Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 13. Juni 1920.13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Die Wahlen in Baden. Die Wahlen in Baden tragen das Zeichen des allge- Das zunächst in die Augen fallende ist die schwächere Wie hinsichtlich der Wahlbeteiligung, so haben sich die Die "herrschende Partei" teilt das Schicksal aller Wie im Reiche, so haben auch in Baden die Demo- Trotzdem haben die beiden "Rechtsparteien" nicht den Die deutsche Volkspartei sendet einen Vertreter Von den sozialistischen Parteien wurde schon eingangs Die schwache Wahlbeteiligung hat, da wir ja den 13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Die Wahlen in Baden. Die Wahlen in Baden tragen das Zeichen des allge- Das zunächſt in die Augen fallende iſt die ſchwächere Wie hinſichtlich der Wahlbeteiligung, ſo haben ſich die Die „herrſchende Partei“ teilt das Schickſal aller Wie im Reiche, ſo haben auch in Baden die Demo- Trotzdem haben die beiden „Rechtsparteien“ nicht den Die deutſche Volkspartei ſendet einen Vertreter Von den ſozialiſtiſchen Parteien wurde ſchon eingangs Die ſchwache Wahlbeteiligung hat, da wir ja den <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <pb facs="#f0005" n="219"/> <fw place="top" type="header">13. Juni 1920 <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/> <cb/> </div> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Die Wahlen in Baden.</hi> </hi> </head><lb/> <p>Die Wahlen in Baden tragen das Zeichen des allge-<lb/> meinen Wahlausfalles im Reich: erheblich verminderte<lb/> Wahlbeteiligung im ganzen, Rückgang der ſozialdemo-<lb/> kratiſchen und demokratiſchen Stimmen und Zunahme der<lb/> Stimmen von rechts, während ſich die Zentrumsſtimmen<lb/> gehalten haben, wenn man das Minus abzieht, das auf<lb/> die Zentrumspartei infolge der ſchwächeren Wahlbeteili-<lb/> gung zu fallen hat. (Im Reiche ſcheint der Rückgang der<lb/> Zentrumsſtimmen doch etwas ſtärker. Die Schriftleitung.)</p><lb/> <p>Das zunächſt in die Augen fallende iſt die ſchwächere<lb/> Wahlbeteiligung. Haben am 19. Januar 1919 rund 1,053,700<lb/> Wähler ihr Stimmrecht ausgeübt, ſo jetzt nur 921,800, das<lb/> ſind rund 132,000 Stimmen weniger. Mit einem ſo ſtarken<lb/> Rückgang hat niemand gerechnet. Dieſe Wahlflauheit aber<lb/> beweiſt, daß die politiſche und wirtſchaftliche Lage im<lb/> ganzen nicht als bedrohlich angeſehen wird. Denn dieſe<lb/> 132,000 Stimmen erhöhen ſich noch an wahlpolitiſchem und<lb/> ſozial-pſychologiſchem Wert um ein beträchtliches, wenn<lb/> man erwägt, daß die Zahl der Wahlberechtigten gegen die<lb/> vorige Wahl doch nicht ab-, ſondern zugenommen hat. Weite<lb/> Kreiſe des Volkes ſind alſo der Meinung, daß die politiſche<lb/> Geſamtlage keineswegs ſo gefährdet iſt, daß man, um das<lb/> „Daterland zu retten“, unbedingt wählen muß. Man iſt<lb/> ſchon wieder dabei, ſich die Zipfelmütze über die Ohren zu<lb/> ziehen und ſich einem politiſchen Phäakendaſein zu wid-<lb/> men. Das iſt ſehr zu bedauern. Wenn jetzt in dieſen Zeiten,<lb/> in denen das politiſche und wirtſchaftliche Schickſal<lb/> Deutſchlands auf des Meſſers Schneide ſteht, weite Volks-<lb/> kreiſe ſich nicht zu der einfachſten Form politiſcher Be-<lb/> tätigung aufſchwingen können, zur Abgabe eines poli-<lb/> tiſchen Stimmzettels, dann iſt es mit der politiſchen Mün-<lb/> digkeit ſchlecht beſtellt. Unſere politiſchen Einpeitſcher<lb/> haben alſo ſchlecht gerechnet, wenn ſie glaubten, das Volk<lb/> ſtehe „wie ein Mann“ auf, um nach irgendeiner Seite hin<lb/> „Gerichtstag“ abzuhalten.