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Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920.

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20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung


[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft
Die Regierungskrisis im Reich.

Es ist nicht ganz unmöglich, daß die Regierungskrisis
in Berlin eine gewisse Lösung gefunden hat, wenn diese
Zeilen an die Oeffentlichkeit gelangen; aber wahrscheinlich
ist es nicht und ganz gewiß ist, daß die Lösung auch im
besten Falle nur eine vorläufige sein wird; denn die natür-
liche Lösung, die einzige, die eine Gewähr der Dauer in sich tra-
gen würde, die Verbreiterung der unzulänglich gewordenen
bisherigen und "natürlichen" Regierungsbasis nach rechts oder
links scheint unmöglich geworden. Der bisherige Reichs-
kanzler Müller, der als erster vom Reichspräsidenten den
Auftrag zur Kabinettsbildung empfangen hatte, hat sich auf
einen einzigen Versuch beschränkt: Er hat sich an die Unab-
hängigen gewandt, und als diese für ihren Eintritt in die
Regierung Bedingungen stellten, die unannehmbar waren
und es offenbar auch sein sollten, obwohl der Vorwärts sich
den Anschein gab, als hielte er sie für durchaus diskutabel,
hat er den ihm erteilten Auftrag in die Hand des Reichs-
präsidenten zurückgelegt. Der zweite Vertrauensmann,
der Führer der Deutschen Volkspartei, sächs. Staatsminister
a. D. Dr. Heinze, hat ebenfalls nur einen einzigen Schritt
getan. Er hat mit den Mehrheitssozialisten verhandelt und
von ihnen unverzüglich den feierlichen und förmlichen Be-
scheid erhalten, daß sie nicht in der Lage seien, in eine
Koalition mit der Deutschen Volkspartei einzutreten. Darauf
hat auch Dr. Heinze verzichtet. Nun kam als dritter der
Führer des Zentrums, Staatssekretär a. D. Crimborn, an
die Reihe. Für ihn war die Anzahl der Möglichkeiten
durch die vorangegangenen Entscheidungen von vornherein
ziemlich eingeschränkt. Wenn die Sozialdemokratie es ab-
lehnte, mit der Deutschen Volkspartei in die Regierung ein-
zutreten, so kam ein Paktieren mit den Deutschnationalen
von der Basis der bisherigen Koalition aus erst recht nicht
in Frage, sondern es blieben nur zwei Wege; entweder man
suchte die bisherige Koalition ohne Verbreiterung not-
dürftig regierungsfähig zu machen, oder man verzichtete
auf die Mitarbeit der Sozialdemokratie und unternahm das
Wagstück einer rein bürgerlichen Regierung. Dieser Ver-
zicht hätte aber nach allem, was man bisher gehört, auch
den weiteren Verzicht auf die Mitwirkung der Deutschen
Demokratischen Partei bedeutet. Denn diese scheint ent-
schlossen, in eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht
einzutreten.

Fragt man sich nun, ob eine Regierung, die sich ledig-
lich auf das Zentrum und die "Volksparteien" stützt (Baye-
rische oder Christliche, Deutsche und Deutschnationale) unter
den gegenwärtigen Verhältnissen überhaupt lebensfähig
wäre, so muß man sich ohne Zweifel hüten, lediglich nach
den Zahlen zu urteilen, wonach eine solche Kombination
näher an die absolute Mehrheit heranreichen würde, als
jede andere, die zurzeit denkbar erscheint. Die Frage muß
politisch beurteilt werden und politisch scheint eine solche
Regierung auf die Dauer ebenso unmöglich wie etwa eine
rein sozialistische, nicht nur wegen des Auslandes, das eine
reine Rechtsregierung -- und so würde sie ohne Zweifel
charakterisiert werden, wenn auch das Zentrum sich füglich
gegen eine solche Bezeichnung wehren würde -- sicherlich
zum Anlaß oder Vorwand nehmen würde, alle Schrauben
des Versailler Folterinstrumentes schärfer anzuziehen, son-
dern auch mit Rücksicht auf unsere innere Lebensmöglich-
keit. Es ist an dieser Stelle schon oft gesagt worden, muß
aber immer aufs neue wiederholt werden, daß nicht nur
ein Regieren gegen die Gesamtheit der Arbeiterschaft, das
ja niemandem in den Sinn kommt, auch den Deutsch-
nationalen nicht, sondern auch ein Regieren ohne die
Arbeiterschaft in dem durch die Revolution umgestalteten
Deutschland so gut wie ausgeschlossen ist, und das Agi-
tationsbedürfnis der sozialistischen Presse würde jede Re-
gierung ohne eine Arbeiterpartei ohne weiteres zu einer

