer Diplomatie zu der Art, wie ſie ſich dieſer Frage gegenüber geſtellt hat, meinerſeits geradezu Glück. (Beifall links.) Da eine commiſſariſche Berathung des Vertrages von keiner Seite beantragt wird, tritt das Haus ſofort in die zweite ein und genehmigt den Vertrag in allen ſeinen Theilen. Es folgt die erſte Berathung des Geſetzentwurfes, betr. die Beſteuerung des Zuckers. Schatzſecretär v. Maltzahn: Dem Geſetzentwurf iſt eine ein- gehende Begründung beigegeben; der Gegenſtand iſt aber ein ſo wichtiger und die geplante Maßregel eine ſo einſchneidende, daß ich mich doch verpflichtet halte, Ihnen die Haupterwägungen vorzu- führen, welche die verbündeten Regierungen zu dem Entſchluß be- ſtimmt haben, Ihnen ein Geſetz vorzulegen, welches das bisherige Syſtem der Zuckerſteuer von Grund aus umgeſtalten will. Wird dieſer Entwurf Geſetz, ſo wird in Deutſchland die Material- beſteuerung als urſprünglich alleinige, ſpäter theilweiſe Grund- lage der Zuckerbeſteuerung fortfallen. Unter der Herrſchaft des bisherigen Steuerſyſtems hat die deutſche Zuckerproduction es verſtanden, den inländiſchen Markt ſich ausſchließlich zu ſichern und auf dem Weltmarkte den erſten Platz zu erringen. Sie hat dadurch große Capitalien ins Land hereingebracht, den Wohlſtand in den verſchiedenen Gegenden unſres Landes geweckt und gehoben, und ſie hat dieſen Nutzen nicht etwa einem kleinen Kreiſe von Induſtriellen gewährt, ſondern auch der Landwirthſchaft in den betheiligten Gegenden den allergrößten Vortheil gebracht. Dieſes Ziel iſt erreicht nicht durch die Beſteuerungsform allein, ſondern in erſter Linie durch den andauernden Fleiß von Gene- rationen von Landwirthen und Technikern, durch äußerſte Anſpan- nung des Nachdenkens geiſtig bedeutender Menſchen. Es iſt da- durch erreicht, daß die deutſche Rübe eine ſolche Vollkommenheit erlangt hat, daß ſie mit Recht in einer der letzten Eingaben an uns und den Reichstag von Seite der ſachverſtändigſten Leute der Magdeburger Zuckerintereſſenten jetzt ihrem Zuckergehalt nach als dem Rohr ebenbürtig an die Seite geſtellt werden konnte. Durch den Anbau der Zuckerrübe iſt zugleich der geſammte Er- trag der Güter geſördert worden. Es iſt ferner die Technik der Entzuckerung auf das bisher überhaupt er- reichte höchſte Maß der Vollkommenheit gebracht worden. In der Beſteuerung des Rohmaterials lag der Antrieb, ein möglichſt vollkommenes Rohmaterial zu erzielen und daraus mit den denkbar geringſten Koſten den höchſten Procentſatz an Zucker zu gewinnen. In den erſten Jahren der deutſchen Zuckerinduſtrie gewann ſie Vor- theile dadurch, daß ſie aus einem möglichſt geringen Quantum be- ſteuerten Nohmaterials möglichſt viel Zucker für den inländiſchen Abſatz gewann, in den ſpäteren dadurch, daß, nachdem man dazu gekommen war, für den exportirten Zucker die Rübenſteuer zurück- zuerſtatten, in der Form, daß man pro Centner ein gewiſſes Quantum von Steuer zurückzahlte, das Trachten der Induſtrie — von ihrem Standpunkte vollkommen mit Recht — dahin ging, die Zuckerproduction für den Morgen angebauter und zur Verarbeitung gelangender Rüben noch zu ſteigern, um auf dieſe Weiſe in der Exportvergütung nicht nur die wirklich bezahlte Zuckerſteuer er- ſtattet zu erhalten, ſondern darüber hinaus noch eine Bonification. Ein ſolches Syſtem zu verlaſſen, iſt nur gerechtfertigt, wenn ganz überwiegende Gründe dafür ſprechen. Solche zwingende Gründe liegen im gegenwärtigen Moment nach der Anſicht der verbündeten