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Allgemeine Zeitung, Nr. 344, 12. Dezember 1890.

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München, Freitag Allgemeine Zeitung 12. December 1890. Zweites Morgenblatt Nr. 344.
[Spaltenumbruch] unsre Industrie die Ausfuhr nach Oesterreich erleichtern, und da-
gegen müssen wir die Concessionen machen, die nöthig sind, damit
von der anderen Seite Concessionen gemacht werden. Man muß
Tarifsätze binden, bestimmte Zölle für längere Zeit festlegen, denn
es kommt weniger darauf an, wie die Zölle sind, als daß sie fest-
gelegt werden auf lange Zeit, daß nicht immer damit agitirt werden kann
und Unsicherheit in dem Zustande der beiden Länder herbeigeführt wird.
Wenn es aber eine Gefahr hätte, seine Meinung zu äußeren, so
wäre überhaupt nie ein Handelsvertrag gemacht worden. Der Abg.
v. Frege hat gestern sogar -- er hat ihn später erfreulicher Weise
modisicirt -- so einen leisen Schatten eines Verdachtes des Landes-
verraths ausgebreitet über die, welche sich erdreisteten, Meinungen
über diese Handelsverträge zu äußern. Der Abg. Graf Behr berief
sich auch darauf, daß jetzt so viel von der Freigebung der Vieh-
einsuhr die Rede ist. Wer hat sich denn darum bemüht? Die
bayerische Regierung, und wenn ich nicht irre, die sächsische Regie-
rung haben sich diesen Schein von Landesverrath zu Schulden
kommen lassen, indem sie laut und vernehmlich dafür agitirten.
Nein, mit solchen Rücksichten in der Oeffentlichkeit Diplomatie zu
machen, geht nicht an. Es schadet auch nichts. Die Geheimnisse,
die hier ausgeplaudert werden, sind das, was man le secret du
public
nennt. Die Delegirten der beiden Regierungen werden,
wenn sie in ihren Conferenzzimmern zusammen gesessen
haben, sich damit nicht aufgehalten haben; sie wissen
ganz genau, daß es keine Geheimnisse auszuplaudern gibt.
Ich sehe in solcher Meinungsäußerung so wenig Schaden, daß ich
gern meine, wenn auch nur beiläufige Mitwirkung zu einer neuen,
dieser Tage erscheinenden Denkschrift hergegeben habe, welche nach-
weist, wie bedenklich es wäre, seitens der deutschen Regierung
auf den Vorschlag von Differentialzöllen einzugehen, und ich glaube
mir herausnehmen zu dürfen, diese Denkschrift, die nicht von mir
ausgeht, sondern nur von mir begutachtet ist, der Regierung und
den Herren Collegen bestens zu empfehlen. Ich glaube damit den
Weg für die künftige Besprechung dieser zarten Angelegenheit des
österreichischen Handelsvertrags geebnet und das Mißverständniß
zwischen uns und dem Reichskanzler definitiv beseitigt zu haben.
Hr. v. Frege beschäftigt sich auch mit der Silberfrage. Es ist für
die Verhandlungen des Reichstages nicht sehr vortheilhaft, diese
verwickelte Frage so beiläufig mit einem Pistolenschuß im Vorüber-
gehen anzuschießen. Ich will auf die verschiedenen Aeußerungen
des Abg. v. Frege nicht eingehen, sondern erst abwarten, ob An-
träge aus dem Hause oder, was ich nicht entfernt fürchte,
Vorschläge der Regierung kommen. Ich meine allerdings, daß wir
den Rest von Silber, den wir leider noch haben, nicht zu den
schlechten Preisen des letzten Jahres von 42 bis 45 Pence hätten
verkaufen sollen. Aber wäre man meiner Ansicht gefolgt, als ich
1879 mich widersetzte, daß die Verkäufe sistirt würden, als das
Silber auf 51 und 52 stand, so hätte man es zu einem Preise ver-
kauft, der jetzt wohl die höchste aller Utopien der Silbergläubigen erweist.
Die Bemerkung des Abg. Windthorst, daß die neueste deutsche An-
leihe auch vom Ausland stark gezeichnet sei, ist allerdings richtig.
Zwar haben nicht gerade Frankreich und England, wohl aber die
Belgier sehr starke Summen von dieser Anleihe übernommen, aber
Hrn. v. Frege kann ich versichern, daß die Belgier sich auch nicht
mit einem Pfennig daran betheiligt hätten, wenn sie daran
zweifelten, daß wir Zinsen und Capital jemals anders zu zahlen
willens wären, als in Gold und Goldeswerth. (Heiterkeit.) Im
übrigen sehe ich ganz ruhig dem Gang der Dinge entgegen, so-
weit es sich um unser liebes Deutschland handelt. Seit ich auf
der Bresche stehe für unsre gute solvable Reichswährung, seit bei-
nahe 15 Jahren, seit ich das furchtbare Fiasco erlebt habe, das
die Silberleute in Amerika und damit in der ganzen Welt gemacht
haben, bin ich ganz ruhig darüber, daß uns keine Gefährdung
unsrer Währung bevorsteht. Auch das Ausland kann sich ganz ruhig
auf die Zahlungsfähigkeit des Deutschen Reichs in Gold verlassen.
Wir sehen wahrscheinlich einem neuen Experiment auf diesem
interessanten Gebiete entgegen. Wir hören aus Amerika, daß die
demokratische Partei, die zwar eine Gegnerin der Zollmaßnahmen
der Mac Kinley-Bill, aber womöglich eine noch eifrigere Partei-
gängerin der Silberbill ist, die Free Coinage proclamiren wird
und zwar nach dem alten Paritätsverhältniß von 1 : 15 1/2,
während das factische Verhältniß jetzt 1 : 30 ist. Das wird ein
sehr interessantes Schauspiel sein; da wird geschehen, was die
Herren Bimetallisten immer von Frankreich gewünscht haben, daß
eine große Nation von 66 Millionen dieses Experiment machen
wird, und wir können einmal ruhig sehen, wie die Dinge ver-
laufen. Sollte wirklich ein amerikanischer Emissär herüberkommen,
um die verschiedenen europäischen Staaten zur Mitwirkung an
diesem schönen Experiment einzuladen, ich bin ganz sicher, daß,
obwohl Hr. v. Scholz, ein allerdings sehr feiner Kenner
der Münzverhältnisse, nicht mehr hier ist, auch sein jetziger
Nachfolger Hr. Miquel -- dieses Vertrauen habe ich
absolut zu ihm -- uns nicht den Amerikanern ausliefern wird mit
ihren Experimenten, das Silber in die Höhe zu bringen. Nun
noch ein Wort an meinen hochverehrten, etwas schalkhaften Freund
Dr. Windthorst. Er hat erklärt, die Ansicht, daß man jetzt noch
Ostafrika aufgeben solle, könne er nicht theilen; aus Nationalstolz
würde er niemals darauf eingehen. Es wundert mich, daß ein
Mann, der unter dem Feldgeschrei von "national" so viel zu leiden
gehabt hat, nun kein anderes Argument mir gegenüber anzuführen
hat, als wieder eben dieses Feldgeschrei. (Sehr gut! links.) Ich
kann leider nur dem Abg. Bebel Recht geben, daß Hr. Windthorst
seit der Zeit, wo wir zuerst mit Colonialpolitik befaßt wurden, ein
"tantum mutatus ab illo" geworden ist, und seine gewandteste
Dialectik wird an ihm die Mohrenwäsche nicht fertig bringen, die
nöthig wäre, um uns zu zeigen, daß er immer so wie jetzt in dem
Verhätniß zu den Negern in Ostafrika gestanden hätte. (Heiterkeit.)
In der Commission vom Jahre 1884 theilte noch der Abg. Windt-
horst meine ablehnende Haltung gegen die Colonialpolitik und
gebrauchte selbst mehrfach das Wort "Colonialschwindel". Seit
seinem Colonialantrag hat eine erhebliche Wandlung bei ihm
stattgefunden. Ihm vorzugsweise ist es zuzuschreiben, daß wir so
tief in die Colonialpolitik hineingerathen sind, seitdem er aus
einem Saulus ein Paulus geworden ist. Wie sein Weg nach
Damascus gegangen ist, darüber kann ich nur Vermuthungen an-
stellen. Jetzt gehört er aber unstreitig zu den stärksten Colonial-
schwärmern des Deutschen Reiches; er will sogar in Afrika Be-
völkerungs- und Niederlassungspolitik treiben -- ein Gedanke, der
selbst in unsern Weißbüchern noch nicht aufgetaucht ist. Heute erst
hat Hr. Windthorst uns diese Flagge gehißt. Aus welchem
Grunde? Es ist gestern oder heute ein Mann bei ihm gewesen,
der sich in Ostafrika glaubt ansiedeln zu können! Wenn der Abg.
Windthorst solche Unterhaltungen für durchschlagende Belehrungen
hält, möchte ich ihn in Zukunft bitten, solch einen Mann einmal
mit in den Vorsaal des Reichstags zu bringen, damit wir von sol-
chen Belehrungen doch auch etwas profitiren. (Heiterkeit.) Ich halte die
Zukunft von Ostafrika, insofern unsre Ausgaben lohnend wieder-
erstattet werden sollen, für ein Buch mit sieben Siegeln: die Erfolge
sind höchst ungewiß, die Entbehrungen der Steuerzahler im höch-
sten Grade gewiß. Der Abg. Scipio hat gestern aus einer mir
ganz begreiflichen Discretion die außerordentlich schönen Aussichten
der Ostafrikanischen Gesellschaft nicht ausplaudern wollen; vielleicht
[Spaltenumbruch] wird das hier später ein Anderer thun. Einstweilen bin ich auch
noch nicht der Ansicht des Abg. Windthorst, daß das Reich eine
Eisenbahn von der Küste nach dem Kilimandscharo bauen soll.
Wenn aber der Abg. Windthorst hier einen dahin gehenden An-
trag stellt, wird er die Mojorität des Hauses haben, meine Stimme
aber nicht. Wird die Bahn gebaut, so bin ich dafür, daß die
erste Locomotive, die in den dunklen Welttheil hineinführt, "Dr.
Ludwig Windthorst" heißt. (Große Heiterkeit.)