[Spaltenumbruch]

Regierung gegen die Arbeiterschaft stempeln. Dann würde
auch beim besten Willen der bürgerlichen Parteien alles ver-
lorengehen, was wir seit der Revolution an inneren Er-
rungenschaften zu verzeichnen haben. Man mag von den
Leistungen in den letzten 18 Monaten denken wie man will
-- an den ungeheuren Schwierigkeiten gemessen, die ihnen
entgegenstanden, erscheinen sie vielleicht nicht so belanglos,
wie in ihrer Projektion auf einen normalen Staats- und
Wirtschaftskörper: das eine ist jedenfalls von allergrößter
Bedeutung, daß die große Masse der deutschen Arbeiter in
dieser Zeit mit den Realitäten des Staats- und Wirt-
schaftslebens hat rechnen lernen. Sie hat sich gezwungen
gesehen, ihre begabtesten Gesellschaftskritiker in die Aemter
verantwortlicher Staatsmänner und Verwaltungsbeamten
zu kommandieren und wenn ihre Erfolge diesen neuen Auf-
gaben gegenüber nicht überwältigend gewesen sind, so ist
doch dadurch eine Art aufbauender Zukunftsarbeit geleistet
worden, die man nicht unterschätzen darf. Aber abgesehen
davon, hat die Mehrheitssozialdemokratie als leitende Re-
gierungspartei die weiteren Erschütterungen unseres inne-
ren Lebens zwar nicht vollständig verhindern können, aber
doch erheblich abgeschwächt, daß sie wenigstens nicht allzu-
viel Unheil angerichtet haben. Wenn dieses Ventil nun-
mehr verschlossen werden soll, wenn die 190 sozialistischen
Abgeordneten und die Millionen Wähler, die hinter ihnen
stehen, insgesamt in die Opposition abmarschieren, so wer-
den wir in gewissem Sinne in Zustände zurückgeworfen,
wie sie vor den Wahlen der Nationalversammlung bestanden,
und das ist eine außerordentlich ernste Perspektive. Wir
halten also eine Regierung aus den Parteien der Rechten
bis zum Zentrum einschließlich nicht für lebensfähig. Crotz-
dem aber scheint die Gefahr einer solchen Regierung außer-
ordentlich nahegerückt, denn die am 14. Juni von der
sozialdemokratischen Fraktion und dem Parteiausschuß an-
genommene Erklärung lautet wie folgt:

"Ein stimmig kam die Ueberzeugung zum Ausdruck, daß für
die Partei die Beteiligung an einer Regierung, die Elemente der
Rechtsparteien enthält, ausgeschlossen ist.
Nachdem die Unabhängigen es abgelehnt haben, sich an
einer Regierung zu beteiligen, die den Schutz der Republik und
der revolutionären Errungenschaften der Arbeiter, Angestellten
und Beamten übernimmt, haben sie die Verantwortung für
eine Situation zu tragen, in der nur die Bildung einer rein
bürgerlichen
Regierung möglich ist.
Eine Fortsetzung der bisher betriebenen Koalitionspolitik
mit Zentrum und Demokraten wird gegenwärtig als unmöglich
betrachtet."

Abgesehen von dem mittleren Absatz, der einige Ge-
wissensskrupel erkennen läßt, enthält diese Entschließung
zwei völlig selbständige Ablehnungen: die einstimmige Ab-
lehnung der Ceilnahme an einer Regierung, die "Elemente
der Rechtsparteien" enthält, und den anscheinend nicht ein-
stimmigen Derzicht auf eine Fortsetzung der bisherigen
Koalitionspolitik, die "gegenwärtig als unmöglich be-
trachtet" wird. Nimmt man das alles wörtlich, so bedeutet
es das vorläufige Ausscheiden der Sozialdemokratie aus
jeder Regierungskombination, d. h. also eine rein bürger-
liche Regierung, denn eine die Mehrheitssozialdemokratie
überspringende Verständigung der Rechtsparteien oder des
Zentrums mit den Unabhängigen, wie sie während der
März-Putschtage von blutigen politischen Dilettanten ver-
sucht worden ist, kann ja selbstverständlich nicht ernsthaft
in Frage kommen; bliebe es also dabei, so käme wirklich
nur eine bürgerliche [Koalition] in Frage und da auch die
demokratischen Führer wiederholt erklärt haben, daß sie in
eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht eintreten
würden, so würde der Regierungsblock tatsächlich mit dem
Zentrum abschließen müssen.

