Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 13. Juni 1920.13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch] Politik und Wirtschaft Rechts oder links? Es hat in Deutschland wirklich nie eine Zeit gegeben, Trotzdem und obgleich auch die Sozialdemokratie zum Das Zentrum hat ja stets Wert darauf gelegt, eine Es wird also doch dabei bleiben, daß die bisherige 13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch] Politik und Wirtſchaft Rechts oder links? Es hat in Deutſchland wirklich nie eine Zeit gegeben, Trotzdem und obgleich auch die Sozialdemokratie zum Das Zentrum hat ja ſtets Wert darauf gelegt, eine Es wird alſo doch dabei bleiben, daß die bisherige <TEI> <text> <body> <div type="jAnnouncements" n="1"> <div type="jAn" n="2"> <pb facs="#f0003" n="217"/> <fw place="top" type="header">13. 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Wer irgend<lb/> an den Jdeen und Jdealen des Sozialismus feſthält, muß<lb/> aufs ſchwerſte enttäuſcht ſein über die hilfloſen Kümmer-<lb/> lichkeiten, in denen die zu einem ebenſo brutalen wie bor-<lb/> nierten Lohnkampf geworbene Revolution ſich ausgewirkt<lb/> hat. Das Bürgertum aber iſt entſetzt über die verhängnis-<lb/> vollen Zugeſtändniſſe, die ſeine Vertreter dieſem „Regime<lb/> des Unvermögens“ gemacht haben. Jnsbeſondere den<lb/> Demokraten hat man bittere Dorwürfe darüber gemacht,<lb/> daß ſie angeblich unter dem Einfluß des perſönlichen Ehr-<lb/> geizes einzelner Führer ſich bereitgefunden hätten, den<lb/> Regierungskurs gleichſam im Anhängewagen mitzufahren,<lb/> ohne die Macht, an deſſen Richtung etwas zu ändern, und<lb/> auch nur den Anfang wiederaufbauender Arbeit durchzu-<lb/> ſetzen. Bernhard Dernburg hat unlängſt dieſen Dorwurf<lb/> lebhaft zurückgewieſen. Er hat die Demokraten, wie ſie ſich<lb/> zum Wahlkampf zu ſtellen hatten, mit einer Sturmtruppe<lb/> verglichen, die verſchmutzt, zerſchunden und geſchwächt aus<lb/> den vorderſten Gräben zurückkehrt und nun von den ebenſo<lb/> bequemen wie ſelbſtgefälligen und ſelbſtbewußten Herren<lb/> der Etappe in tadelloſer Adjuſtierung mit überlegener<lb/> Wohlweisheit empfangen wird. Das iſt ein hübſches und<lb/> glückliches Bild, wenn es auch nicht ausreicht, den Kritikern<lb/> den Mund zu ſtopfen. Denn die Tatſache, daß die Demo-<lb/> kraten in der Regierung wenig durchſetzten und wenig zu<lb/> verhindern vermocht haben, und daß ſie der Derantwortung,<lb/> die ſie freiwillig auf ſich genommen haben, nur ſehr be-<lb/> ſcheidene Früchte ihrer beſonderen Arbeit gegenüberſtellen<lb/> konnten, bleibt beſtehen. Die Lohnpolitik, die unſere Be-<lb/> triebe, die einen ſchneller, die andern langſamer, aber alle<lb/> ohne Ausnahme ſicher ruinieren und unſere Jnduſtrie<lb/> exportunfähig machen wird, ſowie unſere Daluta ſich auch<lb/> nur um ein Geringes über ihren erſchreckenden Tiefſtand<lb/> erhebt, das Steuerſyſtem, das von einer nicht eben hoch-<lb/> gezogenen Grenze ab 60 v. H. des Einkommens wegſteuert<lb/> und auch die beſcheidenſte Dermögensbildung unmöglich<lb/> macht, die Mißhandlung des Mittelſtandes, die gehäſſige<lb/> Schärfe