</p><lb/> <p>Wie hinſichtlich der Wahlbeteiligung, ſo haben ſich die<lb/> Berufspolitiker auch hinſichtlich des Wahlausfalls ge-<lb/> täuſcht. Die Extremen von rechts und links werden<lb/> allein gewinnen — das war das Dogma der Agi-<lb/> tation. Hätte die Prophezeiung ſich bewahrheitet, ſo müßte<lb/> eine ſtarke allgemeine Mehrbeteiligung ſtattgefunden<lb/> haben, durch die allein eine wirkliche Entſcheidung ſtatt-<lb/> finden kann. Nun iſt aber das Kriterium der Wahl: ein<lb/> Zurückgehen der Stimmen von links. Daß die Mehrheits-<lb/> ſozialdemokratie an Stimmen eingebüßt hat zugunſten der<lb/> Unabhängigen, iſt an ſich belanglos. Nur wenn die Ge-<lb/> ſamtheit aller ſozialiſtiſchen Stimmen zugenommen hätte,<lb/> könnte von einer extremen Linksentwicklung im allge-<lb/> meinen die Rede ſein. Am 19. Januar 1919 erhielten die<lb/> Sozialdemokraten insgeſamt 366,800 Stimmen, bei den<lb/> jetzigen Wahlen 303,000, das ſind faſt 64,000 Stimmen<lb/> weniger. Von dieſen 303,000 Stimmen fielen auf die<lb/> Mehrheitsſozialiſten 185,000 Stimmen, auf die Unabhän-<lb/> gigen 103,000 und auf die Kommuniſten 14,700. Das ſieht<lb/> nicht nach extremer Linksentwicklung aus. Auch die Un-<lb/> abhängigen müſſen ſich als Enttäuſchte fühlen. Unter dem<lb/> Elan des revolutionären Geiſtes vom November 1918<lb/> haben drei Monate ſpäter große Maſſen radikal geſtimmt,<lb/> beſonders auch bei der Landbevölkerung. Die revolutionäre<lb/> Welle nimmt immer Elemente mit, denen revolutionärer<lb/> Pathos nur eine Gelegenheitsſache iſt. Jetzt iſt die Welt<lb/> viel nüchterner geworden und darum wird für das Reich<lb/> wie für Baden der jetzige Wahlausfall einen <hi rendition="#g">politiſchen<lb/> Normalſtatus</hi> bedeuten, der die <hi rendition="#g">Aktiven</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Paſſiven der Revolution genau umſchreibt</hi>.<lb/> Das revolutionäre Flittergold iſt beſeitigt.</p><lb/> <p>Die „herrſchende Partei“ teilt das Schickſal aller<lb/> „Regierungsparteien“, ſie wird berannt und unter das<lb/> Schwert der Kritik geſtellt. Zur Kritik aber gab die herr-<lb/> ſchende Partei genugſam Veranlaſſung. Statt ſich zu mäßi-<lb/> gen, beſonders in der Ausnützung der Regierungsgewalt für<lb/> Parteizwecke und für die Beſriedigung perſönlichen Ehr-<lb/><cb/> geizes und anderer, einſeitig materieller Intereſſen der<lb/> Parteigänger, hat man der Kritik der Uebergangenen,<lb/> Zurückgeſetzten und Derdrängten viele Blößen geboten.