Reichskanzler v. Caprivi:

Meine Herren! Der Hr. Abg.
Bamberger hat die Güte gehabt, zu erklären, mit Rücksicht auf
meine mangelhafte Vorbildung und meine kurze Schulung in den
Geschäften, denen obzuliegen jetzt meine Pflicht ist, wolle er mir
Schonung angedeihen lassen. Er hat in der ihm eigenen urbanen
Art denselben Gedanken gegeben, den im Frühjahr an anderer
Stelle der Hr. Abg. Richter in die Worte kleidete, man wolle
mir ja noch einige Schonzeit geben. (Heiterkeit). Was meine
Person anlangt -- und es ist mir jedesmal leid, wenn ich von
derselben hier sprechen muß, aber ich sehe mich dazu genöthigt --
so habe ich noch nie in meinem Leben von irgend Jemand Scho-
nung verlangt, und ich würde bitten, auch hier mir dieselbe nicht
angedeihen zu lassen. Ich weiß auch nicht, ob die Regierung in
der Zeit, seit ich die Ehre habe, ihr vorzustehen, Dinge getrieben
hat, die ihr den Ruf zuziehen könnten, sie wäre schonungsbedürftig.
So lieb mir diese freundliche Aeußerung des Hrn. Bamberger
ist, so muß ich ihm doch sagen: der Ton, den der Hr. Abg.
Richter neulich anschlug, war mir in dem Augenblick lieber.
Ich befand mich hier -- Sie werden erlauben, daß ich das Bild
eines alten Soldaten gebrauche -- in dem Gefühl eines Officiers,
der weiß, er ist in der Nähe des Feindes, er kommt aber noch
nicht heraus; endlich fällt der erste Kanonenschuß und man hat
das erlösende Gefühl: da ist er (Heiterkeit). Ich darf übrigens
annehmen, daß die wenigen Worte, die ich in Bezug auf unser
Verhältniß zu Oesterreich geäußert habe, doch nicht so ganz werth-
los gewesen sein können; denn dieselbe Partei hat heute nun
ihren dritten Redner gegen diese wenigen Worte ins Gefecht ge-
schickt, und, um bei demselben Bilde zu bleiben, der alte Soldat
hat das beruhigende Gefühl, aus dem groben Geschützfeuer in das
kleine Gewehrfeuer gekommen zu sein. (Heiterkeit rechts.) Weil
ich der Meinung bin, daß es nicht richtig sei, während Vertrags-
verhandlungen mit anderen Staaten im Gange sind, Aeußerungen
in so gewichtigen Körperschaften, wie dieses Haus es ist, laut
werden zu lassen, enthalte ich mich auch noch heute jedes Eingehens
auf die Einzelheiten, die der Hr. Abg. Bamberger angeführt hat.
Ich bin nach wie vor der Ueberzeugung, die ich gestern aussprach,
und wenn ich auch nicht annähernd die wirthschaftspolitischen Kennt-
nisse des Hrn. Abg. Bamberger habe, so wird er mir vielleicht zu-
geben, daß er nicht die Kenntniß über die politischen Verhandlun-
gen hat, die in Bezug auf diesen Vertrag geschwebt haben und
schweben, wie ich. Und ist diese Voraussetzung richtig, so darf ich
aussprechen, daß ich Aeußerungen aus dieser Versammlung, so lange
Verhandlungen schweben, für durchaus schädlich halte. Wenn
ich auch Neuling in parlamentarischen Sitten bin, so möchte ich
doch annehmen, daß ich mit der Bitte, die ich neulich aussprach
-- und wie ich glaube, war meine Bitte nicht gereizt; die Ant-
wort darauf fiel weniger schüchtern aus -- mich nicht ins Unrecht
gesetzt habe. So viel ich weiß, besteht in fast allen parla-
mentarischen Körperschaften und vor allen Dingen in den
englischen, denen man doch constitutionelle Routine füglich
nicht absprechen kann, die Sitte, daß, wenn der Vertreter der
Regierung sich dahin ausspricht, daß politische Aeußerungen und
namentlich über schwebende Verhandlungen schädlich sein könnten,
die Debatte abgebrochen wird. (Sehr richtig! rechts.) Ich habe
keine Macht, dies zu erzwingen, ich kann nur constatiren, daß,
wenn durch solche Aeußerungen Schaden geschieht, die Verant-
wortung nicht auf mir liegt; ich habe, soweit es in meinen ge-
ringen Kräften steht, davor gewarnt. Der Herr Abgeordnete hat
zwei Stellen aus der Rede des Hrn. Abg. Plener vorgelesen,
einer Rede, die, wenn auch aus einer anderen Zeitung, mir in
demselben telegraphischen Auszuge vorliegt wie ihm; es ist
nicht der Urtext. Er hat eine Stelle vorgelesen, die von
der Verbilligung der Lebensmittel handelte, und ist darauf
zu einer dritten Stelle übergegangen, die von den dif-
ferentiellen Zöllen handelte. Die zwischenliegende Stelle hat
der Herr Abgeordnete aber nicht im Wortlaut wiedergegeben, wie
die Zeitung sie gibt, sondern er hat sie in seinen Aeußerungen
umschrieben. Nun möge es mir erlaubt sein, die zwischenliegende
Stelle vorzulesen. Nachdem also der Abg. Plener von den Lebens-
mitteln gesprochen hat, sagt er: "Deutschland muß dabei aus
innerpolitischen Gründen hier Ermäßigungen unter allen Umständen
eintreten lassen, ohne dasür erst von uns besondere Compensationen
verlangen zu können." Ich stelle nochmals der Erwägung des
Hauses anheim, ob Aeußerungen, wie sie hier gefallen sind, geeignet
sind, den Abg. Plener und die Oesterreicher in der Meinung zu
bestärken, daß Deutschland unter allen Umständen aus innerpoli-
tischen Gründen Ermäßigungen eintreten lassen muß oder nicht.
(Bravo! Sehr gut! Rechts).

Abg. Hahn (deutschcons.) entschuldigt Hrn. v. Frege, der
zu einer Berathung des Landesculturraths nach Dresden berufen
sei. Nach seiner Rückkehr werde er Hrn. Bebel antworten. Nach
Bebels Brandrede hätte Hr. Bamberger sich wohl hüten sollen,
solche Worte ins Volk zu schleudern: es hätten sich die Parteien
verbündet, um vereinigt dem Volke das Fell über die Ohren zu
ziehen. (Zustimmung rechts.) Redner vertheidigt die Getreide-
zölle und die Colonialpolitik. Die Socialdemokraten sagen immer,
was sie nicht wollen; sie nennen das bestehende Steuersystem einen
Unsinn, aber sie sagen nicht, welche Steuern sie denn wollen.
Daß auch andere Leute als die Socialdemokraten die Reichen
heranziehen wollen zur Steuer, beweist der Versuch der Conserva-
tiven, die reicheren Einkommen mit 5 Procent heranzuziehen. Alle
irdischen Verhältnisse haben Fehler, die man verbessern kann. Im
Zukunftsstaat Bebels wird auch nicht alle Noth aus der Welt ge-
schafft sein. Wenn Bebel die Verhältnisse auf dem Lande im
Osten kennen würde, dann würde er wissen, daß die Wohnungen
auf dem Lande viel besser sind als die Keller- und Dach-
wohnungen in den großen Städten, welche die armen Arbeiter zu
hohen Preisen nehmen müssen. Hr. Bebel sagt uns nicht, was er
an die Stelle der bestehenden Staats- und Gesellschafts-
ordnung setzen will. Wenn die Socialdemokraten den Land-
bewohnern ihren Gott und ihre Königstreue aus dem Herzen reden
wollen, dann wissen die Landbewohner, wie sie sich zu verhalten
haben. (Beifall rechts.)

Abg. v. Kardorff (Reichspartei):

Hrn. Bebel kann ich zu-
geben, daß die Wohnungsverhältnisse in Schlesien nicht immer so
gut waren, wie in den andern Provinzen, aber sie waren immer
noch besser, als die Wohnungen der Arbeiter in den Städten.
Die Arbeiter gehen nicht dahin, wo die Lebensmittel billiger sind,
sondern dahin, wo sie theurer sind. Die Rede Bebels war eine
geschickte Agitationsrede, aber wir wissen, daß wir mit einer ge-
fährlichen Gesellschaft zu kämpfen haben und werden mit ihren
fertig werden. Der Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung
würde nur zu einer Anarchie führen, denn nur in der friedlichen
[Spaltenumbruch] Entwicklung lassen sich die Fortschritte des Geistes erreichen, die
wir jetzt erreicht haben und weiter erreichen werden. Die Social-
demokraten wollen diese friedliche Entwicklung nicht, sprechen aber
ihre Gedanken nicht offen aus. Ich will es aber offen aussprechen,
daß die bestehende Gesetzgebung zur Bekämpfung der Social-
demokratie nicht ausreicht. Die Erfahrung wird es bald
lehren. (Widerspruch links.) Wenn die Staatsmaschine bei großen
Strikes still steht, so ist die Gesetzgebung nicht ausreichend. Ich
will wünschen, daß ich Unrecht habe. (Zustimmung rechts.)

Abg. Wisser (wildlib.):

In der Rede Bebels war so viel
Gutes und Richtiges enthalten, daß dadurch das Unrichtige über-
wogen wird; aber die Antworten der letzten beiden Redner waren
nicht geeignet, das Unrichtige zu widerlegen, sie zeigten nur die
Reformbedürftigkeit der Zustände. Das Zollsystem kommt nur den
großen Betrieben zugute; die Franckenstein'sche Clausel des Zoll-
tarifgesetzes zwingt das Reich, seine Einnahmen an die einzelnen
Staaten zu vertheilen und seinerseits Schulden aufzunehmen;
hoffentlich wird dieser Uebelstand bald beseitigt. Die Zuckersteuer
soll endlich reformirt werden, es müßte nun auch die Differential-
steuer für den Spiritus einheitlich geregelt werden. Mit der Er-
mäßigung der landwirthschaftlichen Zölle wird auch die Ermäßigung
der Industrieschutzzölle Hand in Hand gehen müssen.

Damit schließt die Debatte. Nach einer Reihe persönlicher
Bemerkungen erklärt Abg. v. Liebermann (Antisemit) zur Geschästs-
ordnung:

Ich freue mich, daß Herr Bebel Untersuchungen über die
Lage der ländlichen Bevölkerung anstellen will. Er wird dabei auf
merkwürdige antisemitische Ergebnisse kommen.

Einem von allen Parteien unterstützten Antrag gemäß wird
darauf ein großer Theil des Etats der Budgetcommission
überwiesen. Ohne Debatte erledigt das Haus dann noch die Denk-
schrift
über die Ausführung der Anleihegesetze und die zweite
Berathung des Gesetzentwurfs, betreffend die Controle des
Reichshaushaltsetats für
1890/91. Schluß gegen 5 Uhr.
Nächste Sitzung Freitag 11 Uhr. Tagesordnung: Erste und zweite
Berathung des Handelsvertrags mit der Türkei. Erste Lesung der
Vorlage über die Zuckersteuer.