Regierungen in der That vor. Die Begünſtigung, welche zur Zeit die deutſche Zuckerproduction genießt, trägt einen völlig ſingulären Charakter innerhalb der deutſchen Geſetzgebung. Es handelt ſich nicht wie bei den Schutzzöllen darum, einem Productionszweige die ausſchließliche Beherrſchung des inländiſchen Marktes zu ermöglichen. Dieſe Beherrſchung würde ja auch nach Annahme des neuen Entwurfs völlig geſichert bleiben; denn der neue Entwurf enthält einen ſtarken Schutzzoll, welcher verhindern ſoll, daß die ausländiſche Induſtrie etwa mit ihren Producten auf den inländiſchen Markt kommen könnte. Es handelt ſich auch nicht darum, der deutſchen Zuckerproduction die laſtenfreie Fabrication für den Auslandsmarkt zu ſichern, denn auch dieſer bleibt ihr nach dem neuen Geſetz vollkommen geſichert. Der Zucker, den die deutſche Induſtrie für das Ausland producirt, wird hier mit keiner Mark Zoll belegt, es handelt ſich nur darum, den thatſächlich eingetretenen Zuſtand zu beſeitigen, daß jetzt für jeden exportirten Zucker der deutſchen Zuckerproduction ein directer Zuſchuß aus den allgemeinen Mitteln des Reiches, welche durch Steuern auſkommen, gewährt werden muß, und daß in Folge davon die Zuckerproduction im Stande iſt, auf dem Inlandsmarkte den Confumenten einen Preis zu machen, in dem ebenfalls der Induſtrie ein entſprechender Vortheil zufließt, ſo daß der in- ländiſche Conſument zur Zeit thatſächlich durch unſer Zuckerſtener- ſyſtem ebenſo hoch belaſtet iſt, wie er es bei Annahme des neuen Geſetzes ſein würde, nur mit dem Unterſchied, daß bei dieſem Geſetz die geſammte Steuerbelaſtung der inländiſchen Conſumenten der Reichs- caſſe und damit den übrigen Steuerzahlern zu gute käme, während jetzt ein erheblicher Theil der Steuerbelaſtung den Producenten zufließt. Derartige finguläre Begünſtigungen haben, mögen ſie abſichtlich eingeführt ſein oder, wie es hier der Fall iſt, ſich thatſächlich ent- wickelt haben, in ſich ſelber den Keim des Todes. Es iſt undenk- bar, daß ein derartiges Syſtem in alle Ewigkeit aufrechterhalten wird; man wird es nur ſo lange aufrechterhalten, als es für die betreffenden Kreiſe nothwendig iſt. Man wird es aber auch, wenn es aufgehört hat, nothwendig zu ſein, beſteben laſſen dürfen, ſo- lange es noch fortdauernd nützlich wirkt und folange nicht über- wiegende Gründe, hergenommen aus den Intereſſen der übrigen Angehörigen des betreffenden Landes oder Reiches, es er- fordern, dem Syſtem ein Ende zu machen. Tritt aber aus ſolchen Rückſichten die Nothwendigkeit ein, in abſehbarer Zeit ein ſolches Syſtem zu beendigen, ſo iſt es Pflicht einer fürſorgenden Regierung, die Maßregel in einem ſolchen Augenblick in Vorſchlag zu bringen, wo der Uebergang in die neuen Verhältniſſe mit mög- lichſt geringer Schädigung der vorhandenen oder noch entſtehenden Intereſſen durchgeführt werden kann. Nun ſind die verbündeten Regierungen der Meinung, daß die Nothwendigkeit der Fortdauer des bisherigen Syſtems nicht mehr beſteht, daß das Syſtem aufgehört hat oder wenigſtens leicht aufhören kann, nützlich zu wirken. Dazu kommt, daß die überwiegende Mehrheit der deutſchen Reichs- angehörigen und Steuerzahler die Aufhebung des Syſtems fordert. Der augenblickliche Moment iſt verhältnißmäßig der günſtigſte, um mit einer ſolchen Maßregel vorzugehen. Die Befürchtung, daß nach Annahme dieſes Geſetzes die Zuckerinduſtrie im Auslande nicht mehr concurrenzfähig ſein würde, theile ich nicht. Der Ge- ſetzentwurf