<lb/> Der Tüchtigſte an ſeinen Platz! Dieſer ſo eminent demo-<lb/> kratiſche Grundſatz iſt doch endlich außer Kurs geſetzt<lb/> worden und Partei- und Gewerkſchaftszugehörigkeit haben<lb/> jeden Befähigungsnachweis erſetzt. Man kann gewiß auch<lb/> als Schreiner oder Schloſſer ein vortrefflicher Politiker<lb/> ſein, aber doch kein Volksrepräſentant und Derwaltungs-<lb/> beamter. Es hat auf das deutſche Volk, bis in die links-<lb/> gerichteten Kreiſe, einen böſen Eindruck gemacht, daß man<lb/> ihm ungebildete Männer zu Führern gab. Man merkte<lb/> die Abſicht und wurde verſtimmt.</p><lb/> <p>Wie im Reiche, ſo haben auch in Baden die <hi rendition="#g">Demo-<lb/> kraten</hi> die Zeche zu zahlen, ſie kommen mit zwei Sitzen,<lb/> Miniſter <hi rendition="#g">Dietrich</hi> und Dr. Ludwig <hi rendition="#g">Haas</hi> in den Reichs-<lb/> tag. Das war vorauszuſehen, nachdem die altnational-<lb/> liberale Partei wieder auf der Bildfläche erſchien und ſo<lb/> die nationalliberalen Elemente der demokratiſchen Partei<lb/> entzog. Aber auch wenn man den 114,000 demokratiſchen<lb/> Stimmen die 65,000 zuzählt, die die nationalliberale Par-<lb/> tei erhalten hat, ſo bleibt doch immer noch ein Minus von<lb/> 46,000 Stimmen; denn am 14. Januar 1919 erhielt die<lb/> demokratiſche Partei 226,800 Stimmen. Selbſt wenn man<lb/> den durch die ſchwächere Wahlbeteiligung erforderlichen<lb/> Prozentſatz in Rechnung ſetzt, bleibt doch ein bedeutendes<lb/> Minus, das man der zugenommen habenden Unpopularität<lb/> der demokratiſchen Partei anrechnen muß. Für dieſes<lb/> Minus gibt es mannigfache Erklärungen. Auch die demo-<lb/> kratiſche Partei hat unter dem allgemeinen Odium der<lb/> „Regierungspartei“ zu leiden, die nicht „alle Sachen“ ſo<lb/> raſch in Schwung und Ordnung brachte, wie man das eben<lb/> von einer Regierungspartei und einer „Volksregierung“<lb/> verlangt. Auch der Antiſemitismus hat an dem ſchlechten<lb/> Wahlausfall für die Demokratie ſein gemeſſen Teil. Von<lb/> den beiden Rechtsparteien, beſonders von der deutſch-<lb/> nationalen Volkspartei, iſt auf dieſem Gebiete Erkleckliches<lb/> geleiſtet worden; die Verhetzung nahm oft die brutalſten<lb/> Formen an und ſcheute ſich nicht, auch die niedrigſten Jn-<lb/> ſtinkte mobil zu machen.</p><lb/> <p>Trotzdem haben die beiden „Rechtsparteien“ nicht den<lb/> Erfolg aufzuweiſen, auf den ſie hofften. Die deutſch-<lb/> nationale Volkspartei hat ihre Stimmzahl von 79,000 im<lb/> Jahre 1919 auf 112,600 erhöht, das ſind faſt 33,000 Stim-<lb/> men mehr. Aber das will bei der mehr als forſchen Agi-<lb/> tation, die von der Partei getrieben wurde, nicht viel be-<lb/> ſagen. Die deutſch-nationale Volkspartei wird vorausſicht-<lb/> lich zu ihrem einen Mandat, das ſie bis jetzt inne hatte,<lb/> auf dem Wege der Hinzurechnung der württembergiſchen<lb/> Verbandsliſte ein zweites Mandat erhalten, welches von<lb/> dem demokratiſch gerichteten Bauernbürgermeiſter <hi rendition="#g">Fiſcher</hi>-<lb/> Lahr, beſetzt wird. Fiſcher iſt politiſch eine vollkommene<lb/> Null und ſelbſt vom agrariſchen Standpunkt aus nur als<lb/> eine Leuchte vierter Ordnung zu betrachten.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">deutſche Volkspartei</hi> ſendet einen Vertreter<lb/> in der Perſon des Herrn Profeſſors <hi rendition="#g">Luſtius</hi>- Heidel-<lb/> berg in den Reichstag. Die Partei hat auf mindeſtens<lb/> zwei, wenn nicht gar drei Vertreter gerechnet.