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Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 13. Juni 1920.

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13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung


[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft
Rechts oder links?

Es hat in Deutschland wirklich nie eine Zeit gegeben,
in der das Regieren schwerer und das Kritisieren leichter
gewesen wäre als gegenwärtig. Der Ausschuß aus den koa-
lierten Parteien, der bisher die Regierung im neuen
Deutschland geführt hat, hätte aus Halbgöttern zusammen-
gesetzt werden können und wäre doch nicht in der Tage
gewesen, es irgend jemandem recht zu machen. Wer irgend
an den Jdeen und Jdealen des Sozialismus festhält, muß
aufs schwerste enttäuscht sein über die hilflosen Kümmer-
lichkeiten, in denen die zu einem ebenso brutalen wie bor-
nierten Lohnkampf geworbene Revolution sich ausgewirkt
hat. Das Bürgertum aber ist entsetzt über die verhängnis-
vollen Zugeständnisse, die seine Vertreter diesem "Regime
des Unvermögens" gemacht haben. Jnsbesondere den
Demokraten hat man bittere Dorwürfe darüber gemacht,
daß sie angeblich unter dem Einfluß des persönlichen Ehr-
geizes einzelner Führer sich bereitgefunden hätten, den
Regierungskurs gleichsam im Anhängewagen mitzufahren,
ohne die Macht, an dessen Richtung etwas zu ändern, und
auch nur den Anfang wiederaufbauender Arbeit durchzu-
setzen. Bernhard Dernburg hat unlängst diesen Dorwurf
lebhaft zurückgewiesen. Er hat die Demokraten, wie sie sich
zum Wahlkampf zu stellen hatten, mit einer Sturmtruppe
verglichen, die verschmutzt, zerschunden und geschwächt aus
den vordersten Gräben zurückkehrt und nun von den ebenso
bequemen wie selbstgefälligen und selbstbewußten Herren
der Etappe in tadelloser Adjustierung mit überlegener
Wohlweisheit empfangen wird. Das ist ein hübsches und
glückliches Bild, wenn es auch nicht ausreicht, den Kritikern
den Mund zu stopfen. Denn die Tatsache, daß die Demo-
kraten in der Regierung wenig durchsetzten und wenig zu
verhindern vermocht haben, und daß sie der Derantwortung,
die sie freiwillig auf sich genommen haben, nur sehr be-
scheidene Früchte ihrer besonderen Arbeit gegenüberstellen
konnten, bleibt bestehen. Die Lohnpolitik, die unsere Be-
triebe, die einen schneller, die andern langsamer, aber alle
ohne Ausnahme sicher ruinieren und unsere Jndustrie
exportunfähig machen wird, sowie unsere Daluta sich auch
nur um ein Geringes über ihren erschreckenden Tiefstand
erhebt, das Steuersystem, das von einer nicht eben hoch-
gezogenen Grenze ab 60 v. H. des Einkommens wegsteuert
und auch die bescheidenste Dermögensbildung unmöglich
macht, die Mißhandlung des Mittelstandes, die gehässige
Schärfe des inneren Kampfes, die nachgerade jeden Der-
treter bürgerlicher Jnteressen zu einem Hochverräter an
der deutschen Republik stempelt, das alles sind Dinge, die
das Derantwortungskonto einer bürgerlichen Partei
naturgemäß sehr schwer belasten. Und wenn man mit
Recht zwei Einwendungen erheben mag: erstens daß der
unglückliche Kapp-Putsch wie ein Hagelwetter auf die junge
Saat der Wiederaufbauarbeit und des Jnteressenausgleichs
gewirkt habe, und zweitens, daß die Demokraten rein
zahlenmäßig gar nicht imstande waren, irgend etwas zu ver-
hindern oder zu erzwingen, so läßt sich dem entgegenhalten,
daß keine Macht der Welt eine Partei zwingen kann, die
Mitverantwortung für das zu übernehmen, was sie nicht
nach ihrer eigenen Ueberzeugung zu gestalten in der Lage
ist. So ist es denn auch gekommen, wie es kommen mußte.
Die Demokraten kehren als geschlagene Truppe aus der
Wahlschlacht zurück und werden im neuen Reichstag kaum
die Hälfte der Mandate haben, die ihnen in der ver-
fassunggebenden Nationalversammlung zugefallen waren.