Die Schulreform-Conferenz in Berlin.

Tel. In der gestrigen Sitzung der
Conferenz zur Berathung von Fragen, betreffend das höhere Schul-
wesen, nahmen nach Schluß des letzten Berichts noch das Wort:
Der Geh. Oberregierungsrath Wehrenpfennig, welcher die be-
stehenden Schularten vom Standpunkt des Bedürfnisses der tech-
nischen Hochschulen beleuchtete, der Geh. Regierungsrath Dr.
Schottmüller, der Geh. Oberregierungsrath Dr. Stauder,
welcher thatsächliche Mittheilungen über die Entwicklung und die
Arten der höheren Schulen in Preußen, deren Ausbreitung und
Benutzung machte, der Geh. Regierungsrath Dr. Klix, welcher
neben dem gegenwärtigen Gymnasium ein lateinisches Gymnasium
für möglich erachtete, v. Schenckendorff, welcher die socialpoli-
tische Seite der Frage betonte, und der Geh. Commercienrath
Kaselowsky, welcher die Wünsche des Gewerbestandes zum Aus-
druck brachte. Die heutige Sitzung wurde durch den Cultusmini-
ster v. Goßler mit der Mittheilung eröffnet, daß er die Sitzungen
der Conferenz, einem aus der Versammlung ihm zugegangenen
Antrage entsprechend, nicht über den 17. oder 18. December aus-
zudehnen beabsichtige. Die Discussion über die Fragen der Bei-
behaltung der bestehenden Schularten und des Lehrplans der Real-
gymnasien wurde fortgesetzt. Es sprachen hiezu: Gymnasialdirector
Dr. Eitner, Prof. Dr. Paulsen, welcher für Beibehaltung
der Realgymnasien eintrat, Realgymnasialdirector Dr. Schlee,
welcher sich in gleichem Sinne aussprach, Stadtschulrath Dr. Ber-
tram
und der Geh. Regierungsrath Dr. Albrecht. Das Schlußwort
hatten Realgymnasialdirector Dr. Matthias, Dr. Frick und
Realgymnasialdirector Dr. Schauenburg. Hierauf wurde unter
einstweiliger weiterer Aussetzung der Abstimmung zur Berathung
der Frage übergegangen: "Empfiehlt es sich: a) an Orten, wo
sich nur gymnasiale oder realgymnasiale Anstalten befinden, in den
drei unteren Classen nach örtlichem Bedarf neben und statt des
Latein einen verstärkten deutschen und modern-fremdsprachlichen
Unterricht einzuführen? b) an Orten, wo nur lateinlose höhere
Schulen sind, an deren drei unteren Classen nach örtlichem Bedarf
lateinischen Unterricht anzugliedern? c) alle siebenstufigen Anstalten
(Progymnasien, Realprogymnasien und Realschulen) auf sechsstusige
zurückzuführen? d) den Lehrplan der Realschulen und der höheren
Bürgerschulen gleich zu gestalten und beide so einzurichten, daß un-
beschadet der anders gearteten methodischen Behandlung des Lehr-
stoffes und des Abschlusses des Bildungsgangs die Fortsetzung des-
selben auf die Oberrealschule erleichtert wird? Hiezu sind folgende
Anträge gestellt: zu a) von Dr. Kropatscheck: die Worte "neben
und" vor "statt des Latein" zu streichen; von Stadtschulrath Dr. Ber-
tram:
die Nebenfrage zu stellen: Empfiehlt es sich, für den Fall
der Bejahung der Frage zu a) das Latein erst in Tertia beginnen
zu lassen und die dadurch freigewordene Zeit zum verstärkten Be-
triebe einer modernen fremden Sprache, bezw. des Deutschen und
der Geometrie zu verwenden? Zu c von Professor Dr. Paulsen:
Vor "zurückzuführen" die Worte "in der Regel" einzuschieben; von
Gymnasialdirector Dr. Schulze: Die Rebenfrage zu stellen: Em-
pfiehlt es sich für den Fall der Bejahung der Frage zu c, an den
Schluß des sechsten Jahrescursus dieser Schulen Entlassungs-
prüfungen zu verlegen? Als Berichterstatter zur vorbezeichneten
Frage sprachen Gewerbeschuldirector Dr. Holzmüller, Stadt-
schulrath Dr. Bertram und Gymnasialdirector Dr. Schulze,
als Antragsteller außerdem Dr. Kropatscheck und Professor
Paulsen. An der Discussion nahmen theil: Geh. Ober-
regierungsrath Dr. Stauder, geh. Oberfinanzrath Germar (als
Commissar des Finanzministeriums), die Directoren Dr. Fiedler,
Dr. Matthias, sowie der Geh. Baurath Ende. Der Antrag
Kropatscheck wurde angenommen, der Antrag Paulsen
abgelehnt.
Die von Stadtschulrath Bertram angeregte Frage
wurde in der Abstimmung verneint, die Frage des Gymnasialdirectors
Schulzebejaht, ebenso nahezu einstimmig die Hauptfragen zu a
und d. Dem Vernehmen nach wurde im Fortgange der heutigen
Sitzung der Schulconferenz die Frage, ob es sich empfiehlt, an
die auf einen neunjährigen Lehrgang angelegten Anstalten mit
Rücksicht auf Schüler, welche vor Vollendung desselben ins
praktische Leben übertreten, einen früheren relativen Abschluß nach
dem sechsten Jahrescursus eintreten zu lassen, mit großer Majo-
rität bejaht. Die weitere Frage, ob zur Förderung eines erfolg-
reichen Unterrichtes anderweitige oder neue Normen über die
Maximalfrequenz der Classen, die zulässige Schülerzahl und die
Classenzahl der Gesammtanstalt, über eine durchgängige Trennung
der Tertia und Secunda in zwei Classen nach Jahrescursen,
sowie über die Pflichtstunden der Lehrer wünschenswerth seien,
wurde fast einstimmig bejaht. Die Maximalfrequenz, auch für
die unteren Classen, wurde auf 40, die zulässige Gesammtschüler-
zahl auf 400, die zulässige Pflichtstundenzahl der Lehrer auf 22
bemessen.