enthält ſelber Beſtimmungen, welche die Production für den Export auch in Zukunſt für uns zu ſichern beſtimmt ſind. Streitiger iſt, ob wir bei dem Zeitpunkt angekommen ſind, wo es fraglich iſt, ob das jetzige Syſtem noch nützlich ſei. Ich perſönlich bin in Bezug auf dieſe Seite der Frage vor Jahr und Tag noch nicht ſo ſicher in meiner Ueberzeugung geweſen, wie ich es heute bin. Je mehr ich mich mit der Sache beſchäftigt habe, deſto feſter bin ich davon durchdrungen worden, daß dieſes Syſtem verlaſſen werden kann. Die Zuckerinduſtrie war urſprünglich gedacht — und war es auch urſprünglich — als ein landwirthſchaftliches Gewerbe. Sie hat ſich in neuerer Zeit mehr und mehr entwickelt zu einer induſtriellen großen Exportfabrication, ſo daß man bei einer Reihe von neuen Zuckerfabriken eher ſagen könnte, die Landwirthſchaft ſei das Nebengewerbe. Die Landwirthſchaft hat an dem Gedeihen der Zuckerinduſtrie, abgeſehen davon, daß den Landwirthen die- jenigen Antheile zufließen, welche ihnen als Actienbeſitzern zu- kommen, das Intereſſe, ein möglichſt großes Quantum ihres Areals unter die Rübencultur zu bringen und dadurch deſſen Culturzuſtand zu erhöhen. Es iſt für die Landwirthſchaft nicht gleichgültig, ob ſie einen Doppelcentner Zucker aus fünf oder zehn Doppelcentner Rüben gewinnt; im Gegentheil, die Landwirthſchaft hätte eher ein Intereſſe, daß ſie zehn Doppelcentner Rüben dazu an- bauen müßte. Es liegt nicht im Intereſſe der Landwirth- ſchaft, wenn ſeitens der Zuckerfabriken mehr und mehr auf eine Verfeinerung der Rübe gedrängt und die Vilmorin-Rübe an die Stelle der Wanzleben-Rübe geſetzt wird. Die Landwirthe haben ſich der Einführung der Vilmorin-Rübe widerſetzt. Die meiſten Zuckerfabriken ſtellen ſelbſtverſtändlich den Landwirthen die Bedingung, daß ſie ihren Rübenſamen von der Fabrik nehmen, und wenn die Landwirthe ſagen: wir wollen Wanzlebener bauen, ſo ſagt man ihnen: wir geben Ihnen auch keinen Vilmorin, ſon- dern Wanzlebener Samen. Aber gleichzeitig wurde der Wanz- lebener Samen von der Firma Gebr. Dippe in Quedlinburg und Anderen von Jahr zu Jahr in Bezug auf den Zuckergehalt ver- beſſert. Für die Landwirthe iſt es auch kein Vortheil, wenn die Fabriken rieſengroß ſind. Für die Landwirthſchaft ſind die beſten Fabriken diejenigen, bei denen ſie einen Haupteinfluß hat, alſo die kleinen Fabriken und nicht die großen, welche ſelbſt die Führung übernehmen und ſich die Landwirthſchaft nur angliedern. Unſer jetziges Syſtem führt nothwendig dazu, die Fabriken ſo groß wie möglich zu bauen, denn natürlich iſt die Herausnahme der letzten Procente Zucker das Theuerſte. Das Streben geht alſo dahin, die Fabrik auf möglichſt großen Betrieb einzurichten, um durch Verminderung der Generalkoſten eine vollſtändige Zuckergewinnung zu ermöglichen. In dem jetzigen Zeitpunkte iſt die weitere Aufrechterhaltung des beſtehenden Syſtems für unſre Zuckerinduſtrie nicht mehr nützlich, vielleicht ſogar ſchädlich. In der Zuckerproduction für den Welt- markt bahnt ſich eine Ueberproduction an, noch geſteigert durch jede neu entſtehende Fabrik. In Deutſchland haben wir etwa 400 Zuckerfabriken. Seit 1889/90 ſind 11 neue Fabriken er- öffnet, und ſo viel ich weiß, ſind 7 neue Fabriken im Bau oder geplant. Rechne ich nur mit 15 neuen Fabriken, ſo würden dieſe, da die Durchſchnittsproduction einer Fabrik 30,000 Doppelcentner beträgt, eine Vermehrung der Zuckerproduction um 450,000 Doppel- centner repräſentiren bei einer