des inneren Kampfes, die nachgerade jeden Der-<lb/> treter bürgerlicher Jntereſſen zu einem Hochverräter an<lb/> der deutſchen Republik ſtempelt, das alles ſind Dinge, die<lb/> das Derantwortungskonto einer bürgerlichen Partei<lb/> naturgemäß ſehr ſchwer belaſten. Und wenn man mit<lb/> Recht zwei Einwendungen erheben mag: erſtens daß der<lb/> unglückliche Kapp-Putſch wie ein Hagelwetter auf die junge<lb/> Saat der Wiederaufbauarbeit und des Jntereſſenausgleichs<lb/> gewirkt habe, und zweitens, daß die Demokraten rein<lb/> zahlenmäßig gar nicht imſtande waren, irgend etwas zu ver-<lb/> hindern oder zu erzwingen, ſo läßt ſich dem entgegenhalten,<lb/> daß keine Macht der Welt eine Partei zwingen kann, die<lb/> Mitverantwortung für das zu übernehmen, was ſie nicht<lb/> nach ihrer eigenen Ueberzeugung zu geſtalten in der Lage<lb/> iſt. So iſt es denn auch gekommen, wie es kommen mußte.<lb/> Die Demokraten kehren als geſchlagene Truppe aus der<lb/> Wahlſchlacht zurück und werden im neuen Reichstag kaum<lb/> die Hälfte der Mandate haben, die ihnen in der ver-<lb/> faſſunggebenden Nationalverſammlung zugefallen waren.</p><lb/> <p>Trotzdem und obgleich auch die Sozialdemokratie zum<lb/> mindeſten etwa zwei Fünftel ihrer Mandate an die Un-<lb/> abhängigen hat abtreten müſſen, ſteht im Augenblick noch<lb/> nicht feſt, ob die Mehrheitsverhältniſſe im neuen Reichs-<lb/> tag eine andere Koalitionsbildung unbedingt erfordern.<lb/> Sicher iſt nur, daß er keine ſozialiſtiſche Mehrheit auf-<lb/><cb/> weiſen wird, daß alſo das Bürgertum in der Regierung<lb/> nicht unvertreten ſein kann und weiter, daß die bisherige<lb/> Koalition im beſten Falle nur noch wenige Stimmen über<lb/> die abſolute Mehrheit zählen wird, ſo daß eine Derbreite-<lb/> rung der Regierungsbaſis dringend wünſchenswert er-<lb/> ſcheint. Damit erheben ſich die in den letzten Wochen ſo<lb/> vielerörterten Probleme erneut, und zwar in unmittelbarer<lb/> Schärfe. Die Hauptfrage iſt, ob ſich ein Anſchluß der<lb/> deutſchen Volkspartei, die mit ſtarkem Mandatsgewinn aus<lb/> den Wahlen zurückkehrt, an die Koalition ermöglichen läßt.<lb/> Der bisherige Reichskanzler Müller hat das wiederholt für<lb/> ausgeſchloſſen erklärt und der demokratiſche Reichsminiſter<lb/> des Jnnern Dr. Koch hat dieſe Stellungnahme wenigſtens<lb/> verſtändlich gefunden. Damit iſt an und für ſich das letzte<lb/> Wort nicht geſprochen und als unmöglich läßt es ſich<lb/> jedenfalls heute noch nicht bezeichnen, daß die neue Regie-<lb/> rung auf dieſer verbreiterten Grundlage zuſtande kommt,<lb/> wenn es auch begreiflicherweiſe der Sozialdemokratie, die<lb/> auch im neuen Reichstag weitaus die ſtärkſte Partei ſein<lb/> wird, ſehr ſchwer fallen dürfte, dieſen Weg zu betreten.<lb/> Aber die Ausſicht auf dieſe Art von Löſung der durch die<lb/> Wahlen geſchaffenen Regierungskriſis iſt verhältnismäßig<lb/> gering, denn die Sozialdemokratie ſcheint unter dem Ein-<lb/> fluß des Wahlkampfes der Entwicklung der Koalition nach<lb/> rechts tatſächlich ein ſchroffes Nein entgegenſetzen zu wollen.<lb/> Jn dieſer Erkenntnis iſt man auf den Gedanken zurück-<lb/> gekommen, in der Weiſe eine reine Arbeiterregierung zu<lb/> bilden, daß man aus der Zentrumspartei die Gewerkſchafts-<lb/> vertreter herauszieht und ſie etwa unter der Führung<lb/> Erzbergers mit Sozialdemokraten und Unabhängigen zu-<lb/> ſammen die Regierung bilden ließe. Man kann indes von<lb/> der Werbekraft Erzbergers eine ſehr hohe Meinung haben<lb/> und braucht es trotzdem noch nicht für möglich zu halten,<lb/> daß es ihm gelingen könnte, die katholiſchen Arbeiter vom<lb/> Zentrum loszureißen. Eine gewiſſe Spaltung der Partei,<lb/> deren Einheit allen bisherigen Sprengverſuchen ſtandge-<lb/> halten hat, iſt ihm ja — allerdings gegen ſeinen Willen —<lb/> gelungen, denn ſeinem rückſichtsloſen Zentralismus iſt es in<lb/> erheblichem Maße zu danken, daß Dr. Heim für ſeine Son-<lb/> derbündeleien ſoviel Anklang gefunden hat. Um ſo un-<lb/> wahrſcheinlicher iſt es aber, daß er ſelbſt es darauf anlegt,<lb/> den Torſo der Partei nochmals zu zerſchlagen und ſo ſchließ-<lb/> lich zum Totengräber der alten Zentrumsherrlichkeit zu<lb/> werden in einer Zeit, die in ihrer Eigenart dem Dermitt-<lb/> lungsehrgeiz der Partei ſoweit entgegenkommt.</p><lb/> <p>Das Zentrum hat ja ſtets Wert darauf gelegt, eine<lb/> politiſche und nicht etwa eine konfeſſionelle Partei zu ſein,<lb/> und es iſt daher an und für ſich wohl denkbar, daß es durch<lb/> politiſche und wirtſchaftliche Gegenſätze zerriſſen werden<lb/> könnte, aber die Bedeutung des religiöſen und konfeſſio-<lb/> nellen Einigungsmoments darf doch nicht unterſchätzt wer-<lb/> den, und wenn es ſchon bisher für das Zentrum ein ſtarkes<lb/> Riſiko geweſen iſt, ſo innig mit der Sozialdemokratie zu-<lb/> ſammenzuarbeiten, die nun einmal insbeſondere in der<lb/> Schulfrage auf einem diametral entgegengeſetzten Stand-<lb/> punkte ſteht und das katholiſch-kirchliche Empfinden ab-<lb/> ſichtlich oder unabſichtlich ſo vielfach verletzt, ſo erſcheint es<lb/> erſt recht als ein ausſichtsloſes Unterfangen, die katho-<lb/> liſchen Arbeiter in ein Bündnis zu verſtricken, in dem ſie<lb/> mit ihren religiöſen Anſchauungen und Bedürfniſſen gänz-<lb/> lich vereinſamt in einflußloſer Minderheit daſtehen würden.<lb/> Wenn alſo der frühere Reichsfinanzminiſter zweifellos ein<lb/> Schwabe iſt, der ſich auch vor kühnen Kombinationen nicht<lb/> leicht fürchtet, wie ja auch der ihm zugeſchriebene Plan<lb/> der Errichtung eines Kirchenſtaates in Dorarlberg be-<lb/> weiſen würde, ſo glauben wir doch nicht, daß er ſich mit<lb/> einem ſolchen Gedanken ernſtlich beſchäftigt; wenn er es<lb/> aber täte, ſo würde er ohne Zweifel ſcheitern.</p><lb/> <p>Es wird alſo doch dabei bleiben, daß die bisherige<lb/> Regierungskoalition verſuchen muß, ſich von rechts oder<lb/> von links her den erforderlichen Zuzug zu verſchaffen, und<lb/> das wird um ſo leichter ſein, wenn wir den Wahlen wenig-<lb/> ſtens eine beſcheidene Mehrheit laſſen, ſo daß ſie nicht un-<lb/> bedingt auf die Hilfe der „Sieger“ angewieſen iſt. Das<lb/> Selbſtgefühl dieſer Sieger brauchte auch nicht ſo groß zu<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [217/0003]
13. Juni 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Rechts oder links?
Es hat in Deutſchland wirklich nie eine Zeit gegeben,
in der das Regieren ſchwerer und das Kritiſieren leichter
geweſen wäre als gegenwärtig. Der Ausſchuß aus den koa-
lierten Parteien, der bisher die Regierung im neuen
Deutſchland geführt hat, hätte aus Halbgöttern zuſammen-
geſetzt werden können und wäre doch nicht in der Tage
geweſen, es irgend jemandem recht zu machen. Wer irgend
an den Jdeen und Jdealen des Sozialismus feſthält, muß
aufs ſchwerſte enttäuſcht ſein über die hilfloſen Kümmer-
lichkeiten, in denen die zu einem ebenſo brutalen wie bor-
nierten Lohnkampf geworbene Revolution ſich ausgewirkt
hat. Das Bürgertum aber iſt entſetzt über die verhängnis-
vollen Zugeſtändniſſe, die ſeine Vertreter dieſem „Regime
des Unvermögens“ gemacht haben. Jnsbeſondere den
Demokraten hat man bittere Dorwürfe darüber gemacht,
daß ſie angeblich unter dem Einfluß des perſönlichen Ehr-
geizes einzelner Führer ſich bereitgefunden hätten, den
Regierungskurs gleichſam im Anhängewagen mitzufahren,
ohne die Macht, an deſſen Richtung etwas zu ändern, und
auch nur den Anfang wiederaufbauender Arbeit durchzu-
ſetzen. Bernhard Dernburg hat unlängſt dieſen Dorwurf
lebhaft zurückgewieſen. Er hat die Demokraten, wie ſie ſich
zum Wahlkampf zu ſtellen hatten, mit einer Sturmtruppe
verglichen, die verſchmutzt, zerſchunden und geſchwächt aus
den vorderſten Gräben zurückkehrt und nun von den ebenſo
bequemen wie ſelbſtgefälligen und ſelbſtbewußten Herren
der Etappe in tadelloſer Adjuſtierung mit überlegener
Wohlweisheit empfangen wird. Das iſt ein hübſches und
glückliches Bild, wenn es auch nicht ausreicht, den Kritikern
den Mund zu ſtopfen. Denn die Tatſache, daß die Demo-
kraten in der Regierung wenig durchſetzten und wenig zu
verhindern vermocht haben, und daß ſie der Derantwortung,
die ſie freiwillig auf ſich genommen haben, nur ſehr be-
ſcheidene Früchte ihrer beſonderen Arbeit gegenüberſtellen
konnten, bleibt beſtehen. Die Lohnpolitik, die unſere Be-
triebe, die einen ſchneller, die andern langſamer, aber alle
ohne Ausnahme ſicher ruinieren und unſere Jnduſtrie
exportunfähig machen wird, ſowie unſere Daluta ſich auch
nur um ein Geringes über ihren erſchreckenden Tiefſtand
erhebt, das Steuerſyſtem, das von einer nicht eben hoch-
gezogenen Grenze ab 60 v. H. des Einkommens wegſteuert
und auch die beſcheidenſte Dermögensbildung unmöglich
macht, die Mißhandlung des Mittelſtandes, die gehäſſige
Schärfe des inneren Kampfes, die nachgerade jeden Der-
treter bürgerlicher Jntereſſen zu einem Hochverräter an
der deutſchen Republik ſtempelt, das alles ſind Dinge, die
das Derantwortungskonto einer bürgerlichen Partei
naturgemäß ſehr ſchwer belaſten. Und wenn man mit
Recht zwei Einwendungen erheben mag: erſtens daß der
unglückliche Kapp-Putſch wie ein Hagelwetter auf die junge
Saat der Wiederaufbauarbeit und des Jntereſſenausgleichs
gewirkt habe, und zweitens, daß die Demokraten rein
zahlenmäßig gar nicht imſtande waren, irgend etwas zu ver-
hindern oder zu erzwingen, ſo läßt ſich dem entgegenhalten,
daß keine Macht der Welt eine Partei zwingen kann, die
Mitverantwortung für das zu übernehmen, was ſie nicht
nach ihrer eigenen Ueberzeugung zu geſtalten in der Lage
iſt. So iſt es denn auch gekommen, wie es kommen mußte.
Die Demokraten kehren als geſchlagene Truppe aus der
Wahlſchlacht zurück und werden im neuen Reichstag kaum
die Hälfte der Mandate haben, die ihnen in der ver-
faſſunggebenden Nationalverſammlung zugefallen waren.
Trotzdem und obgleich auch die Sozialdemokratie zum
mindeſten etwa zwei Fünftel ihrer Mandate an die Un-
abhängigen hat abtreten müſſen, ſteht im Augenblick noch
nicht feſt, ob die Mehrheitsverhältniſſe im neuen Reichs-
tag eine andere Koalitionsbildung unbedingt erfordern.
Sicher iſt nur, daß er keine ſozialiſtiſche Mehrheit auf-
weiſen wird, daß alſo das Bürgertum in der Regierung
nicht unvertreten ſein kann und weiter, daß die bisherige
Koalition im beſten Falle nur noch wenige Stimmen über
die abſolute Mehrheit zählen wird, ſo daß eine Derbreite-
rung der Regierungsbaſis dringend wünſchenswert er-
ſcheint. Damit erheben ſich die in den letzten Wochen ſo
vielerörterten Probleme erneut, und zwar in unmittelbarer
Schärfe. Die Hauptfrage iſt, ob ſich ein Anſchluß der
deutſchen Volkspartei, die mit ſtarkem Mandatsgewinn aus
den Wahlen zurückkehrt, an die Koalition ermöglichen läßt.