Trotzdem und obgleich auch die Sozialdemokratie zum
mindesten etwa zwei Fünftel ihrer Mandate an die Un-
abhängigen hat abtreten müssen, steht im Augenblick noch
nicht fest, ob die Mehrheitsverhältnisse im neuen Reichs-
tag eine andere Koalitionsbildung unbedingt erfordern.
Sicher ist nur, daß er keine sozialistische Mehrheit auf-
[Spaltenumbruch] weisen wird, daß also das Bürgertum in der Regierung
nicht unvertreten sein kann und weiter, daß die bisherige
Koalition im besten Falle nur noch wenige Stimmen über
die absolute Mehrheit zählen wird, so daß eine Derbreite-
rung der Regierungsbasis dringend wünschenswert er-
scheint. Damit erheben sich die in den letzten Wochen so
vielerörterten Probleme erneut, und zwar in unmittelbarer
Schärfe. Die Hauptfrage ist, ob sich ein Anschluß der
deutschen Volkspartei, die mit starkem Mandatsgewinn aus
den Wahlen zurückkehrt, an die Koalition ermöglichen läßt.
Der bisherige Reichskanzler Müller hat das wiederholt für
ausgeschlossen erklärt und der demokratische Reichsminister
des Jnnern Dr. Koch hat diese Stellungnahme wenigstens
verständlich gefunden. Damit ist an und für sich das letzte
Wort nicht gesprochen und als unmöglich läßt es sich
jedenfalls heute noch nicht bezeichnen, daß die neue Regie-
rung auf dieser verbreiterten Grundlage zustande kommt,
wenn es auch begreiflicherweise der Sozialdemokratie, die
auch im neuen Reichstag weitaus die stärkste Partei sein
wird, sehr schwer fallen dürfte, diesen Weg zu betreten.
Aber die Aussicht auf diese Art von Lösung der durch die
Wahlen geschaffenen Regierungskrisis ist verhältnismäßig
gering, denn die Sozialdemokratie scheint unter dem Ein-
fluß des Wahlkampfes der Entwicklung der Koalition nach
rechts tatsächlich ein schroffes Nein entgegensetzen zu wollen.
Jn dieser Erkenntnis ist man auf den Gedanken zurück-
gekommen, in der Weise eine reine Arbeiterregierung zu
bilden, daß man aus der Zentrumspartei die Gewerkschafts-
vertreter herauszieht und sie etwa unter der Führung
Erzbergers mit Sozialdemokraten und Unabhängigen zu-
sammen die Regierung bilden ließe. Man kann indes von
der Werbekraft Erzbergers eine sehr hohe Meinung haben
und braucht es trotzdem noch nicht für möglich zu halten,
daß es ihm gelingen könnte, die katholischen Arbeiter vom
Zentrum loszureißen. Eine gewisse Spaltung der Partei,
deren Einheit allen bisherigen Sprengversuchen standge-
halten hat, ist ihm ja -- allerdings gegen seinen Willen --
gelungen, denn seinem rücksichtslosen Zentralismus ist es in
erheblichem Maße zu danken, daß Dr. Heim für seine Son-
derbündeleien soviel Anklang gefunden hat. Um so un-
wahrscheinlicher ist es aber, daß er selbst es darauf anlegt,
den Torso der Partei nochmals zu zerschlagen und so schließ-
lich zum Totengräber der alten Zentrumsherrlichkeit zu
werden in einer Zeit, die in ihrer Eigenart dem Dermitt-
lungsehrgeiz der Partei soweit entgegenkommt.

Das Zentrum hat ja stets Wert darauf gelegt, eine
politische und nicht etwa eine konfessionelle Partei zu sein,
und es ist daher an und für sich wohl denkbar, daß es durch
politische und wirtschaftliche Gegensätze zerrissen werden
könnte, aber die Bedeutung des religiösen und konfessio-
nellen Einigungsmoments darf doch nicht unterschätzt wer-
den, und wenn es schon bisher für das Zentrum ein starkes
Risiko gewesen ist, so innig mit der Sozialdemokratie zu-
sammenzuarbeiten, die nun einmal insbesondere in der
Schulfrage auf einem diametral entgegengesetzten Stand-
punkte steht und das katholisch-kirchliche Empfinden ab-
sichtlich oder unabsichtlich so vielfach verletzt, so erscheint es
erst recht als ein aussichtsloses Unterfangen, die katho-
lischen Arbeiter in ein Bündnis zu verstricken, in dem sie
mit ihren religiösen Anschauungen und Bedürfnissen gänz-
lich vereinsamt in einflußloser Minderheit dastehen würden.
Wenn also der frühere Reichsfinanzminister zweifellos ein
Schwabe ist, der sich auch vor kühnen Kombinationen nicht
leicht fürchtet, wie ja auch der ihm zugeschriebene Plan
der Errichtung eines Kirchenstaates in Dorarlberg be-
weisen würde, so glauben wir doch nicht, daß er sich mit
einem solchen Gedanken ernstlich beschäftigt; wenn er es
aber täte, so würde er ohne Zweifel scheitern.