Geſammtproduction von 12 Mill. Doppelcentner in Deutſchland. Zwei Drittel davon gehen in das Ausland; es erſchwert alſo die vermehrte Production den Abſatz auf dem Weltmarkte. Nach dem Zuckerconſum in Deutſch- land würden die neuen Fabriken zur Conſumirung ihrer Pro- duction 4½ Millionen neue Zuckerconſumenten gewinnen müſſen. Eine derartige Vermehrung der Production iſt nicht allein in Deutſchland im Gange, ſondern in allen an der Zuckerproduction betheiligten Ländern und ſteht ferner zu erwarten in ſolchen Ländern, die, wie Nordamerika, weite Gegenden haben, die zur Cultur der Rüben geeignet, aber noch nicht mit Rüben beſtellt ſind. Auch in den Zuckerrohrländern und den Sorghumländern macht ſich das Beſtreben geltend, das Rohmaterial zu verbeſſern. Nun könnte man ſagen: was will die Concurrenz der Rohrzucker- länder bedeuten? Heute ſteht die Sache anders. Wer gründet in den Concurrenzländern die Fabriken? Deutſches Capital, deutſche Techniker, deutſche Maſchinen kommen unſern Concurrenz- ländern zu gute. Ich freue mich zwar, daß die deutſche Arbeit im Auslande ſich einen Platz erwirbt, aber dieſer Entwicklung gegenüber muß man befürchten, daß mit der Production die Con- ſumenten nicht mehr Schritt halten können. Dazu droht unſer Abſatzmarkt ſich in abſehbarer Zeit zu verringern; Amerika ſchließt ſich ab. Vermehrte Production und geringerer Abſatz — iſt da nicht eine Gefahr, daß eine Kriſis eintritt? Iſt es da noch ge- boten, die ſtärkere Entwicklung der deutſchen Zuckerproduction durch Zuſchüſſe aus öffentlichen Mitteln zu fördern? Dazu kommt noch, daß die Steigerung unſrer Reichsausgaben bereits jetzt einen ſolchen Umfang angenommen hat, daß den Einzelſtaaten von den Reichseinnahmen für ihre Zwecke herzlich wenig übrig bleibt, weniger vielfach, als die Summen betragen, welche die Einzel- ſtaaten im Hinblick auf die zu erwartenden Einnahmen aus dem Reiche für Landeszwecke feſtgelegt haben. Wir können auch nicht auf eine Verminderung unſres Ausgabedürfniſſes rechnen, wohl aber noch auf eine Steigerung. Wenn nun noch eine neue Aus- gabe hinzutritt, wie die Alters- und Invaliditätsverſicherung, welche an die Reichscaſſe Anforderungen ſtellen wird, die wir zwar in Bezug auf ihre Höhe und den Zeitpunkt ihres Eintretens nicht be- rechnen können, ſo fordert die effective Uebernahme einer ſolchen neuen Ausgabe auch die Sicherſtellung der dafür nöthigen Mittel durch Schaffung neuer Einnahmen oder wenigſtens da- durch, daß man dafür ſorgt, daß die Steuerbelaſtung, welche jetzt den Deutſchen trifft, wirklich der Reichscaſſe zufließt. Dieſe Erwägungen überzeugten die Regierung, daß man das Syſtem der Materialſteuer verlaſſen muß. Der gegenwärtige Moment iſt dazu verhältnißmäßig günſtig. Von einer Seite des Hauſes wird ſeit Jahren darauf gedrängt, mit dem jetzigen Syſtem zu brechen. Ich bin perſönlich wiederholt interpellirt worden, ob wir die Materialſteuer nicht verlaſſen werden. Dazu haben ſich die ver- bündeten Regierungen ſtets ablehnend verhalten, weil wir bisher hoffen konnten, auf Grund der Londoner Convention unſre Con- currenzländer dazu zu bringen, mit uns gleichzeitig ihre Prämien aufzuheben, wenn wir damit vorgingen. Die Ratificationsfriſt der Londoner Convention lief bis zum 1. Auguſt d. J. Mit Rückſicht darauf lehnte ich noch in der vorigen Seſſion eine poſitive Erklä- rung darüber ab, was wir thun würden, wenn die Convention nicht zu Stande kommen ſollte. Wir glauben allerdings, daß, wenn Deutſchland dieſen Schritt thut, die anderen an der Zuckerproduction betheiligten Staaten demſelben folgen werden in wohlverſtandenem eigenen Intereſſe, und wir geben, da wir Ihnen vorſchlagen, für die Uebergangszeit feſte Zuſchüſſe bei dem Export von Zucker zu gewähren, die Mittel noch nicht aus der Hand, auf die Beſchlüſſe der betheiligten anderen Staaten unſrer- ſeits zu wirken. Wir behalten gleichſam durch die feſten Prämien unſern Nachbarſtaaten gegenüber den Stock in der Hand. In einigen Jahren würde uns das Geldbedürfniß der Reichscaſſe vor- ausſichtlich doch zu dieſer Maßregel zwingen, und dann würde gegenüber der vermehrten Weltproduction an Zucker und der Be- ſchränkung des Abſatzgebietes unſre Zuckerinduſtrie ſich in viel ſchwierigerer Lage befinden als heute. Würden wir die Maßregel erſt nach drei Jahren einſühren, ſo hätten wir 20—25 neue Fabriken mehr, die alle noch in den Kinderſchuhen ſtäken und durch Fortfall der bisherigen Steuervergünſtigung viel härter getroffen würden, als die bereits beſtehenden Fabriken. Außerdem iſt es jetzt möglich, den Uebergang milde und allmählich zu geſtalten, weil das zwingende Geldbedürfniß erſt in einigen Jahren eintreten wird. Gehen wir erſt vor, wenn das Geldbedürfniß wirklich dringend und unauffchiebbar iſt, ſo kann man den betheiligten Kreiſen der- artige Uebergangserleichterungen nicht gewähren. Deßhalb legen die verbündeten Regierungen gegenwärtig den Geſetzentwurf vor. Die vorgeſchlagenen feſten Prämien für die Uebergangszeit werden nun von einem Theil der Zuckerinduſtriellen damit bekämpft, daß dadurch die Steuervortheile, welche bisher nur diejenigen Gegenden voll genoſſen, welche beſonders zuckerreiche Rüben bauen, auch denen zufließen würden, welche minder zuckerreiche Rüben bauen. Das iſt kein durchſchlagendes Moment, denn wenn wir überhaupt Steuervortheile gewähren, ſo iſt es billig, ſie auch allen betheiligten Gegenden zuzuwenden. Für die Zukunft iſt ferner eine Beſteuerung des Stärkezuckers vorbehalten, der unſrer Zuckerinduſtrie eine gewiſſe Concurrenz macht. Die Stärkeinduſtrie arbeitet ohne Beſteuerung. Dieſes Verhältniß kann man aufrecht erhalten, ſo lange die Zuckerinduſtrie aus dem beſtehenden Syſtem weſentliche Steuervortheile genießt; fallen dieſe fort, ſo iſt es eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit, daß man auch das Concurrenzproduct, den Stärkezucker, zur Steuer beranzieht. Da aber dieſer Augenblick erſt für das Etatsjahr 1896/97 eintritt, ſo iſt es noch nicht nothwendig, dieſen Gedanken ſchon jetzt im Einzelnen auszugeſtalten. Wir wollen die Ent- ſcheidung über die Form und Höhe der Beſteuerung des Stärke- zuckers und des Saccharins vertagen, bis die jetzige Steuer- begünſtigung der Zuckerinduſtrie definitiv fortfällt. Wie auch der Reichstag entſcheiden wird: die verbündeten Regierungen haben der bei dem Zuckerbau betheiligten Induſtrie gegenüber ein reines Ge- wiſſen, wenn ſie dieſes Geſetz vorlegen und volle Klarheit ſchaffen über das, was ſie anſtreben. Ich bitte das hohe Haus, dem Geſetze zuzuſtimmen im Intereſſe ſowohl einer Geſundung unſer Reichsfinanzen, als auch im Intereſſe der betheiligten Kreiſe ſelbſt. (Beifall.) Abg. Dr. Witte (dfrſ.) ſpricht ſeine Freude darüber aus, daß vom Bundesrathstiſche jetzt dieſelben Argumente vorgebracht werden,

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 345, 13. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine345_1890/5>, abgerufen am 22.11.2024.