Man wird nun aber allerdings zunächst im Zweifel
darüber sein dürfen, ob das letzte Wort der Demokraten
schon gesprochen ist. Es wäre durchaus zu verstehen, wenn
die Demokraten ihre Mitarbeit in einer Regierung ab-
lehnten, aus der die Sozialdemokratie ausgeschlossen
werden soll; davon ist doch aber gar keine Rede. Jm Gegen-
teil, man umwirbt die Sozialdemokratie, wie sie noch nie-
mals umworben worden ist, und es scheint ihr ein dia-
bolisches Vergnügen zu machen, sich in dieser Weise um-

20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung


[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft
Die Regierungskriſis im Reich.

Es iſt nicht ganz unmöglich, daß die Regierungskriſis
in Berlin eine gewiſſe Löſung gefunden hat, wenn dieſe
Zeilen an die Oeffentlichkeit gelangen; aber wahrſcheinlich
iſt es nicht und ganz gewiß iſt, daß die Löſung auch im
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liche Löſung, die einzige, die eine Gewähr der Dauer in ſich tra-
gen würde, die Verbreiterung der unzulänglich gewordenen
bisherigen und „natürlichen“ Regierungsbaſis nach rechts oder
links ſcheint unmöglich geworden. Der bisherige Reichs-
kanzler Müller, der als erſter vom Reichspräſidenten den
Auftrag zur Kabinettsbildung empfangen hatte, hat ſich auf
einen einzigen Verſuch beſchränkt: Er hat ſich an die Unab-
hängigen gewandt, und als dieſe für ihren Eintritt in die
Regierung Bedingungen ſtellten, die unannehmbar waren
und es offenbar auch ſein ſollten, obwohl der Vorwärts ſich
den Anſchein gab, als hielte er ſie für durchaus diskutabel,
hat er den ihm erteilten Auftrag in die Hand des Reichs-
präſidenten zurückgelegt. Der zweite Vertrauensmann,
der Führer der Deutſchen Volkspartei, ſächſ. Staatsminiſter
a. D. Dr. Heinze, hat ebenfalls nur einen einzigen Schritt
getan. Er hat mit den Mehrheitsſozialiſten verhandelt und
von ihnen unverzüglich den feierlichen und förmlichen Be-
ſcheid erhalten, daß ſie nicht in der Lage ſeien, in eine
Koalition mit der Deutſchen Volkspartei einzutreten. Darauf
hat auch Dr. Heinze verzichtet. Nun kam als dritter der
Führer des Zentrums, Staatsſekretär a. D. Crimborn, an
die Reihe. Für ihn war die Anzahl der Möglichkeiten
durch die vorangegangenen Entſcheidungen von vornherein
ziemlich eingeſchränkt. Wenn die Sozialdemokratie es ab-
lehnte, mit der Deutſchen Volkspartei in die Regierung ein-
zutreten, ſo kam ein Paktieren mit den Deutſchnationalen
von der Baſis der bisherigen Koalition aus erſt recht nicht
in Frage, ſondern es blieben nur zwei Wege; entweder man
ſuchte die bisherige Koalition ohne Verbreiterung not-
dürftig regierungsfähig zu machen, oder man verzichtete
auf die Mitarbeit der Sozialdemokratie und unternahm das
Wagſtück einer rein bürgerlichen Regierung. Dieſer Ver-
zicht hätte aber nach allem, was man bisher gehört, auch
den weiteren Verzicht auf die Mitwirkung der Deutſchen
Demokratiſchen Partei bedeutet. Denn dieſe ſcheint ent-
ſchloſſen, in eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht
einzutreten.