München, Freitag Allgemeine Zeitung 12. December 1890. Zweites Morgenblatt Nr. 344.
[Spaltenumbruch] unſre Induſtrie die Ausfuhr nach Oeſterreich erleichtern, und da-
gegen müſſen wir die Conceſſionen machen, die nöthig ſind, damit
von der anderen Seite Conceſſionen gemacht werden. Man muß
Tarifſätze binden, beſtimmte Zölle für längere Zeit feſtlegen, denn
es kommt weniger darauf an, wie die Zölle ſind, als daß ſie feſt-
gelegt werden auf lange Zeit, daß nicht immer damit agitirt werden kann
und Unſicherheit in dem Zuſtande der beiden Länder herbeigeführt wird.
Wenn es aber eine Gefahr hätte, ſeine Meinung zu äußeren, ſo
wäre überhaupt nie ein Handelsvertrag gemacht worden. Der Abg.
v. Frege hat geſtern ſogar — er hat ihn ſpäter erfreulicher Weiſe
modiſicirt — ſo einen leiſen Schatten eines Verdachtes des Landes-
verraths ausgebreitet über die, welche ſich erdreiſteten, Meinungen
über dieſe Handelsverträge zu äußern. Der Abg. Graf Behr berief
ſich auch darauf, daß jetzt ſo viel von der Freigebung der Vieh-
einſuhr die Rede iſt. Wer hat ſich denn darum bemüht? Die
bayeriſche Regierung, und wenn ich nicht irre, die ſächſiſche Regie-
rung haben ſich dieſen Schein von Landesverrath zu Schulden
kommen laſſen, indem ſie laut und vernehmlich dafür agitirten.
Nein, mit ſolchen Rückſichten in der Oeffentlichkeit Diplomatie zu
machen, geht nicht an. Es ſchadet auch nichts. Die Geheimniſſe,
die hier ausgeplaudert werden, ſind das, was man le secret du
public
nennt. Die Delegirten der beiden Regierungen werden,
wenn ſie in ihren Conferenzzimmern zuſammen geſeſſen
haben, ſich damit nicht aufgehalten haben; ſie wiſſen
ganz genau, daß es keine Geheimniſſe auszuplaudern gibt.
Ich ſehe in ſolcher Meinungsäußerung ſo wenig Schaden, daß ich
gern meine, wenn auch nur beiläufige Mitwirkung zu einer neuen,
dieſer Tage erſcheinenden Denkſchrift hergegeben habe, welche nach-
weist, wie bedenklich es wäre, ſeitens der deutſchen Regierung
auf den Vorſchlag von Differentialzöllen einzugehen, und ich glaube
mir herausnehmen zu dürfen, dieſe Denkſchrift, die nicht von mir
ausgeht, ſondern nur von mir begutachtet iſt, der Regierung und
den Herren Collegen beſtens zu empfehlen. Ich glaube damit den
Weg für die künftige Beſprechung dieſer zarten Angelegenheit des
öſterreichiſchen Handelsvertrags geebnet und das Mißverſtändniß
zwiſchen uns und dem Reichskanzler definitiv beſeitigt zu haben.
Hr. v. Frege beſchäftigt ſich auch mit der Silberfrage. Es iſt für
die Verhandlungen des Reichstages nicht ſehr vortheilhaft, dieſe
verwickelte Frage ſo beiläufig mit einem Piſtolenſchuß im Vorüber-
gehen anzuſchießen. Ich will auf die verſchiedenen Aeußerungen
des Abg. v. Frege nicht eingehen, ſondern erſt abwarten, ob An-
träge aus dem Hauſe oder, was ich nicht entfernt fürchte,
Vorſchläge der Regierung kommen. Ich meine allerdings, daß wir
den Reſt von Silber, den wir leider noch haben, nicht zu den
ſchlechten Preiſen des letzten Jahres von 42 bis 45 Pence hätten
verkaufen ſollen. Aber wäre man meiner Anſicht gefolgt, als ich
1879 mich widerſetzte, daß die Verkäufe ſiſtirt würden, als das
Silber auf 51 und 52 ſtand, ſo hätte man es zu einem Preiſe ver-
kauft, der jetzt wohl die höchſte aller Utopien der Silbergläubigen erweist.
Die Bemerkung des Abg. Windthorſt, daß die neueſte deutſche An-
leihe auch vom Ausland ſtark gezeichnet ſei, iſt allerdings richtig.
Zwar haben nicht gerade Frankreich und England, wohl aber die
Belgier ſehr ſtarke Summen von dieſer Anleihe übernommen, aber
Hrn. v. Frege kann ich verſichern, daß die Belgier ſich auch nicht
mit einem Pfennig daran betheiligt hätten, wenn ſie daran
zweifelten, daß wir Zinſen und Capital jemals anders zu zahlen
willens wären, als in Gold und Goldeswerth. (Heiterkeit.) Im
übrigen ſehe ich ganz ruhig dem Gang der Dinge entgegen, ſo-
weit es ſich um unſer liebes Deutſchland handelt. Seit ich auf
der Breſche ſtehe für unſre gute ſolvable Reichswährung, ſeit bei-
nahe 15 Jahren, ſeit ich das furchtbare Fiasco erlebt habe, das
die Silberleute in Amerika und damit in der ganzen Welt gemacht
haben, bin ich ganz ruhig darüber, daß uns keine Gefährdung
unſrer Währung bevorſteht. Auch das Ausland kann ſich ganz ruhig
auf die Zahlungsfähigkeit des Deutſchen Reichs in Gold verlaſſen.
Wir ſehen wahrſcheinlich einem neuen Experiment auf dieſem
intereſſanten Gebiete entgegen. Wir hören aus Amerika, daß die
demokratiſche Partei, die zwar eine Gegnerin der Zollmaßnahmen
der Mac Kinley-Bill, aber womöglich eine noch eifrigere Partei-
gängerin der Silberbill iſt, die Free Coinage proclamiren wird
und zwar nach dem alten Paritätsverhältniß von 1 : 15 ½,
während das factiſche Verhältniß jetzt 1 : 30 iſt. Das wird ein
ſehr intereſſantes Schauſpiel ſein; da wird geſchehen, was die
Herren Bimetalliſten immer von Frankreich gewünſcht haben, daß
eine große Nation von 66 Millionen dieſes Experiment machen
wird, und wir können einmal ruhig ſehen, wie die Dinge ver-
laufen. Sollte wirklich ein amerikaniſcher Emiſſär herüberkommen,
um die verſchiedenen europäiſchen Staaten zur Mitwirkung an
dieſem ſchönen Experiment einzuladen, ich bin ganz ſicher, daß,
obwohl Hr. v. Scholz, ein allerdings ſehr feiner Kenner
der Münzverhältniſſe, nicht mehr hier iſt, auch ſein jetziger
Nachfolger Hr. Miquel — dieſes Vertrauen habe ich
abſolut zu ihm — uns nicht den Amerikanern ausliefern wird mit
ihren Experimenten, das Silber in die Höhe zu bringen. Nun
noch ein Wort an meinen hochverehrten, etwas ſchalkhaften Freund
Dr. Windthorſt. Er hat erklärt, die Anſicht, daß man jetzt noch
Oſtafrika aufgeben ſolle, könne er nicht theilen; aus Nationalſtolz
würde er niemals darauf eingehen. Es wundert mich, daß ein
Mann, der unter dem Feldgeſchrei von „national“ ſo viel zu leiden
gehabt hat, nun kein anderes Argument mir gegenüber anzuführen
hat, als wieder eben dieſes Feldgeſchrei. (Sehr gut! links.) Ich
kann leider nur dem Abg. Bebel Recht geben, daß Hr. Windthorſt
ſeit der Zeit, wo wir zuerſt mit Colonialpolitik befaßt wurden, ein
„tantum mutatus ab illo“ geworden iſt, und ſeine gewandteſte
Dialectik wird an ihm die Mohrenwäſche nicht fertig bringen, die
nöthig wäre, um uns zu zeigen, daß er immer ſo wie jetzt in dem
Verhätniß zu den Negern in Oſtafrika geſtanden hätte. (Heiterkeit.)
In der Commiſſion vom Jahre 1884 theilte noch der Abg. Windt-
horſt meine ablehnende Haltung gegen die Colonialpolitik und
gebrauchte ſelbſt mehrfach das Wort „Colonialſchwindel“. Seit
ſeinem Colonialantrag hat eine erhebliche Wandlung bei ihm
ſtattgefunden. Ihm vorzugsweiſe iſt es zuzuſchreiben, daß wir ſo
tief in die Colonialpolitik hineingerathen ſind, ſeitdem er aus
einem Saulus ein Paulus geworden iſt. Wie ſein Weg nach
Damascus gegangen iſt, darüber kann ich nur Vermuthungen an-
ſtellen. Jetzt gehört er aber unſtreitig zu den ſtärkſten Colonial-
ſchwärmern des Deutſchen Reiches; er will ſogar in Afrika Be-
völkerungs- und Niederlaſſungspolitik treiben — ein Gedanke, der
ſelbſt in unſern Weißbüchern noch nicht aufgetaucht iſt. Heute erſt
hat Hr. Windthorſt uns dieſe Flagge gehißt. Aus welchem
Grunde? Es iſt geſtern oder heute ein Mann bei ihm geweſen,
der ſich in Oſtafrika glaubt anſiedeln zu können! Wenn der Abg.
Windthorſt ſolche Unterhaltungen für durchſchlagende Belehrungen
hält, möchte ich ihn in Zukunft bitten, ſolch einen Mann einmal
mit in den Vorſaal des Reichstags zu bringen, damit wir von ſol-
chen Belehrungen doch auch etwas profitiren. (Heiterkeit.) Ich halte die
Zukunft von Oſtafrika, inſofern unſre Ausgaben lohnend wieder-
erſtattet werden ſollen, für ein Buch mit ſieben Siegeln: die Erfolge
ſind höchſt ungewiß, die Entbehrungen der Steuerzahler im höch-
ſten Grade gewiß. Der Abg. Scipio hat geſtern aus einer mir
ganz begreiflichen Discretion die außerordentlich ſchönen Ausſichten
der Oſtafrikaniſchen Geſellſchaft nicht ausplaudern wollen; vielleicht
[Spaltenumbruch] wird das hier ſpäter ein Anderer thun. Einſtweilen bin ich auch
noch nicht der Anſicht des Abg. Windthorſt, daß das Reich eine
Eiſenbahn von der Küſte nach dem Kilimandſcharo bauen ſoll.
Wenn aber der Abg. Windthorſt hier einen dahin gehenden An-
trag ſtellt, wird er die Mojorität des Hauſes haben, meine Stimme
aber nicht. Wird die Bahn gebaut, ſo bin ich dafür, daß die
erſte Locomotive, die in den dunklen Welttheil hineinführt, „Dr.
Ludwig Windthorſt“ heißt. (Große Heiterkeit.)

Reichskanzler v. Caprivi:

Meine Herren! Der Hr. Abg.
Bamberger hat die Güte gehabt, zu erklären, mit Rückſicht auf
meine mangelhafte Vorbildung und meine kurze Schulung in den
Geſchäften, denen obzuliegen jetzt meine Pflicht iſt, wolle er mir
Schonung angedeihen laſſen. Er hat in der ihm eigenen urbanen
Art denſelben Gedanken gegeben, den im Frühjahr an anderer
Stelle der Hr. Abg. Richter in die Worte kleidete, man wolle
mir ja noch einige Schonzeit geben. (Heiterkeit). Was meine
Perſon anlangt — und es iſt mir jedesmal leid, wenn ich von
derſelben hier ſprechen muß, aber ich ſehe mich dazu genöthigt —
ſo habe ich noch nie in meinem Leben von irgend Jemand Scho-
nung verlangt, und ich würde bitten, auch hier mir dieſelbe nicht
angedeihen zu laſſen. Ich weiß auch nicht, ob die Regierung in
der Zeit, ſeit ich die Ehre habe, ihr vorzuſtehen, Dinge getrieben
hat, die ihr den Ruf zuziehen könnten, ſie wäre ſchonungsbedürftig.
So lieb mir dieſe freundliche Aeußerung des Hrn. Bamberger
iſt, ſo muß ich ihm doch ſagen: der Ton, den der Hr. Abg.
Richter neulich anſchlug, war mir in dem Augenblick lieber.
Ich befand mich hier — Sie werden erlauben, daß ich das Bild
eines alten Soldaten gebrauche — in dem Gefühl eines Officiers,
der weiß, er iſt in der Nähe des Feindes, er kommt aber noch
nicht heraus; endlich fällt der erſte Kanonenſchuß und man hat
das erlöſende Gefühl: da iſt er (Heiterkeit). Ich darf übrigens
annehmen, daß die wenigen Worte, die ich in Bezug auf unſer
Verhältniß zu Oeſterreich geäußert habe, doch nicht ſo ganz werth-
los geweſen ſein können; denn dieſelbe Partei hat heute nun
ihren dritten Redner gegen dieſe wenigen Worte ins Gefecht ge-
ſchickt, und, um bei demſelben Bilde zu bleiben, der alte Soldat
hat das beruhigende Gefühl, aus dem groben Geſchützfeuer in das
kleine Gewehrfeuer gekommen zu ſein. (Heiterkeit rechts.) Weil
ich der Meinung bin, daß es nicht richtig ſei, während Vertrags-
verhandlungen mit anderen Staaten im Gange ſind, Aeußerungen
in ſo gewichtigen Körperſchaften, wie dieſes Haus es iſt, laut
werden zu laſſen, enthalte ich mich auch noch heute jedes Eingehens
auf die Einzelheiten, die der Hr. Abg. Bamberger angeführt hat.
Ich bin nach wie vor der Ueberzeugung, die ich geſtern ausſprach,
und wenn ich auch nicht annähernd die wirthſchaftspolitiſchen Kennt-
niſſe des Hrn. Abg. Bamberger habe, ſo wird er mir vielleicht zu-
geben, daß er nicht die Kenntniß über die politiſchen Verhandlun-
gen hat, die in Bezug auf dieſen Vertrag geſchwebt haben und
ſchweben, wie ich. Und iſt dieſe Vorausſetzung richtig, ſo darf ich
ausſprechen, daß ich Aeußerungen aus dieſer Verſammlung, ſo lange
Verhandlungen ſchweben, für durchaus ſchädlich halte. Wenn
ich auch Neuling in parlamentariſchen Sitten bin, ſo möchte ich
doch annehmen, daß ich mit der Bitte, die ich neulich ausſprach
— und wie ich glaube, war meine Bitte nicht gereizt; die Ant-
wort darauf fiel weniger ſchüchtern aus — mich nicht ins Unrecht
geſetzt habe. So viel ich weiß, beſteht in faſt allen parla-
mentariſchen Körperſchaften und vor allen Dingen in den
engliſchen, denen man doch conſtitutionelle Routine füglich
nicht abſprechen kann, die Sitte, daß, wenn der Vertreter der
Regierung ſich dahin ausſpricht, daß politiſche Aeußerungen und
namentlich über ſchwebende Verhandlungen ſchädlich ſein könnten,
die Debatte abgebrochen wird. (Sehr richtig! rechts.) Ich habe
keine Macht, dies zu erzwingen, ich kann nur conſtatiren, daß,
wenn durch ſolche Aeußerungen Schaden geſchieht, die Verant-
wortung nicht auf mir liegt; ich habe, ſoweit es in meinen ge-
ringen Kräften ſteht, davor gewarnt. Der Herr Abgeordnete hat
zwei Stellen aus der Rede des Hrn. Abg. Plener vorgeleſen,
einer Rede, die, wenn auch aus einer anderen Zeitung, mir in
demſelben telegraphiſchen Auszuge vorliegt wie ihm; es iſt
nicht der Urtext. Er hat eine Stelle vorgeleſen, die von
der Verbilligung der Lebensmittel handelte, und iſt darauf
zu einer dritten Stelle übergegangen, die von den dif-
ferentiellen Zöllen handelte. Die zwiſchenliegende Stelle hat
der Herr Abgeordnete aber nicht im Wortlaut wiedergegeben, wie
die Zeitung ſie gibt, ſondern er hat ſie in ſeinen Aeußerungen
umſchrieben. Nun möge es mir erlaubt ſein, die zwiſchenliegende
Stelle vorzuleſen. Nachdem alſo der Abg. Plener von den Lebens-
mitteln geſprochen hat, ſagt er: „Deutſchland muß dabei aus
innerpolitiſchen Gründen hier Ermäßigungen unter allen Umſtänden
eintreten laſſen, ohne daſür erſt von uns beſondere Compenſationen
verlangen zu können.“ Ich ſtelle nochmals der Erwägung des
Hauſes anheim, ob Aeußerungen, wie ſie hier gefallen ſind, geeignet
ſind, den Abg. Plener und die Oeſterreicher in der Meinung zu
beſtärken, daß Deutſchland unter allen Umſtänden aus innerpoli-
tiſchen Gründen Ermäßigungen eintreten laſſen muß oder nicht.
(Bravo! Sehr gut! Rechts).