Es wird also doch dabei bleiben, daß die bisherige
Regierungskoalition versuchen muß, sich von rechts oder
von links her den erforderlichen Zuzug zu verschaffen, und
das wird um so leichter sein, wenn wir den Wahlen wenig-
stens eine bescheidene Mehrheit lassen, so daß sie nicht un-
bedingt auf die Hilfe der "Sieger" angewiesen ist. Das
Selbstgefühl dieser Sieger brauchte auch nicht so groß zu

13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung


[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft
Rechts oder links?

Es hat in Deutſchland wirklich nie eine Zeit gegeben,
in der das Regieren ſchwerer und das Kritiſieren leichter
geweſen wäre als gegenwärtig. Der Ausſchuß aus den koa-
lierten Parteien, der bisher die Regierung im neuen
Deutſchland geführt hat, hätte aus Halbgöttern zuſammen-
geſetzt werden können und wäre doch nicht in der Tage
geweſen, es irgend jemandem recht zu machen. Wer irgend
an den Jdeen und Jdealen des Sozialismus feſthält, muß
aufs ſchwerſte enttäuſcht ſein über die hilfloſen Kümmer-
lichkeiten, in denen die zu einem ebenſo brutalen wie bor-
nierten Lohnkampf geworbene Revolution ſich ausgewirkt
hat. Das Bürgertum aber iſt entſetzt über die verhängnis-
vollen Zugeſtändniſſe, die ſeine Vertreter dieſem „Regime
des Unvermögens“ gemacht haben. Jnsbeſondere den
Demokraten hat man bittere Dorwürfe darüber gemacht,
daß ſie angeblich unter dem Einfluß des perſönlichen Ehr-
geizes einzelner Führer ſich bereitgefunden hätten, den
Regierungskurs gleichſam im Anhängewagen mitzufahren,
ohne die Macht, an deſſen Richtung etwas zu ändern, und
auch nur den Anfang wiederaufbauender Arbeit durchzu-
ſetzen. Bernhard Dernburg hat unlängſt dieſen Dorwurf
lebhaft zurückgewieſen. Er hat die Demokraten, wie ſie ſich
zum Wahlkampf zu ſtellen hatten, mit einer Sturmtruppe
verglichen, die verſchmutzt, zerſchunden und geſchwächt aus
den vorderſten Gräben zurückkehrt und nun von den ebenſo
bequemen wie ſelbſtgefälligen und ſelbſtbewußten Herren
der Etappe in tadelloſer Adjuſtierung mit überlegener
Wohlweisheit empfangen wird. Das iſt ein hübſches und
glückliches Bild, wenn es auch nicht ausreicht, den Kritikern
den Mund zu ſtopfen. Denn die Tatſache, daß die Demo-
kraten in der Regierung wenig durchſetzten und wenig zu
verhindern vermocht haben, und daß ſie der Derantwortung,
die ſie freiwillig auf ſich genommen haben, nur ſehr be-
ſcheidene Früchte ihrer beſonderen Arbeit gegenüberſtellen
konnten, bleibt beſtehen. Die Lohnpolitik, die unſere Be-
triebe, die einen ſchneller, die andern langſamer, aber alle
ohne Ausnahme ſicher ruinieren und unſere Jnduſtrie
exportunfähig machen wird, ſowie unſere Daluta ſich auch
nur um ein Geringes über ihren erſchreckenden Tiefſtand
erhebt, das Steuerſyſtem, das von einer nicht eben hoch-
gezogenen Grenze ab 60 v. H. des Einkommens wegſteuert
und auch die beſcheidenſte Dermögensbildung unmöglich
macht, die Mißhandlung des Mittelſtandes, die gehäſſige
Schärfe des inneren Kampfes, die nachgerade jeden Der-
treter bürgerlicher Jntereſſen zu einem Hochverräter an
der deutſchen Republik ſtempelt, das alles ſind Dinge, die
das Derantwortungskonto einer bürgerlichen Partei
naturgemäß ſehr ſchwer belaſten. Und wenn man mit
Recht zwei Einwendungen erheben mag: erſtens daß der
unglückliche Kapp-Putſch wie ein Hagelwetter auf die junge
Saat der Wiederaufbauarbeit und des Jntereſſenausgleichs
gewirkt habe, und zweitens, daß die Demokraten rein
zahlenmäßig gar nicht imſtande waren, irgend etwas zu ver-
hindern oder zu erzwingen, ſo läßt ſich dem entgegenhalten,
daß keine Macht der Welt eine Partei zwingen kann, die
Mitverantwortung für das zu übernehmen, was ſie nicht
nach ihrer eigenen Ueberzeugung zu geſtalten in der Lage
iſt. So iſt es denn auch gekommen, wie es kommen mußte.
Die Demokraten kehren als geſchlagene Truppe aus der
Wahlſchlacht zurück und werden im neuen Reichstag kaum
die Hälfte der Mandate haben, die ihnen in der ver-
faſſunggebenden Nationalverſammlung zugefallen waren.