Fragt man ſich nun, ob eine Regierung, die ſich ledig-
lich auf das Zentrum und die „Volksparteien“ ſtützt (Baye-
riſche oder Chriſtliche, Deutſche und Deutſchnationale) unter
den gegenwärtigen Verhältniſſen überhaupt lebensfähig
wäre, ſo muß man ſich ohne Zweifel hüten, lediglich nach
den Zahlen zu urteilen, wonach eine ſolche Kombination
näher an die abſolute Mehrheit heranreichen würde, als
jede andere, die zurzeit denkbar erſcheint. Die Frage muß
politiſch beurteilt werden und politiſch ſcheint eine ſolche
Regierung auf die Dauer ebenſo unmöglich wie etwa eine
rein ſozialiſtiſche, nicht nur wegen des Auslandes, das eine
reine Rechtsregierung — und ſo würde ſie ohne Zweifel
charakteriſiert werden, wenn auch das Zentrum ſich füglich
gegen eine ſolche Bezeichnung wehren würde — ſicherlich
zum Anlaß oder Vorwand nehmen würde, alle Schrauben
des Verſailler Folterinſtrumentes ſchärfer anzuziehen, ſon-
dern auch mit Rückſicht auf unſere innere Lebensmöglich-
keit. Es iſt an dieſer Stelle ſchon oft geſagt worden, muß
aber immer aufs neue wiederholt werden, daß nicht nur
ein Regieren gegen die Geſamtheit der Arbeiterſchaft, das
ja niemandem in den Sinn kommt, auch den Deutſch-
nationalen nicht, ſondern auch ein Regieren ohne die
Arbeiterſchaft in dem durch die Revolution umgeſtalteten
Deutſchland ſo gut wie ausgeſchloſſen iſt, und das Agi-
tationsbedürfnis der ſozialiſtiſchen Preſſe würde jede Re-
gierung ohne eine Arbeiterpartei ohne weiteres zu einer

[Spaltenumbruch]

Regierung gegen die Arbeiterſchaft ſtempeln. Dann würde
auch beim beſten Willen der bürgerlichen Parteien alles ver-
lorengehen, was wir ſeit der Revolution an inneren Er-
rungenſchaften zu verzeichnen haben. Man mag von den
Leiſtungen in den letzten 18 Monaten denken wie man will
— an den ungeheuren Schwierigkeiten gemeſſen, die ihnen
entgegenſtanden, erſcheinen ſie vielleicht nicht ſo belanglos,
wie in ihrer Projektion auf einen normalen Staats- und
Wirtſchaftskörper: das eine iſt jedenfalls von allergrößter
Bedeutung, daß die große Maſſe der deutſchen Arbeiter in
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ſchaftslebens hat rechnen lernen. Sie hat ſich gezwungen
geſehen, ihre begabteſten Geſellſchaftskritiker in die Aemter
verantwortlicher Staatsmänner und Verwaltungsbeamten
zu kommandieren und wenn ihre Erfolge dieſen neuen Auf-
gaben gegenüber nicht überwältigend geweſen ſind, ſo iſt
doch dadurch eine Art aufbauender Zukunftsarbeit geleiſtet
worden, die man nicht unterſchätzen darf. Aber abgeſehen
davon, hat die Mehrheitsſozialdemokratie als leitende Re-
gierungspartei die weiteren Erſchütterungen unſeres inne-
ren Lebens zwar nicht vollſtändig verhindern können, aber
doch erheblich abgeſchwächt, daß ſie wenigſtens nicht allzu-
viel Unheil angerichtet haben. Wenn dieſes Ventil nun-
mehr verſchloſſen werden ſoll, wenn die 190 ſozialiſtiſchen
Abgeordneten und die Millionen Wähler, die hinter ihnen
ſtehen, insgeſamt in die Oppoſition abmarſchieren, ſo wer-
den wir in gewiſſem Sinne in Zuſtände zurückgeworfen,
wie ſie vor den Wahlen der Nationalverſammlung beſtanden,
und das iſt eine außerordentlich ernſte Perſpektive. Wir
halten alſo eine Regierung aus den Parteien der Rechten
bis zum Zentrum einſchließlich nicht für lebensfähig. Crotz-
dem aber ſcheint die Gefahr einer ſolchen Regierung außer-
ordentlich nahegerückt, denn die am 14. Juni von der
ſozialdemokratiſchen Fraktion und dem Parteiausſchuß an-
genommene Erklärung lautet wie folgt:

Ein ſtimmig kam die Ueberzeugung zum Ausdruck, daß für
die Partei die Beteiligung an einer Regierung, die Elemente der
Rechtsparteien enthält, ausgeſchloſſen iſt.
Nachdem die Unabhängigen es abgelehnt haben, ſich an
einer Regierung zu beteiligen, die den Schutz der Republik und
der revolutionären Errungenſchaften der Arbeiter, Angeſtellten
und Beamten übernimmt, haben ſie die Verantwortung für
eine Situation zu tragen, in der nur die Bildung einer rein
bürgerlichen
Regierung möglich iſt.
Eine Fortſetzung der bisher betriebenen Koalitionspolitik
mit Zentrum und Demokraten wird gegenwärtig als unmöglich
betrachtet.“

Abgeſehen von dem mittleren Abſatz, der einige Ge-
wiſſensſkrupel erkennen läßt, enthält dieſe Entſchließung
zwei völlig ſelbſtändige Ablehnungen: die einſtimmige Ab-
lehnung der Ceilnahme an einer Regierung, die „Elemente
der Rechtsparteien“ enthält, und den anſcheinend nicht ein-
ſtimmigen Derzicht auf eine Fortſetzung der bisherigen
Koalitionspolitik, die „gegenwärtig als unmöglich be-
trachtet“ wird. Nimmt man das alles wörtlich, ſo bedeutet
es das vorläufige Ausſcheiden der Sozialdemokratie aus
jeder Regierungskombination, d. h. alſo eine rein bürger-
liche Regierung, denn eine die Mehrheitsſozialdemokratie
überſpringende Verſtändigung der Rechtsparteien oder des
Zentrums mit den Unabhängigen, wie ſie während der
März-Putſchtage von blutigen politiſchen Dilettanten ver-
ſucht worden iſt, kann ja ſelbſtverſtändlich nicht ernſthaft
in Frage kommen; bliebe es alſo dabei, ſo käme wirklich
nur eine bürgerliche [Koalition] in Frage und da auch die
demokratiſchen Führer wiederholt erklärt haben, daß ſie in
eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht eintreten
würden, ſo würde der Regierungsblock tatſächlich mit dem
Zentrum abſchließen müſſen.

Man wird nun aber allerdings zunächſt im Zweifel
darüber ſein dürfen, ob das letzte Wort der Demokraten
ſchon geſprochen iſt. Es wäre durchaus zu verſtehen, wenn
die Demokraten ihre Mitarbeit in einer Regierung ab-
lehnten, aus der die Sozialdemokratie ausgeſchloſſen
werden ſoll; davon iſt doch aber gar keine Rede. Jm Gegen-
teil, man umwirbt die Sozialdemokratie, wie ſie noch nie-
mals umworben worden iſt, und es ſcheint ihr ein dia-
boliſches Vergnügen zu machen, ſich in dieſer Weiſe um-

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[225/0003] 20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Die Regierungskriſis im Reich. Es iſt nicht ganz unmöglich, daß die Regierungskriſis in Berlin eine gewiſſe Löſung gefunden hat, wenn dieſe Zeilen an die Oeffentlichkeit gelangen; aber wahrſcheinlich iſt es nicht und ganz gewiß iſt, daß die Löſung auch im beſten Falle nur eine vorläufige ſein wird; denn die natür- liche Löſung, die einzige, die eine Gewähr der Dauer in ſich tra- gen würde, die Verbreiterung der unzulänglich gewordenen bisherigen und „natürlichen“ Regierungsbaſis nach rechts oder links ſcheint unmöglich geworden. Der bisherige Reichs- kanzler Müller, der als erſter vom Reichspräſidenten den Auftrag zur Kabinettsbildung empfangen hatte, hat ſich auf einen einzigen Verſuch beſchränkt: Er hat ſich an die Unab- hängigen gewandt, und als dieſe für ihren Eintritt in die Regierung Bedingungen ſtellten, die unannehmbar waren und es offenbar auch ſein ſollten, obwohl der Vorwärts ſich den Anſchein gab, als hielte er ſie für durchaus diskutabel, hat er den ihm erteilten Auftrag in die Hand des Reichs- präſidenten zurückgelegt. Der zweite Vertrauensmann, der Führer der Deutſchen Volkspartei, ſächſ. Staatsminiſter a. D. Dr. Heinze, hat ebenfalls nur einen einzigen Schritt getan. Er hat mit den Mehrheitsſozialiſten verhandelt und von ihnen unverzüglich den feierlichen und förmlichen Be- ſcheid erhalten, daß ſie nicht in der Lage ſeien, in eine Koalition mit der Deutſchen Volkspartei einzutreten. Darauf hat auch Dr. Heinze verzichtet. Nun kam als dritter der Führer des Zentrums, Staatsſekretär a. D. Crimborn, an die Reihe. Für ihn war die Anzahl der Möglichkeiten durch die vorangegangenen Entſcheidungen von vornherein ziemlich eingeſchränkt. Wenn die Sozialdemokratie es ab- lehnte, mit der Deutſchen Volkspartei in die Regierung ein- zutreten, ſo kam ein Paktieren mit den Deutſchnationalen von der Baſis der bisherigen Koalition aus erſt recht nicht in Frage, ſondern es blieben nur zwei Wege; entweder man ſuchte die bisherige Koalition ohne Verbreiterung not- dürftig regierungsfähig zu machen, oder man verzichtete auf die Mitarbeit der Sozialdemokratie und unternahm das Wagſtück einer rein bürgerlichen Regierung. Dieſer Ver- zicht hätte aber nach allem, was man bisher gehört, auch den weiteren Verzicht auf die Mitwirkung der Deutſchen Demokratiſchen Partei bedeutet. Denn dieſe ſcheint ent- ſchloſſen, in eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht einzutreten. Fragt man ſich nun, ob eine Regierung, die ſich ledig- lich auf das Zentrum und die „Volksparteien“ ſtützt (Baye- riſche oder Chriſtliche, Deutſche und Deutſchnationale) unter den gegenwärtigen Verhältniſſen überhaupt lebensfähig wäre, ſo muß man ſich ohne Zweifel hüten, lediglich nach den Zahlen zu urteilen, wonach eine ſolche Kombination näher an die abſolute Mehrheit heranreichen würde, als jede andere, die zurzeit denkbar erſcheint. Die Frage muß politiſch beurteilt werden und politiſch ſcheint eine ſolche Regierung auf die Dauer ebenſo unmöglich wie etwa eine rein ſozialiſtiſche, nicht nur wegen des Auslandes, das eine reine Rechtsregierung — und ſo würde ſie ohne Zweifel charakteriſiert werden, wenn auch das Zentrum ſich füglich gegen eine ſolche Bezeichnung wehren würde — ſicherlich zum Anlaß oder Vorwand nehmen würde, alle Schrauben des Verſailler Folterinſtrumentes ſchärfer anzuziehen, ſon- dern auch mit Rückſicht auf unſere innere Lebensmöglich- keit. Es iſt an dieſer Stelle ſchon oft geſagt worden, muß aber immer aufs neue wiederholt werden, daß nicht nur ein Regieren gegen die Geſamtheit der Arbeiterſchaft, das ja niemandem in den Sinn kommt, auch den Deutſch- nationalen nicht, ſondern auch ein Regieren ohne die Arbeiterſchaft in dem durch die Revolution umgeſtalteten Deutſchland ſo gut wie ausgeſchloſſen iſt, und das Agi- tationsbedürfnis der ſozialiſtiſchen Preſſe würde jede Re- gierung ohne eine Arbeiterpartei ohne weiteres zu einer Regierung gegen die Arbeiterſchaft ſtempeln. Dann würde auch beim beſten Willen der bürgerlichen Parteien alles ver- lorengehen, was wir ſeit der Revolution an inneren Er- rungenſchaften zu verzeichnen haben. Man mag von den Leiſtungen in den letzten 18 Monaten denken wie man will — an den ungeheuren Schwierigkeiten gemeſſen, die ihnen entgegenſtanden, erſcheinen ſie vielleicht nicht ſo belanglos, wie in ihrer Projektion auf einen normalen Staats- und Wirtſchaftskörper: das eine iſt jedenfalls von allergrößter Bedeutung, daß die große Maſſe der deutſchen Arbeiter in dieſer Zeit mit den Realitäten des Staats- und Wirt- ſchaftslebens hat rechnen lernen. Sie hat ſich gezwungen geſehen, ihre begabteſten Geſellſchaftskritiker in die Aemter verantwortlicher Staatsmänner und Verwaltungsbeamten zu kommandieren und wenn ihre Erfolge dieſen neuen Auf- gaben gegenüber nicht überwältigend geweſen ſind, ſo iſt doch dadurch eine Art aufbauender Zukunftsarbeit geleiſtet worden, die man nicht unterſchätzen darf. Aber abgeſehen davon, hat die Mehrheitsſozialdemokratie als leitende Re- gierungspartei die weiteren Erſchütterungen unſeres inne- ren Lebens zwar nicht vollſtändig verhindern können, aber doch erheblich abgeſchwächt, daß ſie wenigſtens nicht allzu- viel Unheil angerichtet haben. Wenn dieſes Ventil nun- mehr verſchloſſen werden ſoll, wenn die 190 ſozialiſtiſchen Abgeordneten und die Millionen Wähler, die hinter ihnen ſtehen, insgeſamt in die Oppoſition abmarſchieren, ſo wer- den wir in gewiſſem Sinne in Zuſtände zurückgeworfen, wie ſie vor den Wahlen der Nationalverſammlung beſtanden, und das iſt eine außerordentlich ernſte Perſpektive. Wir halten alſo eine Regierung aus den Parteien der Rechten bis zum Zentrum einſchließlich nicht für lebensfähig. Crotz- dem aber ſcheint die Gefahr einer ſolchen Regierung außer- ordentlich nahegerückt, denn die am 14. Juni von der ſozialdemokratiſchen Fraktion und dem Parteiausſchuß an- genommene Erklärung lautet wie folgt: „Ein ſtimmig kam die Ueberzeugung zum Ausdruck, daß für die Partei die Beteiligung an einer Regierung, die Elemente der Rechtsparteien enthält, ausgeſchloſſen iſt. Nachdem die Unabhängigen es abgelehnt haben, ſich an einer Regierung zu beteiligen, die den Schutz der Republik und der revolutionären Errungenſchaften der Arbeiter, Angeſtellten und Beamten übernimmt, haben ſie die Verantwortung für eine Situation zu tragen, in der nur die Bildung einer rein bürgerlichen Regierung möglich iſt. Eine Fortſetzung der bisher betriebenen Koalitionspolitik mit Zentrum und Demokraten wird gegenwärtig als unmöglich betrachtet.“ Abgeſehen von dem mittleren Abſatz, der einige Ge- wiſſensſkrupel erkennen läßt, enthält dieſe Entſchließung zwei völlig ſelbſtändige Ablehnungen: die einſtimmige Ab- lehnung der Ceilnahme an einer Regierung, die „Elemente der Rechtsparteien“ enthält, und den anſcheinend nicht ein- ſtimmigen Derzicht auf eine Fortſetzung der bisherigen Koalitionspolitik, die „gegenwärtig als unmöglich be- trachtet“ wird. Nimmt man das alles wörtlich, ſo bedeutet es das vorläufige Ausſcheiden der Sozialdemokratie aus jeder Regierungskombination, d. h. alſo eine rein bürger- liche Regierung, denn eine die Mehrheitsſozialdemokratie überſpringende Verſtändigung der Rechtsparteien oder des Zentrums mit den Unabhängigen, wie ſie während der März-Putſchtage von blutigen politiſchen Dilettanten ver- ſucht worden iſt, kann ja ſelbſtverſtändlich nicht ernſthaft in Frage kommen; bliebe es alſo dabei, ſo käme wirklich nur eine bürgerliche Koalition in Frage und da auch die demokratiſchen Führer wiederholt erklärt haben, daß ſie in eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht eintreten würden, ſo würde der Regierungsblock tatſächlich mit dem Zentrum abſchließen müſſen. Man wird nun aber allerdings zunächſt im Zweifel darüber ſein dürfen, ob das letzte Wort der Demokraten ſchon geſprochen iſt. Es wäre durchaus zu verſtehen, wenn die Demokraten ihre Mitarbeit in einer Regierung ab- lehnten, aus der die Sozialdemokratie ausgeſchloſſen werden ſoll; davon iſt doch aber gar keine Rede. Jm Gegen- teil, man umwirbt die Sozialdemokratie, wie ſie noch nie- mals umworben worden iſt, und es ſcheint ihr ein dia- boliſches Vergnügen zu machen, ſich in dieſer Weiſe um-

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine24_1920/3>, abgerufen am 17.06.2024.