Abg. Hahn (deutſchconſ.) entſchuldigt Hrn. v. Frege, der
zu einer Berathung des Landesculturraths nach Dresden berufen
ſei. Nach ſeiner Rückkehr werde er Hrn. Bebel antworten. Nach
Bebels Brandrede hätte Hr. Bamberger ſich wohl hüten ſollen,
ſolche Worte ins Volk zu ſchleudern: es hätten ſich die Parteien
verbündet, um vereinigt dem Volke das Fell über die Ohren zu
ziehen. (Zuſtimmung rechts.) Redner vertheidigt die Getreide-
zölle und die Colonialpolitik. Die Socialdemokraten ſagen immer,
was ſie nicht wollen; ſie nennen das beſtehende Steuerſyſtem einen
Unſinn, aber ſie ſagen nicht, welche Steuern ſie denn wollen.
Daß auch andere Leute als die Socialdemokraten die Reichen
heranziehen wollen zur Steuer, beweist der Verſuch der Conſerva-
tiven, die reicheren Einkommen mit 5 Procent heranzuziehen. Alle
irdiſchen Verhältniſſe haben Fehler, die man verbeſſern kann. Im
Zukunftsſtaat Bebels wird auch nicht alle Noth aus der Welt ge-
ſchafft ſein. Wenn Bebel die Verhältniſſe auf dem Lande im
Oſten kennen würde, dann würde er wiſſen, daß die Wohnungen
auf dem Lande viel beſſer ſind als die Keller- und Dach-
wohnungen in den großen Städten, welche die armen Arbeiter zu
hohen Preiſen nehmen müſſen. Hr. Bebel ſagt uns nicht, was er
an die Stelle der beſtehenden Staats- und Geſellſchafts-
ordnung ſetzen will. Wenn die Socialdemokraten den Land-
bewohnern ihren Gott und ihre Königstreue aus dem Herzen reden
wollen, dann wiſſen die Landbewohner, wie ſie ſich zu verhalten
haben. (Beifall rechts.)

Abg. v. Kardorff (Reichspartei):

Hrn. Bebel kann ich zu-
geben, daß die Wohnungsverhältniſſe in Schleſien nicht immer ſo
gut waren, wie in den andern Provinzen, aber ſie waren immer
noch beſſer, als die Wohnungen der Arbeiter in den Städten.
Die Arbeiter gehen nicht dahin, wo die Lebensmittel billiger ſind,
ſondern dahin, wo ſie theurer ſind. Die Rede Bebels war eine
geſchickte Agitationsrede, aber wir wiſſen, daß wir mit einer ge-
fährlichen Geſellſchaft zu kämpfen haben und werden mit ihren
fertig werden. Der Umſturz der beſtehenden Geſellſchaftsordnung
würde nur zu einer Anarchie führen, denn nur in der friedlichen
[Spaltenumbruch] Entwicklung laſſen ſich die Fortſchritte des Geiſtes erreichen, die
wir jetzt erreicht haben und weiter erreichen werden. Die Social-
demokraten wollen dieſe friedliche Entwicklung nicht, ſprechen aber
ihre Gedanken nicht offen aus. Ich will es aber offen ausſprechen,
daß die beſtehende Geſetzgebung zur Bekämpfung der Social-
demokratie nicht ausreicht. Die Erfahrung wird es bald
lehren. (Widerſpruch links.) Wenn die Staatsmaſchine bei großen
Strikes ſtill ſteht, ſo iſt die Geſetzgebung nicht ausreichend. Ich
will wünſchen, daß ich Unrecht habe. (Zuſtimmung rechts.)

Abg. Wiſſer (wildlib.):

In der Rede Bebels war ſo viel
Gutes und Richtiges enthalten, daß dadurch das Unrichtige über-
wogen wird; aber die Antworten der letzten beiden Redner waren
nicht geeignet, das Unrichtige zu widerlegen, ſie zeigten nur die
Reformbedürftigkeit der Zuſtände. Das Zollſyſtem kommt nur den
großen Betrieben zugute; die Franckenſtein’ſche Clauſel des Zoll-
tarifgeſetzes zwingt das Reich, ſeine Einnahmen an die einzelnen
Staaten zu vertheilen und ſeinerſeits Schulden aufzunehmen;
hoffentlich wird dieſer Uebelſtand bald beſeitigt. Die Zuckerſteuer
ſoll endlich reformirt werden, es müßte nun auch die Differential-
ſteuer für den Spiritus einheitlich geregelt werden. Mit der Er-
mäßigung der landwirthſchaftlichen Zölle wird auch die Ermäßigung
der Induſtrieſchutzzölle Hand in Hand gehen müſſen.

Damit ſchließt die Debatte. Nach einer Reihe perſönlicher
Bemerkungen erklärt Abg. v. Liebermann (Antiſemit) zur Geſchäſts-
ordnung:

Ich freue mich, daß Herr Bebel Unterſuchungen über die
Lage der ländlichen Bevölkerung anſtellen will. Er wird dabei auf
merkwürdige antiſemitiſche Ergebniſſe kommen.

Einem von allen Parteien unterſtützten Antrag gemäß wird
darauf ein großer Theil des Etats der Budgetcommiſſion
überwieſen. Ohne Debatte erledigt das Haus dann noch die Denk-
ſchrift
über die Ausführung der Anleihegeſetze und die zweite
Berathung des Geſetzentwurfs, betreffend die Controle des
Reichshaushaltsetats für
1890/91. Schluß gegen 5 Uhr.
Nächſte Sitzung Freitag 11 Uhr. Tagesordnung: Erſte und zweite
Berathung des Handelsvertrags mit der Türkei. Erſte Leſung der
Vorlage über die Zuckerſteuer.



Die Schulreform-Conferenz in Berlin.