Trotzdem und obgleich auch die Sozialdemokratie zum
mindeſten etwa zwei Fünftel ihrer Mandate an die Un-
abhängigen hat abtreten müſſen, ſteht im Augenblick noch
nicht feſt, ob die Mehrheitsverhältniſſe im neuen Reichs-
tag eine andere Koalitionsbildung unbedingt erfordern.
Sicher iſt nur, daß er keine ſozialiſtiſche Mehrheit auf-
[Spaltenumbruch] weiſen wird, daß alſo das Bürgertum in der Regierung
nicht unvertreten ſein kann und weiter, daß die bisherige
Koalition im beſten Falle nur noch wenige Stimmen über
die abſolute Mehrheit zählen wird, ſo daß eine Derbreite-
rung der Regierungsbaſis dringend wünſchenswert er-
ſcheint. Damit erheben ſich die in den letzten Wochen ſo
vielerörterten Probleme erneut, und zwar in unmittelbarer
Schärfe. Die Hauptfrage iſt, ob ſich ein Anſchluß der
deutſchen Volkspartei, die mit ſtarkem Mandatsgewinn aus
den Wahlen zurückkehrt, an die Koalition ermöglichen läßt.
Der bisherige Reichskanzler Müller hat das wiederholt für
ausgeſchloſſen erklärt und der demokratiſche Reichsminiſter
des Jnnern Dr. Koch hat dieſe Stellungnahme wenigſtens
verſtändlich gefunden. Damit iſt an und für ſich das letzte
Wort nicht geſprochen und als unmöglich läßt es ſich
jedenfalls heute noch nicht bezeichnen, daß die neue Regie-
rung auf dieſer verbreiterten Grundlage zuſtande kommt,
wenn es auch begreiflicherweiſe der Sozialdemokratie, die
auch im neuen Reichstag weitaus die ſtärkſte Partei ſein
wird, ſehr ſchwer fallen dürfte, dieſen Weg zu betreten.
Aber die Ausſicht auf dieſe Art von Löſung der durch die
Wahlen geſchaffenen Regierungskriſis iſt verhältnismäßig
gering, denn die Sozialdemokratie ſcheint unter dem Ein-
fluß des Wahlkampfes der Entwicklung der Koalition nach
rechts tatſächlich ein ſchroffes Nein entgegenſetzen zu wollen.
Jn dieſer Erkenntnis iſt man auf den Gedanken zurück-
gekommen, in der Weiſe eine reine Arbeiterregierung zu
bilden, daß man aus der Zentrumspartei die Gewerkſchafts-
vertreter herauszieht und ſie etwa unter der Führung
Erzbergers mit Sozialdemokraten und Unabhängigen zu-
ſammen die Regierung bilden ließe. Man kann indes von
der Werbekraft Erzbergers eine ſehr hohe Meinung haben
und braucht es trotzdem noch nicht für möglich zu halten,
daß es ihm gelingen könnte, die katholiſchen Arbeiter vom
Zentrum loszureißen. Eine gewiſſe Spaltung der Partei,
deren Einheit allen bisherigen Sprengverſuchen ſtandge-
halten hat, iſt ihm ja — allerdings gegen ſeinen Willen —
gelungen, denn ſeinem rückſichtsloſen Zentralismus iſt es in
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derbündeleien ſoviel Anklang gefunden hat. Um ſo un-
wahrſcheinlicher iſt es aber, daß er ſelbſt es darauf anlegt,
den Torſo der Partei nochmals zu zerſchlagen und ſo ſchließ-
lich zum Totengräber der alten Zentrumsherrlichkeit zu
werden in einer Zeit, die in ihrer Eigenart dem Dermitt-
lungsehrgeiz der Partei ſoweit entgegenkommt.