</p><lb/> <p>Von den ſozialiſtiſchen Parteien wurde ſchon eingangs<lb/> das Notwendige geſagt. Sie ſenden vier Vertreter in den<lb/> Reichstag, verlieren alſo im ganzen einen Sitz. Daß die<lb/><hi rendition="#g">Kommuniſten</hi> leer ausgehen, wird allgemein freudigſt<lb/> begrüßt. Am beſten gehalten hat ſich das <hi rendition="#g">Zentrum</hi>.<lb/> Zwar iſt es auch von 381,000 Stimmen im Jahre 1919 auf<lb/> 327,000 zurückgegangen (zur Zeit der Abfaſſung dieſes<lb/> Berichts ſteht noch der Kreis Waldshut aus, der dem Zen-<lb/> trum noch ein paar tauſend Stimmen bringen wird), aber<lb/> das will nichts Entſcheidendes beſagen, da prozentual die<lb/> Zentrumsſtimmen ſich gehalten und in verſchiedenen Be-<lb/> zirken ſogar abſolut zugenommen haben. Alle Spekula-<lb/> tionen auf Abbröckelung beim Zentrum haben ſich wenig-<lb/> ſtens in Baden als eitel erwieſen.</p><lb/> <p>Die ſchwache Wahlbeteiligung hat, da wir ja den<lb/> automatiſchen Proporz beſitzen, zur Folge, daß nur 12 Ab-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [219/0005]
13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung
Die Wahlen in Baden.
Die Wahlen in Baden tragen das Zeichen des allge-
meinen Wahlausfalles im Reich: erheblich verminderte
Wahlbeteiligung im ganzen, Rückgang der ſozialdemo-
kratiſchen und demokratiſchen Stimmen und Zunahme der
Stimmen von rechts, während ſich die Zentrumsſtimmen
gehalten haben, wenn man das Minus abzieht, das auf
die Zentrumspartei infolge der ſchwächeren Wahlbeteili-
gung zu fallen hat. (Im Reiche ſcheint der Rückgang der
Zentrumsſtimmen doch etwas ſtärker. Die Schriftleitung.)
Das zunächſt in die Augen fallende iſt die ſchwächere
Wahlbeteiligung. Haben am 19. Januar 1919 rund 1,053,700
Wähler ihr Stimmrecht ausgeübt, ſo jetzt nur 921,800, das
ſind rund 132,000 Stimmen weniger. Mit einem ſo ſtarken
Rückgang hat niemand gerechnet. Dieſe Wahlflauheit aber
beweiſt, daß die politiſche und wirtſchaftliche Lage im
ganzen nicht als bedrohlich angeſehen wird. Denn dieſe
132,000 Stimmen erhöhen ſich noch an wahlpolitiſchem und
ſozial-pſychologiſchem Wert um ein beträchtliches, wenn
man erwägt, daß die Zahl der Wahlberechtigten gegen die
vorige Wahl doch nicht ab-, ſondern zugenommen hat. Weite
Kreiſe des Volkes ſind alſo der Meinung, daß die politiſche
Geſamtlage keineswegs ſo gefährdet iſt, daß man, um das
„Daterland zu retten“, unbedingt wählen muß. Man iſt
ſchon wieder dabei, ſich die Zipfelmütze über die Ohren zu
ziehen und ſich einem politiſchen Phäakendaſein zu wid-
men. Das iſt ſehr zu bedauern. Wenn jetzt in dieſen Zeiten,
in denen das politiſche und wirtſchaftliche Schickſal
Deutſchlands auf des Meſſers Schneide ſteht, weite Volks-
kreiſe ſich nicht zu der einfachſten Form politiſcher Be-
tätigung aufſchwingen können, zur Abgabe eines poli-
tiſchen Stimmzettels, dann iſt es mit der politiſchen Mün-
digkeit ſchlecht beſtellt. Unſere politiſchen Einpeitſcher
haben alſo ſchlecht gerechnet, wenn ſie glaubten, das Volk
ſtehe „wie ein Mann“ auf, um nach irgendeiner Seite hin
„Gerichtstag“ abzuhalten.