Tel. In der geſtrigen Sitzung der
Conferenz zur Berathung von Fragen, betreffend das höhere Schul-
weſen, nahmen nach Schluß des letzten Berichts noch das Wort:
Der Geh. Oberregierungsrath Wehrenpfennig, welcher die be-
ſtehenden Schularten vom Standpunkt des Bedürfniſſes der tech-
niſchen Hochſchulen beleuchtete, der Geh. Regierungsrath Dr.
Schottmüller, der Geh. Oberregierungsrath Dr. Stauder,
welcher thatſächliche Mittheilungen über die Entwicklung und die
Arten der höheren Schulen in Preußen, deren Ausbreitung und
Benutzung machte, der Geh. Regierungsrath Dr. Klix, welcher
neben dem gegenwärtigen Gymnaſium ein lateiniſches Gymnaſium
für möglich erachtete, v. Schenckendorff, welcher die ſocialpoli-
tiſche Seite der Frage betonte, und der Geh. Commercienrath
Kaſelowsky, welcher die Wünſche des Gewerbeſtandes zum Aus-
druck brachte. Die heutige Sitzung wurde durch den Cultusmini-
ſter v. Goßler mit der Mittheilung eröffnet, daß er die Sitzungen
der Conferenz, einem aus der Verſammlung ihm zugegangenen
Antrage entſprechend, nicht über den 17. oder 18. December aus-
zudehnen beabſichtige. Die Discuſſion über die Fragen der Bei-
behaltung der beſtehenden Schularten und des Lehrplans der Real-
gymnaſien wurde fortgeſetzt. Es ſprachen hiezu: Gymnaſialdirector
Dr. Eitner, Prof. Dr. Paulſen, welcher für Beibehaltung
der Realgymnaſien eintrat, Realgymnaſialdirector Dr. Schlee,
welcher ſich in gleichem Sinne ausſprach, Stadtſchulrath Dr. Ber-
tram
und der Geh. Regierungsrath Dr. Albrecht. Das Schlußwort
hatten Realgymnaſialdirector Dr. Matthias, Dr. Frick und
Realgymnaſialdirector Dr. Schauenburg. Hierauf wurde unter
einſtweiliger weiterer Ausſetzung der Abſtimmung zur Berathung
der Frage übergegangen: „Empfiehlt es ſich: a) an Orten, wo
ſich nur gymnaſiale oder realgymnaſiale Anſtalten befinden, in den
drei unteren Claſſen nach örtlichem Bedarf neben und ſtatt des
Latein einen verſtärkten deutſchen und modern-fremdſprachlichen
Unterricht einzuführen? b) an Orten, wo nur lateinloſe höhere
Schulen ſind, an deren drei unteren Claſſen nach örtlichem Bedarf
lateiniſchen Unterricht anzugliedern? c) alle ſiebenſtufigen Anſtalten
(Progymnaſien, Realprogymnaſien und Realſchulen) auf ſechsſtuſige
zurückzuführen? d) den Lehrplan der Realſchulen und der höheren
Bürgerſchulen gleich zu geſtalten und beide ſo einzurichten, daß un-
beſchadet der anders gearteten methodiſchen Behandlung des Lehr-
ſtoffes und des Abſchluſſes des Bildungsgangs die Fortſetzung des-
ſelben auf die Oberrealſchule erleichtert wird? Hiezu ſind folgende
Anträge geſtellt: zu a) von Dr. Kropatſcheck: die Worte „neben
und“ vor „ſtatt des Latein“ zu ſtreichen; von Stadtſchulrath Dr. Ber-
tram:
die Nebenfrage zu ſtellen: Empfiehlt es ſich, für den Fall
der Bejahung der Frage zu a) das Latein erſt in Tertia beginnen
zu laſſen und die dadurch freigewordene Zeit zum verſtärkten Be-
triebe einer modernen fremden Sprache, bezw. des Deutſchen und
der Geometrie zu verwenden? Zu c von Profeſſor Dr. Paulſen:
Vor „zurückzuführen“ die Worte „in der Regel“ einzuſchieben; von
Gymnaſialdirector Dr. Schulze: Die Rebenfrage zu ſtellen: Em-
pfiehlt es ſich für den Fall der Bejahung der Frage zu c, an den
Schluß des ſechsten Jahrescurſus dieſer Schulen Entlaſſungs-
prüfungen zu verlegen? Als Berichterſtatter zur vorbezeichneten
Frage ſprachen Gewerbeſchuldirector Dr. Holzmüller, Stadt-
ſchulrath Dr. Bertram und Gymnaſialdirector Dr. Schulze,
als Antragſteller außerdem Dr. Kropatſcheck und Profeſſor
Paulſen. An der Discuſſion nahmen theil: Geh. Ober-
regierungsrath Dr. Stauder, geh. Oberfinanzrath Germar (als
Commiſſar des Finanzminiſteriums), die Directoren Dr. Fiedler,
Dr. Matthias, ſowie der Geh. Baurath Ende. Der Antrag
Kropatſcheck wurde angenommen, der Antrag Paulſen
abgelehnt.
Die von Stadtſchulrath Bertram angeregte Frage
wurde in der Abſtimmung verneint, die Frage des Gymnaſialdirectors
Schulzebejaht, ebenſo nahezu einſtimmig die Hauptfragen zu a
und d. Dem Vernehmen nach wurde im Fortgange der heutigen
Sitzung der Schulconferenz die Frage, ob es ſich empfiehlt, an
die auf einen neunjährigen Lehrgang angelegten Anſtalten mit
Rückſicht auf Schüler, welche vor Vollendung desſelben ins
praktiſche Leben übertreten, einen früheren relativen Abſchluß nach
dem ſechsten Jahrescurſus eintreten zu laſſen, mit großer Majo-
rität bejaht. Die weitere Frage, ob zur Förderung eines erfolg-
reichen Unterrichtes anderweitige oder neue Normen über die
Maximalfrequenz der Claſſen, die zuläſſige Schülerzahl und die
Claſſenzahl der Geſammtanſtalt, über eine durchgängige Trennung
der Tertia und Secunda in zwei Claſſen nach Jahrescurſen,
ſowie über die Pflichtſtunden der Lehrer wünſchenswerth ſeien,
wurde faſt einſtimmig bejaht. Die Maximalfrequenz, auch für
die unteren Claſſen, wurde auf 40, die zuläſſige Geſammtſchüler-
zahl auf 400, die zuläſſige Pflichtſtundenzahl der Lehrer auf 22
bemeſſen.