Das Zentrum hat ja ſtets Wert darauf gelegt, eine
politiſche und nicht etwa eine konfeſſionelle Partei zu ſein,
und es iſt daher an und für ſich wohl denkbar, daß es durch
politiſche und wirtſchaftliche Gegenſätze zerriſſen werden
könnte, aber die Bedeutung des religiöſen und konfeſſio-
nellen Einigungsmoments darf doch nicht unterſchätzt wer-
den, und wenn es ſchon bisher für das Zentrum ein ſtarkes
Riſiko geweſen iſt, ſo innig mit der Sozialdemokratie zu-
ſammenzuarbeiten, die nun einmal insbeſondere in der
Schulfrage auf einem diametral entgegengeſetzten Stand-
punkte ſteht und das katholiſch-kirchliche Empfinden ab-
ſichtlich oder unabſichtlich ſo vielfach verletzt, ſo erſcheint es
erſt recht als ein ausſichtsloſes Unterfangen, die katho-
liſchen Arbeiter in ein Bündnis zu verſtricken, in dem ſie
mit ihren religiöſen Anſchauungen und Bedürfniſſen gänz-
lich vereinſamt in einflußloſer Minderheit daſtehen würden.
Wenn alſo der frühere Reichsfinanzminiſter zweifellos ein
Schwabe iſt, der ſich auch vor kühnen Kombinationen nicht
leicht fürchtet, wie ja auch der ihm zugeſchriebene Plan
der Errichtung eines Kirchenſtaates in Dorarlberg be-
weiſen würde, ſo glauben wir doch nicht, daß er ſich mit
einem ſolchen Gedanken ernſtlich beſchäftigt; wenn er es
aber täte, ſo würde er ohne Zweifel ſcheitern.

Es wird alſo doch dabei bleiben, daß die bisherige
Regierungskoalition verſuchen muß, ſich von rechts oder
von links her den erforderlichen Zuzug zu verſchaffen, und
das wird um ſo leichter ſein, wenn wir den Wahlen wenig-
ſtens eine beſcheidene Mehrheit laſſen, ſo daß ſie nicht un-
bedingt auf die Hilfe der „Sieger“ angewieſen iſt. Das
Selbſtgefühl dieſer Sieger brauchte auch nicht ſo groß zu

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[217/0003] 13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Rechts oder links? Es hat in Deutſchland wirklich nie eine Zeit gegeben, in der das Regieren ſchwerer und das Kritiſieren leichter geweſen wäre als gegenwärtig. Der Ausſchuß aus den koa- lierten Parteien, der bisher die Regierung im neuen Deutſchland geführt hat, hätte aus Halbgöttern zuſammen- geſetzt werden können und wäre doch nicht in der Tage geweſen, es irgend jemandem recht zu machen. Wer irgend an den Jdeen und Jdealen des Sozialismus feſthält, muß aufs ſchwerſte enttäuſcht ſein über die hilfloſen Kümmer- lichkeiten, in denen die zu einem ebenſo brutalen wie bor- nierten Lohnkampf geworbene Revolution ſich ausgewirkt hat. Das Bürgertum aber iſt entſetzt über die verhängnis- vollen Zugeſtändniſſe, die ſeine Vertreter dieſem „Regime des Unvermögens“ gemacht haben. Jnsbeſondere den Demokraten hat man bittere Dorwürfe darüber gemacht, daß ſie angeblich unter dem Einfluß des perſönlichen Ehr- geizes einzelner Führer ſich bereitgefunden hätten, den Regierungskurs gleichſam im Anhängewagen mitzufahren, ohne die Macht, an deſſen Richtung etwas zu ändern, und auch nur den Anfang wiederaufbauender Arbeit durchzu- ſetzen. Bernhard Dernburg hat unlängſt dieſen Dorwurf lebhaft zurückgewieſen. Er hat die Demokraten, wie ſie ſich zum Wahlkampf zu ſtellen hatten, mit einer Sturmtruppe verglichen, die verſchmutzt, zerſchunden und geſchwächt aus den vorderſten Gräben zurückkehrt und nun von den ebenſo bequemen wie ſelbſtgefälligen und ſelbſtbewußten Herren der Etappe in tadelloſer Adjuſtierung mit überlegener Wohlweisheit empfangen wird. Das iſt ein hübſches und glückliches Bild, wenn es auch nicht ausreicht, den Kritikern den Mund zu ſtopfen. Denn die Tatſache, daß die Demo- kraten in der Regierung wenig durchſetzten und wenig zu verhindern vermocht haben, und daß ſie der Derantwortung, die ſie freiwillig auf ſich genommen haben, nur ſehr be- ſcheidene Früchte ihrer beſonderen Arbeit gegenüberſtellen konnten, bleibt beſtehen. Die Lohnpolitik, die unſere Be- triebe, die einen ſchneller, die andern langſamer, aber alle ohne Ausnahme ſicher ruinieren und unſere Jnduſtrie exportunfähig machen wird, ſowie unſere Daluta ſich auch nur um ein Geringes über ihren erſchreckenden Tiefſtand erhebt, das Steuerſyſtem, das von einer nicht eben hoch- gezogenen Grenze ab 60 v. H. des Einkommens wegſteuert und auch die beſcheidenſte Dermögensbildung unmöglich macht, die Mißhandlung des Mittelſtandes, die gehäſſige Schärfe des inneren Kampfes, die nachgerade jeden Der- treter bürgerlicher Jntereſſen zu einem Hochverräter an der deutſchen Republik ſtempelt, das alles ſind Dinge, die das Derantwortungskonto einer bürgerlichen Partei naturgemäß ſehr ſchwer belaſten. Und wenn man mit Recht zwei Einwendungen erheben mag: erſtens daß der unglückliche Kapp-Putſch wie ein Hagelwetter auf die junge Saat der Wiederaufbauarbeit und des Jntereſſenausgleichs gewirkt habe, und zweitens, daß die Demokraten rein zahlenmäßig gar nicht imſtande waren, irgend etwas zu ver- hindern oder zu erzwingen, ſo läßt ſich dem entgegenhalten, daß keine Macht der Welt eine Partei zwingen kann, die Mitverantwortung für das zu übernehmen, was ſie nicht nach ihrer eigenen Ueberzeugung zu geſtalten in der Lage iſt. So iſt es denn auch gekommen, wie es kommen mußte. Die Demokraten kehren als geſchlagene Truppe aus der Wahlſchlacht zurück und werden im neuen Reichstag kaum die Hälfte der Mandate haben, die ihnen in der ver- faſſunggebenden Nationalverſammlung zugefallen waren. Trotzdem und obgleich auch die Sozialdemokratie zum mindeſten etwa zwei Fünftel ihrer Mandate an die Un- abhängigen hat abtreten müſſen, ſteht im Augenblick noch nicht feſt, ob die Mehrheitsverhältniſſe im neuen Reichs- tag eine andere Koalitionsbildung unbedingt erfordern. Sicher iſt nur, daß er keine ſozialiſtiſche Mehrheit auf- weiſen wird, daß alſo das Bürgertum in der Regierung nicht unvertreten ſein kann und weiter, daß die bisherige Koalition im beſten Falle nur noch wenige Stimmen über die abſolute Mehrheit zählen wird, ſo daß eine Derbreite- rung der Regierungsbaſis dringend wünſchenswert er- ſcheint. Damit erheben ſich die in den letzten Wochen ſo vielerörterten Probleme erneut, und zwar in unmittelbarer Schärfe. Die Hauptfrage iſt, ob ſich ein Anſchluß der deutſchen Volkspartei, die mit ſtarkem Mandatsgewinn aus den Wahlen zurückkehrt, an die Koalition ermöglichen läßt. Der bisherige Reichskanzler Müller hat das wiederholt für ausgeſchloſſen erklärt und der demokratiſche Reichsminiſter des Jnnern Dr. Koch hat dieſe Stellungnahme wenigſtens verſtändlich gefunden. Damit iſt an und für ſich das letzte Wort nicht geſprochen und als unmöglich läßt es ſich jedenfalls heute noch nicht bezeichnen, daß die neue Regie- rung auf dieſer verbreiterten Grundlage zuſtande kommt, wenn es auch begreiflicherweiſe der Sozialdemokratie, die auch im neuen Reichstag weitaus die ſtärkſte Partei ſein wird, ſehr ſchwer fallen dürfte, dieſen Weg zu betreten. Aber die Ausſicht auf dieſe Art von Löſung der durch die Wahlen geſchaffenen Regierungskriſis iſt verhältnismäßig gering, denn die Sozialdemokratie ſcheint unter dem Ein- fluß des Wahlkampfes der Entwicklung der Koalition nach rechts tatſächlich ein ſchroffes Nein entgegenſetzen zu wollen. Jn dieſer Erkenntnis iſt man auf den Gedanken zurück- gekommen, in der Weiſe eine reine Arbeiterregierung zu bilden, daß man aus der Zentrumspartei die Gewerkſchafts- vertreter herauszieht und ſie etwa unter der Führung Erzbergers mit Sozialdemokraten und Unabhängigen zu- ſammen die Regierung bilden ließe. Man kann indes von der Werbekraft Erzbergers eine ſehr hohe Meinung haben und braucht es trotzdem noch nicht für möglich zu halten, daß es ihm gelingen könnte, die katholiſchen Arbeiter vom Zentrum loszureißen. Eine gewiſſe Spaltung der Partei, deren Einheit allen bisherigen Sprengverſuchen ſtandge- halten hat, iſt ihm ja — allerdings gegen ſeinen Willen — gelungen, denn ſeinem rückſichtsloſen Zentralismus iſt es in erheblichem Maße zu danken, daß Dr. Heim für ſeine Son- derbündeleien ſoviel Anklang gefunden hat. Um ſo un- wahrſcheinlicher iſt es aber, daß er ſelbſt es darauf anlegt, den Torſo der Partei nochmals zu zerſchlagen und ſo ſchließ- lich zum Totengräber der alten Zentrumsherrlichkeit zu werden in einer Zeit, die in ihrer Eigenart dem Dermitt- lungsehrgeiz der Partei ſoweit entgegenkommt. Das Zentrum hat ja ſtets Wert darauf gelegt, eine politiſche und nicht etwa eine konfeſſionelle Partei zu ſein, und es iſt daher an und für ſich wohl denkbar, daß es durch politiſche und wirtſchaftliche Gegenſätze zerriſſen werden könnte, aber die Bedeutung des religiöſen und konfeſſio- nellen Einigungsmoments darf doch nicht unterſchätzt wer- den, und wenn es ſchon bisher für das Zentrum ein ſtarkes Riſiko geweſen iſt, ſo innig mit der Sozialdemokratie zu- ſammenzuarbeiten, die nun einmal insbeſondere in der Schulfrage auf einem diametral entgegengeſetzten Stand- punkte ſteht und das katholiſch-kirchliche Empfinden ab- ſichtlich oder unabſichtlich ſo vielfach verletzt, ſo erſcheint es erſt recht als ein ausſichtsloſes Unterfangen, die katho- liſchen Arbeiter in ein Bündnis zu verſtricken, in dem ſie mit ihren religiöſen Anſchauungen und Bedürfniſſen gänz- lich vereinſamt in einflußloſer Minderheit daſtehen würden. Wenn alſo der frühere Reichsfinanzminiſter zweifellos ein Schwabe iſt, der ſich auch vor kühnen Kombinationen nicht leicht fürchtet, wie ja auch der ihm zugeſchriebene Plan der Errichtung eines Kirchenſtaates in Dorarlberg be- weiſen würde, ſo glauben wir doch nicht, daß er ſich mit einem ſolchen Gedanken ernſtlich beſchäftigt; wenn er es aber täte, ſo würde er ohne Zweifel ſcheitern. Es wird alſo doch dabei bleiben, daß die bisherige Regierungskoalition verſuchen muß, ſich von rechts oder von links her den erforderlichen Zuzug zu verſchaffen, und das wird um ſo leichter ſein, wenn wir den Wahlen wenig- ſtens eine beſcheidene Mehrheit laſſen, ſo daß ſie nicht un- bedingt auf die Hilfe der „Sieger“ angewieſen iſt. Das Selbſtgefühl dieſer Sieger brauchte auch nicht ſo groß zu

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 13. Juni 1920, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine23_1920/3>, abgerufen am 17.06.2024.