Wie hinſichtlich der Wahlbeteiligung, ſo haben ſich die
Berufspolitiker auch hinſichtlich des Wahlausfalls ge-
täuſcht. Die Extremen von rechts und links werden
allein gewinnen — das war das Dogma der Agi-
tation. Hätte die Prophezeiung ſich bewahrheitet, ſo müßte
eine ſtarke allgemeine Mehrbeteiligung ſtattgefunden
haben, durch die allein eine wirkliche Entſcheidung ſtatt-
finden kann. Nun iſt aber das Kriterium der Wahl: ein
Zurückgehen der Stimmen von links. Daß die Mehrheits-
ſozialdemokratie an Stimmen eingebüßt hat zugunſten der
Unabhängigen, iſt an ſich belanglos. Nur wenn die Ge-
ſamtheit aller ſozialiſtiſchen Stimmen zugenommen hätte,
könnte von einer extremen Linksentwicklung im allge-
meinen die Rede ſein. Am 19. Januar 1919 erhielten die
Sozialdemokraten insgeſamt 366,800 Stimmen, bei den
jetzigen Wahlen 303,000, das ſind faſt 64,000 Stimmen
weniger. Von dieſen 303,000 Stimmen fielen auf die
Mehrheitsſozialiſten 185,000 Stimmen, auf die Unabhän-
gigen 103,000 und auf die Kommuniſten 14,700. Das ſieht
nicht nach extremer Linksentwicklung aus. Auch die Un-
abhängigen müſſen ſich als Enttäuſchte fühlen. Unter dem
Elan des revolutionären Geiſtes vom November 1918
haben drei Monate ſpäter große Maſſen radikal geſtimmt,
beſonders auch bei der Landbevölkerung. Die revolutionäre
Welle nimmt immer Elemente mit, denen revolutionärer
Pathos nur eine Gelegenheitsſache iſt. Jetzt iſt die Welt
viel nüchterner geworden und darum wird für das Reich
wie für Baden der jetzige Wahlausfall einen politiſchen
Normalſtatus bedeuten, der die Aktiven und
Paſſiven der Revolution genau umſchreibt.
Das revolutionäre Flittergold iſt beſeitigt.
Die „herrſchende Partei“ teilt das Schickſal aller
„Regierungsparteien“, ſie wird berannt und unter das
Schwert der Kritik geſtellt. Zur Kritik aber gab die herr-
ſchende Partei genugſam Veranlaſſung. Statt ſich zu mäßi-
gen, beſonders in der Ausnützung der Regierungsgewalt für
Parteizwecke und für die Beſriedigung perſönlichen Ehr-
geizes und anderer, einſeitig materieller Intereſſen der
Parteigänger, hat man der Kritik der Uebergangenen,
Zurückgeſetzten und Derdrängten viele Blößen geboten.
Der Tüchtigſte an ſeinen Platz! Dieſer ſo eminent demo-
kratiſche Grundſatz iſt doch endlich außer Kurs geſetzt
worden und Partei- und Gewerkſchaftszugehörigkeit haben
jeden Befähigungsnachweis erſetzt. Man kann gewiß auch
als Schreiner oder Schloſſer ein vortrefflicher Politiker
ſein, aber doch kein Volksrepräſentant und Derwaltungs-
beamter. Es hat auf das deutſche Volk, bis in die links-
gerichteten Kreiſe, einen böſen Eindruck gemacht, daß man
ihm ungebildete Männer zu Führern gab. Man merkte
die Abſicht und wurde verſtimmt.