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Windthor&#x017F;t &#x017F;olche Unterhaltungen für durch&#x017F;chlagende Belehrungen<lb/>
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[6/0006] München, Freitag Allgemeine Zeitung 12. December 1890. Zweites Morgenblatt Nr. 344. unſre Induſtrie die Ausfuhr nach Oeſterreich erleichtern, und da- gegen müſſen wir die Conceſſionen machen, die nöthig ſind, damit von der anderen Seite Conceſſionen gemacht werden. Man muß Tarifſätze binden, beſtimmte Zölle für längere Zeit feſtlegen, denn es kommt weniger darauf an, wie die Zölle ſind, als daß ſie feſt- gelegt werden auf lange Zeit, daß nicht immer damit agitirt werden kann und Unſicherheit in dem Zuſtande der beiden Länder herbeigeführt wird. Wenn es aber eine Gefahr hätte, ſeine Meinung zu äußeren, ſo wäre überhaupt nie ein Handelsvertrag gemacht worden. Der Abg. v. Frege hat geſtern ſogar — er hat ihn ſpäter erfreulicher Weiſe modiſicirt — ſo einen leiſen Schatten eines Verdachtes des Landes- verraths ausgebreitet über die, welche ſich erdreiſteten, Meinungen über dieſe Handelsverträge zu äußern. Der Abg. Graf Behr berief ſich auch darauf, daß jetzt ſo viel von der Freigebung der Vieh- einſuhr die Rede iſt. Wer hat ſich denn darum bemüht? Die bayeriſche Regierung, und wenn ich nicht irre, die ſächſiſche Regie- rung haben ſich dieſen Schein von Landesverrath zu Schulden kommen laſſen, indem ſie laut und vernehmlich dafür agitirten. Nein, mit ſolchen Rückſichten in der Oeffentlichkeit Diplomatie zu machen, geht nicht an. Es ſchadet auch nichts. Die Geheimniſſe, die hier ausgeplaudert werden, ſind das, was man le secret du public nennt. Die Delegirten der beiden Regierungen werden, wenn ſie in ihren Conferenzzimmern zuſammen geſeſſen haben, ſich damit nicht aufgehalten haben; ſie wiſſen ganz genau, daß es keine Geheimniſſe auszuplaudern gibt. Ich ſehe in ſolcher Meinungsäußerung ſo wenig Schaden, daß ich gern meine, wenn auch nur beiläufige Mitwirkung zu einer neuen, dieſer Tage erſcheinenden Denkſchrift hergegeben habe, welche nach- weist, wie bedenklich es wäre, ſeitens der deutſchen Regierung auf den Vorſchlag von Differentialzöllen einzugehen, und ich glaube mir herausnehmen zu dürfen, dieſe Denkſchrift, die nicht von mir ausgeht, ſondern nur von mir begutachtet iſt, der Regierung und den Herren Collegen beſtens zu empfehlen. Ich glaube damit den Weg für die künftige Beſprechung dieſer zarten Angelegenheit des öſterreichiſchen Handelsvertrags geebnet und das Mißverſtändniß zwiſchen uns und dem Reichskanzler definitiv beſeitigt zu haben. Hr. v. Frege beſchäftigt ſich auch mit der Silberfrage. Es iſt für die Verhandlungen des Reichstages nicht ſehr vortheilhaft, dieſe verwickelte Frage ſo beiläufig mit einem Piſtolenſchuß im Vorüber- gehen anzuſchießen. Ich will auf die verſchiedenen Aeußerungen des Abg. v. Frege nicht eingehen, ſondern erſt abwarten, ob An- träge aus dem Hauſe oder, was ich nicht entfernt fürchte, Vorſchläge der Regierung kommen. Ich meine allerdings, daß wir den Reſt von Silber, den wir leider noch haben, nicht zu den ſchlechten Preiſen des letzten Jahres von 42 bis 45 Pence hätten verkaufen ſollen. Aber wäre man meiner Anſicht gefolgt, als ich 1879 mich widerſetzte, daß die Verkäufe ſiſtirt würden, als das Silber auf 51 und 52 ſtand, ſo hätte man es zu einem Preiſe ver- kauft, der jetzt wohl die höchſte aller Utopien der Silbergläubigen erweist. Die Bemerkung des Abg. Windthorſt, daß die neueſte deutſche An- leihe auch vom Ausland ſtark gezeichnet ſei, iſt allerdings richtig. Zwar haben nicht gerade Frankreich und England, wohl aber die Belgier ſehr ſtarke Summen von dieſer Anleihe übernommen, aber Hrn. v. Frege kann ich verſichern, daß die Belgier ſich auch nicht mit einem Pfennig daran betheiligt hätten, wenn ſie daran zweifelten, daß wir Zinſen und Capital jemals anders zu zahlen willens wären, als in Gold und Goldeswerth. (Heiterkeit.) Im übrigen ſehe ich ganz ruhig dem Gang der Dinge entgegen, ſo- weit es ſich um unſer liebes Deutſchland handelt. Seit ich auf der Breſche ſtehe für unſre gute ſolvable Reichswährung, ſeit bei- nahe 15 Jahren, ſeit ich das furchtbare Fiasco erlebt habe, das die Silberleute in Amerika und damit in der ganzen Welt gemacht haben, bin ich ganz ruhig darüber, daß uns keine Gefährdung unſrer Währung bevorſteht. Auch das Ausland kann ſich ganz ruhig auf die Zahlungsfähigkeit des Deutſchen Reichs in Gold verlaſſen. Wir ſehen wahrſcheinlich einem neuen Experiment auf dieſem intereſſanten Gebiete entgegen. Wir hören aus Amerika, daß die demokratiſche Partei, die zwar eine Gegnerin der Zollmaßnahmen der Mac Kinley-Bill, aber womöglich eine noch eifrigere Partei- gängerin der Silberbill iſt, die Free Coinage proclamiren wird und zwar nach dem alten Paritätsverhältniß von 1 : 15 ½, während das factiſche Verhältniß jetzt 1 : 30 iſt. Das wird ein ſehr intereſſantes Schauſpiel ſein; da wird geſchehen, was die Herren Bimetalliſten immer von Frankreich gewünſcht haben, daß eine große Nation von 66 Millionen dieſes Experiment machen wird, und wir können einmal ruhig ſehen, wie die Dinge ver- laufen. Sollte wirklich ein amerikaniſcher Emiſſär herüberkommen, um die verſchiedenen europäiſchen Staaten zur Mitwirkung an dieſem ſchönen Experiment einzuladen, ich bin ganz ſicher, daß, obwohl Hr. v. Scholz, ein allerdings ſehr feiner Kenner der Münzverhältniſſe, nicht mehr hier iſt, auch ſein jetziger Nachfolger Hr. Miquel — dieſes Vertrauen habe ich abſolut zu ihm — uns nicht den Amerikanern ausliefern wird mit ihren Experimenten, das Silber in die Höhe zu bringen. Nun noch ein Wort an meinen hochverehrten, etwas ſchalkhaften Freund Dr. Windthorſt. Er hat erklärt, die Anſicht, daß man jetzt noch Oſtafrika aufgeben ſolle, könne er nicht theilen; aus Nationalſtolz würde er niemals darauf eingehen. Es wundert mich, daß ein Mann, der unter dem Feldgeſchrei von „national“ ſo viel zu leiden gehabt hat, nun kein anderes Argument mir gegenüber anzuführen hat, als wieder eben dieſes Feldgeſchrei. (Sehr gut! links.) Ich kann leider nur dem Abg. Bebel Recht geben, daß Hr. Windthorſt ſeit der Zeit, wo wir zuerſt mit Colonialpolitik befaßt wurden, ein „tantum mutatus ab illo“ geworden iſt, und ſeine gewandteſte Dialectik wird an ihm die Mohrenwäſche nicht fertig bringen, die nöthig wäre, um uns zu zeigen, daß er immer ſo wie jetzt in dem Verhätniß zu den Negern in Oſtafrika geſtanden hätte. (Heiterkeit.) In der Commiſſion vom Jahre 1884 theilte noch der Abg. Windt- horſt meine ablehnende Haltung gegen die Colonialpolitik und gebrauchte ſelbſt mehrfach das Wort „Colonialſchwindel“. Seit ſeinem Colonialantrag hat eine erhebliche Wandlung bei ihm ſtattgefunden. Ihm vorzugsweiſe iſt es zuzuſchreiben, daß wir ſo tief in die Colonialpolitik hineingerathen ſind, ſeitdem er aus einem Saulus ein Paulus geworden iſt. Wie ſein Weg nach Damascus gegangen iſt, darüber kann ich nur Vermuthungen an- ſtellen. Jetzt gehört er aber unſtreitig zu den ſtärkſten Colonial- ſchwärmern des Deutſchen Reiches; er will ſogar in Afrika Be- völkerungs- und Niederlaſſungspolitik treiben — ein Gedanke, der ſelbſt in unſern Weißbüchern noch nicht aufgetaucht iſt. Heute erſt hat Hr. Windthorſt uns dieſe Flagge gehißt. Aus welchem Grunde? Es iſt geſtern oder heute ein Mann bei ihm geweſen, der ſich in Oſtafrika glaubt anſiedeln zu können! Wenn der Abg. Windthorſt ſolche Unterhaltungen für durchſchlagende Belehrungen hält, möchte ich ihn in Zukunft bitten, ſolch einen Mann einmal mit in den Vorſaal des Reichstags zu bringen, damit wir von ſol- chen Belehrungen doch auch etwas profitiren. (Heiterkeit.) Ich halte die Zukunft von Oſtafrika, inſofern unſre Ausgaben lohnend wieder- erſtattet werden ſollen, für ein Buch mit ſieben Siegeln: die Erfolge ſind höchſt ungewiß, die Entbehrungen der Steuerzahler im höch- ſten Grade gewiß. Der Abg. Scipio hat geſtern aus einer mir ganz begreiflichen Discretion die außerordentlich ſchönen Ausſichten der Oſtafrikaniſchen Geſellſchaft nicht ausplaudern wollen; vielleicht wird das hier ſpäter ein Anderer thun. Einſtweilen bin ich auch noch nicht der Anſicht des Abg. Windthorſt, daß das Reich eine Eiſenbahn von der Küſte nach dem Kilimandſcharo bauen ſoll. Wenn aber der Abg. Windthorſt hier einen dahin gehenden An- trag ſtellt, wird er die Mojorität des Hauſes haben, meine Stimme aber nicht. Wird die Bahn gebaut, ſo bin ich dafür, daß die erſte Locomotive, die in den dunklen Welttheil hineinführt, „Dr. Ludwig Windthorſt“ heißt. (Große Heiterkeit.) Reichskanzler v. Caprivi: Meine Herren! Der Hr. Abg. Bamberger hat die Güte gehabt, zu erklären, mit Rückſicht auf meine mangelhafte Vorbildung und meine kurze Schulung in den Geſchäften, denen obzuliegen jetzt meine Pflicht iſt, wolle er mir Schonung angedeihen laſſen. Er hat in der ihm eigenen urbanen Art denſelben Gedanken gegeben, den im Frühjahr an anderer Stelle der Hr. Abg. Richter in die Worte kleidete, man wolle mir ja noch einige Schonzeit geben. (Heiterkeit). Was meine Perſon anlangt — und es iſt mir jedesmal leid, wenn ich von derſelben hier ſprechen muß, aber ich ſehe mich dazu genöthigt — ſo habe ich noch nie in meinem Leben von irgend Jemand Scho- nung verlangt, und ich würde bitten, auch hier mir dieſelbe nicht angedeihen zu laſſen. Ich weiß auch nicht, ob die Regierung in der Zeit, ſeit ich die Ehre habe, ihr vorzuſtehen, Dinge getrieben hat, die ihr den Ruf zuziehen könnten, ſie wäre ſchonungsbedürftig. So lieb mir dieſe freundliche Aeußerung des Hrn. Bamberger iſt, ſo muß ich ihm doch ſagen: der Ton, den der Hr. Abg. Richter neulich anſchlug, war mir in dem Augenblick lieber. Ich befand mich hier — Sie werden erlauben, daß ich das Bild eines alten Soldaten gebrauche — in dem Gefühl eines Officiers, der weiß, er iſt in der Nähe des Feindes, er kommt aber noch nicht heraus; endlich fällt der erſte Kanonenſchuß und man hat das erlöſende Gefühl: da iſt er (Heiterkeit). Ich darf übrigens annehmen, daß die wenigen Worte, die ich in Bezug auf unſer Verhältniß zu Oeſterreich geäußert habe, doch nicht ſo ganz werth- los geweſen ſein können; denn dieſelbe Partei hat heute nun ihren dritten Redner gegen dieſe wenigen Worte ins Gefecht ge- ſchickt, und, um bei demſelben Bilde zu bleiben, der alte Soldat hat das beruhigende Gefühl, aus dem groben Geſchützfeuer in das kleine Gewehrfeuer gekommen zu ſein. (Heiterkeit rechts.) Weil ich der Meinung bin, daß es nicht richtig ſei, während Vertrags- verhandlungen mit anderen Staaten im Gange ſind, Aeußerungen in ſo gewichtigen Körperſchaften, wie dieſes Haus es iſt, laut werden zu laſſen, enthalte ich mich auch noch heute jedes Eingehens auf die Einzelheiten, die der Hr. Abg. Bamberger angeführt hat. Ich bin nach wie vor der Ueberzeugung, die ich geſtern ausſprach, und wenn ich auch nicht annähernd die wirthſchaftspolitiſchen Kennt- niſſe des Hrn. Abg. Bamberger habe, ſo wird er mir vielleicht zu- geben, daß er nicht die Kenntniß über die politiſchen Verhandlun- gen hat, die in Bezug auf dieſen Vertrag geſchwebt haben und ſchweben, wie ich. Und iſt dieſe Vorausſetzung richtig, ſo darf ich ausſprechen, daß ich Aeußerungen aus dieſer Verſammlung, ſo lange Verhandlungen ſchweben, für durchaus ſchädlich halte. Wenn ich auch Neuling in parlamentariſchen Sitten bin, ſo möchte ich doch annehmen, daß ich mit der Bitte, die ich neulich ausſprach — und wie ich glaube, war meine Bitte nicht gereizt; die Ant- wort darauf fiel weniger ſchüchtern aus — mich nicht ins Unrecht geſetzt habe. So viel ich weiß, beſteht in faſt allen parla- mentariſchen Körperſchaften und vor allen Dingen in den engliſchen, denen man doch conſtitutionelle Routine füglich nicht abſprechen kann, die Sitte, daß, wenn der Vertreter der Regierung ſich dahin ausſpricht, daß politiſche Aeußerungen und namentlich über ſchwebende Verhandlungen ſchädlich ſein könnten, die Debatte abgebrochen wird. (Sehr richtig! rechts.) Ich habe keine Macht, dies zu erzwingen, ich kann nur conſtatiren, daß, wenn durch ſolche Aeußerungen Schaden geſchieht, die Verant- wortung nicht auf mir liegt; ich habe, ſoweit es in meinen ge- ringen Kräften ſteht, davor gewarnt. Der Herr Abgeordnete hat zwei Stellen aus der Rede des Hrn. Abg. Plener vorgeleſen, einer Rede, die, wenn auch aus einer anderen Zeitung, mir in demſelben telegraphiſchen Auszuge vorliegt wie ihm; es iſt nicht der Urtext. Er hat eine Stelle vorgeleſen, die von der Verbilligung der Lebensmittel handelte, und iſt darauf zu einer dritten Stelle übergegangen, die von den dif- ferentiellen Zöllen handelte. Die zwiſchenliegende Stelle hat der Herr Abgeordnete aber nicht im Wortlaut wiedergegeben, wie die Zeitung ſie gibt, ſondern er hat ſie in ſeinen Aeußerungen umſchrieben. Nun möge es mir erlaubt ſein, die zwiſchenliegende Stelle vorzuleſen. Nachdem alſo der Abg. Plener von den Lebens- mitteln geſprochen hat, ſagt er: „Deutſchland muß dabei aus innerpolitiſchen Gründen hier Ermäßigungen unter allen Umſtänden eintreten laſſen, ohne daſür erſt von uns beſondere Compenſationen verlangen zu können.“ Ich ſtelle nochmals der Erwägung des Hauſes anheim, ob Aeußerungen, wie ſie hier gefallen ſind, geeignet ſind, den Abg. Plener und die Oeſterreicher in der Meinung zu beſtärken, daß Deutſchland unter allen Umſtänden aus innerpoli- tiſchen Gründen Ermäßigungen eintreten laſſen muß oder nicht. (Bravo! Sehr gut! Rechts). Abg. Hahn (deutſchconſ.) entſchuldigt Hrn. v. Frege, der zu einer Berathung des Landesculturraths nach Dresden berufen ſei. Nach ſeiner Rückkehr werde er Hrn. Bebel antworten. Nach Bebels Brandrede hätte Hr. Bamberger ſich wohl hüten ſollen, ſolche Worte ins Volk zu ſchleudern: es hätten ſich die Parteien verbündet, um vereinigt dem Volke das Fell über die Ohren zu ziehen. (Zuſtimmung rechts.) Redner vertheidigt die Getreide- zölle und die Colonialpolitik. Die Socialdemokraten ſagen immer, was ſie nicht wollen; ſie nennen das beſtehende Steuerſyſtem einen Unſinn, aber ſie ſagen nicht, welche Steuern ſie denn wollen. Daß auch andere Leute als die Socialdemokraten die Reichen heranziehen wollen zur Steuer, beweist der Verſuch der Conſerva- tiven, die reicheren Einkommen mit 5 Procent heranzuziehen. Alle irdiſchen Verhältniſſe haben Fehler, die man verbeſſern kann. Im Zukunftsſtaat Bebels wird auch nicht alle Noth aus der Welt ge- ſchafft ſein. Wenn Bebel die Verhältniſſe auf dem Lande im Oſten kennen würde, dann würde er wiſſen, daß die Wohnungen auf dem Lande viel beſſer ſind als die Keller- und Dach- wohnungen in den großen Städten, welche die armen Arbeiter zu hohen Preiſen nehmen müſſen. Hr. Bebel ſagt uns nicht, was er an die Stelle der beſtehenden Staats- und Geſellſchafts- ordnung ſetzen will. Wenn die Socialdemokraten den Land- bewohnern ihren Gott und ihre Königstreue aus dem Herzen reden wollen, dann wiſſen die Landbewohner, wie ſie ſich zu verhalten haben. (Beifall rechts.) Abg. v. Kardorff (Reichspartei): Hrn. Bebel kann ich zu- geben, daß die Wohnungsverhältniſſe in Schleſien nicht immer ſo gut waren, wie in den andern Provinzen, aber ſie waren immer noch beſſer, als die Wohnungen der Arbeiter in den Städten. Die Arbeiter gehen nicht dahin, wo die Lebensmittel billiger ſind, ſondern dahin, wo ſie theurer ſind. Die Rede Bebels war eine geſchickte Agitationsrede, aber wir wiſſen, daß wir mit einer ge- fährlichen Geſellſchaft zu kämpfen haben und werden mit ihren fertig werden. Der Umſturz der beſtehenden Geſellſchaftsordnung würde nur zu einer Anarchie führen, denn nur in der friedlichen Entwicklung laſſen ſich die Fortſchritte des Geiſtes erreichen, die wir jetzt erreicht haben und weiter erreichen werden. Die Social- demokraten wollen dieſe friedliche Entwicklung nicht, ſprechen aber ihre Gedanken nicht offen aus. Ich will es aber offen ausſprechen, daß die beſtehende Geſetzgebung zur Bekämpfung der Social- demokratie nicht ausreicht. Die Erfahrung wird es bald lehren. (Widerſpruch links.) Wenn die Staatsmaſchine bei großen Strikes ſtill ſteht, ſo iſt die Geſetzgebung nicht ausreichend. Ich will wünſchen, daß ich Unrecht habe. (Zuſtimmung rechts.) Abg. Wiſſer (wildlib.): In der Rede Bebels war ſo viel Gutes und Richtiges enthalten, daß dadurch das Unrichtige über- wogen wird; aber die Antworten der letzten beiden Redner waren nicht geeignet, das Unrichtige zu widerlegen, ſie zeigten nur die Reformbedürftigkeit der Zuſtände. Das Zollſyſtem kommt nur den großen Betrieben zugute; die Franckenſtein’ſche Clauſel des Zoll- tarifgeſetzes zwingt das Reich, ſeine Einnahmen an die einzelnen Staaten zu vertheilen und ſeinerſeits Schulden aufzunehmen; hoffentlich wird dieſer Uebelſtand bald beſeitigt. Die Zuckerſteuer ſoll endlich reformirt werden, es müßte nun auch die Differential- ſteuer für den Spiritus einheitlich geregelt werden. Mit der Er- mäßigung der landwirthſchaftlichen Zölle wird auch die Ermäßigung der Induſtrieſchutzzölle Hand in Hand gehen müſſen. Damit ſchließt die Debatte. Nach einer Reihe perſönlicher Bemerkungen erklärt Abg. v. Liebermann (Antiſemit) zur Geſchäſts- ordnung: Ich freue mich, daß Herr Bebel Unterſuchungen über die Lage der ländlichen Bevölkerung anſtellen will. Er wird dabei auf merkwürdige antiſemitiſche Ergebniſſe kommen. Einem von allen Parteien unterſtützten Antrag gemäß wird darauf ein großer Theil des Etats der Budgetcommiſſion überwieſen. Ohne Debatte erledigt das Haus dann noch die Denk- ſchrift über die Ausführung der Anleihegeſetze und die zweite Berathung des Geſetzentwurfs, betreffend die Controle des Reichshaushaltsetats für 1890/91. Schluß gegen 5 Uhr. Nächſte Sitzung Freitag 11 Uhr. Tagesordnung: Erſte und zweite Berathung des Handelsvertrags mit der Türkei. Erſte Leſung der Vorlage über die Zuckerſteuer. Die Schulreform-Conferenz in Berlin. * Berlin, 11. Dec. Tel. In der geſtrigen Sitzung der Conferenz zur Berathung von Fragen, betreffend das höhere Schul- weſen, nahmen nach Schluß des letzten Berichts noch das Wort: Der Geh. Oberregierungsrath Wehrenpfennig, welcher die be- ſtehenden Schularten vom Standpunkt des Bedürfniſſes der tech- niſchen Hochſchulen beleuchtete, der Geh. Regierungsrath Dr. Schottmüller, der Geh. Oberregierungsrath Dr. Stauder, welcher thatſächliche Mittheilungen über die Entwicklung und die Arten der höheren Schulen in Preußen, deren Ausbreitung und Benutzung machte, der Geh. Regierungsrath Dr. Klix, welcher neben dem gegenwärtigen Gymnaſium ein lateiniſches Gymnaſium für möglich erachtete, v. Schenckendorff, welcher die ſocialpoli- tiſche Seite der Frage betonte, und der Geh. Commercienrath Kaſelowsky, welcher die Wünſche des Gewerbeſtandes zum Aus- druck brachte. Die heutige Sitzung wurde durch den Cultusmini- ſter v. Goßler mit der Mittheilung eröffnet, daß er die Sitzungen der Conferenz, einem aus der Verſammlung ihm zugegangenen Antrage entſprechend, nicht über den 17. oder 18. December aus- zudehnen beabſichtige. Die Discuſſion über die Fragen der Bei- behaltung der beſtehenden Schularten und des Lehrplans der Real- gymnaſien wurde fortgeſetzt. Es ſprachen hiezu: Gymnaſialdirector Dr. Eitner, Prof. Dr. Paulſen, welcher für Beibehaltung der Realgymnaſien eintrat, Realgymnaſialdirector Dr. Schlee, welcher ſich in gleichem Sinne ausſprach, Stadtſchulrath Dr. Ber- tram und der Geh. Regierungsrath Dr. Albrecht. Das Schlußwort hatten Realgymnaſialdirector Dr. Matthias, Dr. Frick und Realgymnaſialdirector Dr. Schauenburg. Hierauf wurde unter einſtweiliger weiterer Ausſetzung der Abſtimmung zur Berathung der Frage übergegangen: „Empfiehlt es ſich: a) an Orten, wo ſich nur gymnaſiale oder realgymnaſiale Anſtalten befinden, in den drei unteren Claſſen nach örtlichem Bedarf neben und ſtatt des Latein einen verſtärkten deutſchen und modern-fremdſprachlichen Unterricht einzuführen? b) an Orten, wo nur lateinloſe höhere Schulen ſind, an deren drei unteren Claſſen nach örtlichem Bedarf lateiniſchen Unterricht anzugliedern? c) alle ſiebenſtufigen Anſtalten (Progymnaſien, Realprogymnaſien und Realſchulen) auf ſechsſtuſige zurückzuführen? d) den Lehrplan der Realſchulen und der höheren Bürgerſchulen gleich zu geſtalten und beide ſo einzurichten, daß un- beſchadet der anders gearteten methodiſchen Behandlung des Lehr- ſtoffes und des Abſchluſſes des Bildungsgangs die Fortſetzung des- ſelben auf die Oberrealſchule erleichtert wird? Hiezu ſind folgende Anträge geſtellt: zu a) von Dr. Kropatſcheck: die Worte „neben und“ vor „ſtatt des Latein“ zu ſtreichen; von Stadtſchulrath Dr. Ber- tram: die Nebenfrage zu ſtellen: Empfiehlt es ſich, für den Fall der Bejahung der Frage zu a) das Latein erſt in Tertia beginnen zu laſſen und die dadurch freigewordene Zeit zum verſtärkten Be- triebe einer modernen fremden Sprache, bezw. des Deutſchen und der Geometrie zu verwenden? Zu c von Profeſſor Dr. Paulſen: Vor „zurückzuführen“ die Worte „in der Regel“ einzuſchieben; von Gymnaſialdirector Dr. Schulze: Die Rebenfrage zu ſtellen: Em- pfiehlt es ſich für den Fall der Bejahung der Frage zu c, an den Schluß des ſechsten Jahrescurſus dieſer Schulen Entlaſſungs- prüfungen zu verlegen? Als Berichterſtatter zur vorbezeichneten Frage ſprachen Gewerbeſchuldirector Dr. Holzmüller, Stadt- ſchulrath Dr. Bertram und Gymnaſialdirector Dr. Schulze, als Antragſteller außerdem Dr. Kropatſcheck und Profeſſor Paulſen. An der Discuſſion nahmen theil: Geh. Ober- regierungsrath Dr. Stauder, geh. Oberfinanzrath Germar (als Commiſſar des Finanzminiſteriums), die Directoren Dr. Fiedler, Dr. Matthias, ſowie der Geh. Baurath Ende. Der Antrag Kropatſcheck wurde angenommen, der Antrag Paulſen abgelehnt. Die von Stadtſchulrath Bertram angeregte Frage wurde in der Abſtimmung verneint, die Frage des Gymnaſialdirectors Schulzebejaht, ebenſo nahezu einſtimmig die Hauptfragen zu a und d. Dem Vernehmen nach wurde im Fortgange der heutigen Sitzung der Schulconferenz die Frage, ob es ſich empfiehlt, an die auf einen neunjährigen Lehrgang angelegten Anſtalten mit Rückſicht auf Schüler, welche vor Vollendung desſelben ins praktiſche Leben übertreten, einen früheren relativen Abſchluß nach dem ſechsten Jahrescurſus eintreten zu laſſen, mit großer Majo- rität bejaht. Die weitere Frage, ob zur Förderung eines erfolg- reichen Unterrichtes anderweitige oder neue Normen über die Maximalfrequenz der Claſſen, die zuläſſige Schülerzahl und die Claſſenzahl der Geſammtanſtalt, über eine durchgängige Trennung der Tertia und Secunda in zwei Claſſen nach Jahrescurſen, ſowie über die Pflichtſtunden der Lehrer wünſchenswerth ſeien, wurde faſt einſtimmig bejaht. Die Maximalfrequenz, auch für die unteren Claſſen, wurde auf 40, die zuläſſige Geſammtſchüler- zahl auf 400, die zuläſſige Pflichtſtundenzahl der Lehrer auf 22 bemeſſen.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 344, 12. Dezember 1890, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine344_1890/6>, abgerufen am 18.12.2024.