Der bisherige Reichskanzler Müller hat das wiederholt für
ausgeſchloſſen erklärt und der demokratiſche Reichsminiſter
des Jnnern Dr. Koch hat dieſe Stellungnahme wenigſtens
verſtändlich gefunden. Damit iſt an und für ſich das letzte
Wort nicht geſprochen und als unmöglich läßt es ſich
jedenfalls heute noch nicht bezeichnen, daß die neue Regie-
rung auf dieſer verbreiterten Grundlage zuſtande kommt,
wenn es auch begreiflicherweiſe der Sozialdemokratie, die
auch im neuen Reichstag weitaus die ſtärkſte Partei ſein
wird, ſehr ſchwer fallen dürfte, dieſen Weg zu betreten.
Aber die Ausſicht auf dieſe Art von Löſung der durch die
Wahlen geſchaffenen Regierungskriſis iſt verhältnismäßig
gering, denn die Sozialdemokratie ſcheint unter dem Ein-
fluß des Wahlkampfes der Entwicklung der Koalition nach
rechts tatſächlich ein ſchroffes Nein entgegenſetzen zu wollen.
Jn dieſer Erkenntnis iſt man auf den Gedanken zurück-
gekommen, in der Weiſe eine reine Arbeiterregierung zu
bilden, daß man aus der Zentrumspartei die Gewerkſchafts-
vertreter herauszieht und ſie etwa unter der Führung
Erzbergers mit Sozialdemokraten und Unabhängigen zu-
ſammen die Regierung bilden ließe. Man kann indes von
der Werbekraft Erzbergers eine ſehr hohe Meinung haben
und braucht es trotzdem noch nicht für möglich zu halten,
daß es ihm gelingen könnte, die katholiſchen Arbeiter vom
Zentrum loszureißen. Eine gewiſſe Spaltung der Partei,
deren Einheit allen bisherigen Sprengverſuchen ſtandge-
halten hat, iſt ihm ja — allerdings gegen ſeinen Willen —
gelungen, denn ſeinem rückſichtsloſen Zentralismus iſt es in
erheblichem Maße zu danken, daß Dr. Heim für ſeine Son-
derbündeleien ſoviel Anklang gefunden hat. Um ſo un-
wahrſcheinlicher iſt es aber, daß er ſelbſt es darauf anlegt,
den Torſo der Partei nochmals zu zerſchlagen und ſo ſchließ-
lich zum Totengräber der alten Zentrumsherrlichkeit zu
werden in einer Zeit, die in ihrer Eigenart dem Dermitt-
lungsehrgeiz der Partei ſoweit entgegenkommt.
Das Zentrum hat ja ſtets Wert darauf gelegt, eine
politiſche und nicht etwa eine konfeſſionelle Partei zu ſein,
und es iſt daher an und für ſich wohl denkbar, daß es durch
politiſche und wirtſchaftliche Gegenſätze zerriſſen werden
könnte, aber die Bedeutung des religiöſen und konfeſſio-
nellen Einigungsmoments darf doch nicht unterſchätzt wer-
den, und wenn es ſchon bisher für das Zentrum ein ſtarkes
Riſiko geweſen iſt, ſo innig mit der Sozialdemokratie zu-
ſammenzuarbeiten, die nun einmal insbeſondere in der
Schulfrage auf einem diametral entgegengeſetzten Stand-
punkte ſteht und das katholiſch-kirchliche Empfinden ab-
ſichtlich oder unabſichtlich ſo vielfach verletzt, ſo erſcheint es
erſt recht als ein ausſichtsloſes Unterfangen, die katho-
liſchen Arbeiter in ein Bündnis zu verſtricken, in dem ſie
mit ihren religiöſen Anſchauungen und Bedürfniſſen gänz-
lich vereinſamt in einflußloſer Minderheit daſtehen würden.
Wenn alſo der frühere Reichsfinanzminiſter zweifellos ein
Schwabe iſt, der ſich auch vor kühnen Kombinationen nicht
leicht fürchtet, wie ja auch der ihm zugeſchriebene Plan
der Errichtung eines Kirchenſtaates in Dorarlberg be-
weiſen würde, ſo glauben wir doch nicht, daß er ſich mit
einem ſolchen Gedanken ernſtlich beſchäftigt; wenn er es
aber täte, ſo würde er ohne Zweifel ſcheitern.
Es wird alſo doch dabei bleiben, daß die bisherige
Regierungskoalition verſuchen muß, ſich von rechts oder
von links her den erforderlichen Zuzug zu verſchaffen, und
das wird um ſo leichter ſein, wenn wir den Wahlen wenig-
ſtens eine beſcheidene Mehrheit laſſen, ſo daß ſie nicht un-
bedingt auf die Hilfe der „Sieger“ angewieſen iſt. Das
Selbſtgefühl dieſer Sieger brauchte auch nicht ſo groß zu
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(2023-04-24T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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