Wie im Reiche, ſo haben auch in Baden die Demo-
kraten die Zeche zu zahlen, ſie kommen mit zwei Sitzen,
Miniſter Dietrich und Dr. Ludwig Haas in den Reichs-
tag. Das war vorauszuſehen, nachdem die altnational-
liberale Partei wieder auf der Bildfläche erſchien und ſo
die nationalliberalen Elemente der demokratiſchen Partei
entzog. Aber auch wenn man den 114,000 demokratiſchen
Stimmen die 65,000 zuzählt, die die nationalliberale Par-
tei erhalten hat, ſo bleibt doch immer noch ein Minus von
46,000 Stimmen; denn am 14. Januar 1919 erhielt die
demokratiſche Partei 226,800 Stimmen. Selbſt wenn man
den durch die ſchwächere Wahlbeteiligung erforderlichen
Prozentſatz in Rechnung ſetzt, bleibt doch ein bedeutendes
Minus, das man der zugenommen habenden Unpopularität
der demokratiſchen Partei anrechnen muß. Für dieſes
Minus gibt es mannigfache Erklärungen. Auch die demo-
kratiſche Partei hat unter dem allgemeinen Odium der
„Regierungspartei“ zu leiden, die nicht „alle Sachen“ ſo
raſch in Schwung und Ordnung brachte, wie man das eben
von einer Regierungspartei und einer „Volksregierung“
verlangt. Auch der Antiſemitismus hat an dem ſchlechten
Wahlausfall für die Demokratie ſein gemeſſen Teil. Von
den beiden Rechtsparteien, beſonders von der deutſch-
nationalen Volkspartei, iſt auf dieſem Gebiete Erkleckliches
geleiſtet worden; die Verhetzung nahm oft die brutalſten
Formen an und ſcheute ſich nicht, auch die niedrigſten Jn-
ſtinkte mobil zu machen.
Trotzdem haben die beiden „Rechtsparteien“ nicht den
Erfolg aufzuweiſen, auf den ſie hofften. Die deutſch-
nationale Volkspartei hat ihre Stimmzahl von 79,000 im
Jahre 1919 auf 112,600 erhöht, das ſind faſt 33,000 Stim-
men mehr. Aber das will bei der mehr als forſchen Agi-
tation, die von der Partei getrieben wurde, nicht viel be-
ſagen. Die deutſch-nationale Volkspartei wird vorausſicht-
lich zu ihrem einen Mandat, das ſie bis jetzt inne hatte,
auf dem Wege der Hinzurechnung der württembergiſchen
Verbandsliſte ein zweites Mandat erhalten, welches von
dem demokratiſch gerichteten Bauernbürgermeiſter Fiſcher-
Lahr, beſetzt wird. Fiſcher iſt politiſch eine vollkommene
Null und ſelbſt vom agrariſchen Standpunkt aus nur als
eine Leuchte vierter Ordnung zu betrachten.
Die deutſche Volkspartei ſendet einen Vertreter
in der Perſon des Herrn Profeſſors Luſtius- Heidel-
berg in den Reichstag. Die Partei hat auf mindeſtens
zwei, wenn nicht gar drei Vertreter gerechnet.
Von den ſozialiſtiſchen Parteien wurde ſchon eingangs
das Notwendige geſagt. Sie ſenden vier Vertreter in den
Reichstag, verlieren alſo im ganzen einen Sitz. Daß die
Kommuniſten leer ausgehen, wird allgemein freudigſt
begrüßt. Am beſten gehalten hat ſich das Zentrum.
Zwar iſt es auch von 381,000 Stimmen im Jahre 1919 auf
327,000 zurückgegangen (zur Zeit der Abfaſſung dieſes
Berichts ſteht noch der Kreis Waldshut aus, der dem Zen-
trum noch ein paar tauſend Stimmen bringen wird), aber
das will nichts Entſcheidendes beſagen, da prozentual die
Zentrumsſtimmen ſich gehalten und in verſchiedenen Be-
zirken ſogar abſolut zugenommen haben. Alle Spekula-
tionen auf Abbröckelung beim Zentrum haben ſich wenig-
ſtens in Baden als eitel erwieſen.
Die ſchwache Wahlbeteiligung hat, da wir ja den
automatiſchen Proporz beſitzen, zur Folge, daß nur 12 Ab-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-04-24T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |