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Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 23. Januar 1929.

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"AZ am Abend" Nr. 19 Mittwoch, den 23. Januar
Seelen ohne Gleichgewicht

Den ganzen Tag Schach spielen. Immer wieder.
Immer wieder. Eigentlich kann man es gar nicht
richtig. Und viel Vergnügen macht es einem auch
nicht. Aber was soll man tun hier drin? ... Wenn
sie einen doch wieder nur hinausließen! ...

Jetzt ist man eine ganze Woche da, und schließ-
lich: wieso halten sie einen in der Psychiatrischen
Klinik fest? Ist man denn krank, weil man sich
von einem Eisenbahnzug überfahren lassen wollte?

"Da hast du einen ganz blöden Zug gemacht,"
sagt der Spielpartner.

Blöden Zug? -- Das kann jedem passieren, daß
er sich einmal totfahren lassen will; habt ihr eine
Ahnung! -- Ah, nein, der meinte ja das Schach-
spiel. -- "Ich spiele nicht mehr!"

"Dann läßt du's halt bleiben."

So, das war man los. Dummes Gespiele. Aber
man dachte währenddessen wenigstens nicht an all
diese Geschichten da draußen, die einem so oft den
Kopf fast zum Zerspringen brachten. Erst hatte er
es mit Saufen probiert. Aber das half anscheinend
nicht viel gegen Seelenschmerz. Na, und dann
eben ... Ach, zum Teufel mit dieser ganzen
Sache! Jetzt war es vorbei. Jetzt wollte er wieder
hinaus. Fußballspielen wäre vielleicht gescheiter
gewesen als Saufen. Aber spiel' du mal Fußball,
wenn du am liebsten losheulen möchtest, weil --
weil -- Verdammt, da war es schon wieder!
Dachte man denn immer nur im Kreis herum,
daß einem ständig die vermaledeite Herzensaffäre
ins Gedächtnis kam? Das Schachspielen hatte
schon seine Vorzüge. Also lieber Schach! Aber jetzt
spielte schon ein anderer, auch einer von den ver-
geblichen Selbstmördern. Na, schön, mochte der
also für eine Weile von seinen elenden Gedanken
frei sein. Falls ausgerechnet der welche hatte.
Denn lustiger als dieser fünfzehnjährige Serbe
konnte man eigentlich kaum sein. Das war schon
eine Marke! Hatten sie ihn neulich am späten
Abend angebracht, und am nächsten Morgen
schmetterte er seine slawischen Volkslieder unge-
niert durch den Saal, daß die Wände wackelten.
Und tags zuvor Selbstmordversuch mit Leder-
riemen am Fensterkreuz. Rechtzeitig noch abge-
schnitten ... Er erzählte zwar, der kleine Schwarz-
haarige, das sei alles nur "für Spaß" gewesen;
aber na, na! Hier drinnen wurden derlei Späße
nicht so recht geglaubt und für "spanisch" ange-
sehen.

Jetzt schmiß er die Schachfiguren plötzlich durch-
einander, der Serbe. Der hatte ja auch seine
Mucken, das mußte man schon sagen. Warum
hörte er denn auf mit dem Spiel: -- Aha: er
erzählte wieder einmal.

"... und war da in Bäckerladen schönes Mäd-
chen. Sehrrr schön. Hab' ich ganzen Tag Semmel
gekauft. Immer ein Semmel. Bin ich gelaufen
zehnmal, zwanzigmal. Immer ein Semmel ...
Und vorgestern ich sehe, wie junger Mann geht in
Laden. Und kommt, und kommt nicht heraus.
Halbe Stunde lang nicht ... Und ich hinüber --
wie sagt man? -- geschleicht und hineingeschaut.
Seh' ich, wie sie pousiert mit ihm. Sehrrr! Mir
wird ganz schwer. Und dann ich geh' hinauf in
mein Kammer und nehm' von Hose Ledergurt.
Hab' ich an Fenster festgemacht und Stuhl gestellt
und mein Kopf gesteckt in Schlinge. -- Erst auf
Stuhl, dann in Schlinge Kopf. -- Wie ich gehört
habe: kommt Wirtin, schnell habe Stuhl umge-
poltert. So ist gekommen mein Selbstmord. Nur
Spaß ist, gutes Spaß ..."

Daß doch immer die verfluchten Weibsbilder
hinter diesen sämtlichen Geschichten steckten! Wo
man hinhörte, immer dieselbe Sache: Dem einen
war die Frau durchgebrannt ... Diesem da ging
alle acht Wochen die Braut durch die Lappen,
und er holte sie dann stets unter großem Weh-
klagen zurück. Freilich, das letztemal hatte er sie
nicht mehr zu finden gewußt. Deswegen war er
nun hier ... Da drüben der, am Tisch, der Skat-
spieler, der Grauhaarige mit der ewigen Tabaks-
pfeife, na, der erzählte erst Kapitel! Fünfzig
Jahre war er alt, über zwanzig Jahre verheiratet,
und jetzt hatte er die tollsten Tänze mit seiner

[Spaltenumbruch]

Eheliebsten. Scheiden lassen wollte sie sich. Und
der alte Dummkopf ging doch wahrhaftig beinahe
zugrunde darüber! Anstatt froh zu sein, daß er
sein Krachscheit los war! Nun saß er jeden Tag
und schrieb Briefe. Drohbriefe, Bittbriefe, so un-
sinniges Zeug, daß der Stationsarzt ihm alle drei
Tage erklären mußte, derlei Schreibwerke könne
er beim besten Willen nicht befördern lassen. Ja,
ja, die Liebe! Die hatte es in sich. Und das
wurde nun eine "Himmelsmacht" genannt, und
ganze Opern wurden drumherum verfertigt. Oder
Operetten oder sonstige Kunst. Prosit Mahlzeit
zum Genusse dieser "Himmelsmacht"!

Was ihn anlangte, er würde sich hüten in Zu-
kunft. Kein Weibsgesicht mehr angeschaut! Fuß-
ball wurde gespielt! Bumm, ins Tor den Ball!
Bravo! Ha, wie das Publikum Beifall klatschte!
Und wie die netten Mädchen ihm zulächelten.
Manche winkte sogar oder warf ihr Blumen-
sträußchen -- Rendezvous gefällig, meine Gnä-
digste? Morgen abend da und da ... Dann gehen
wir zum ... Ja, war er denn verrückt? Er malte
sich doch schon wieder das nächste Liebesabenteuer
aus! Das ihn wahrscheinlich ausgiebig elend
machen würde, weil er diese Geschichten immer zu
ernst nahm.

Damals und deswegen -- wegen der "Liebe"
-- hast du dich von der hohen Flußbrücke hin-
unterstürzen wollen. Gründlich tot wünschtest du
zu sein: Genickbruch in Kombination mit Ertrin-
ken. Nur hat dich, wie du auf das Geländer
klettertest, noch gerade eine energische Polizisten-
hand erwischt. Und damals und deswegen --
auch wegen der "Liebe" selbstverständlich -- bist
du hinausgeschlichen vor die Stadt, hast dir eine
Stelle auf dem Bahndamm ausgesucht. Und als
es dann dunkel wurde, hast du dich hingelegt,
Kopf auf die eine Schiene, Beine auf die andere.
Den Zug hast du auch schon heranrollen hören,
hast gedacht: "So, Emmi, morgen liest du's in
der Zeitung, daß ich mich deinetwegen umgebracht
habe." Aber du hast tatsächlich wieder Schwein
gehabt, und im letzten Augenblick hat dir eine
biedere Landjägerfaust an den Rockkragen gegrif-
fen, und da bist du den Bahndamm herunter-
gekollert. Oben ist der Zug vorbeigerumpelt, auch
ohne dich totzufahren, du Kamel.

So! -- Hoffentlich würde morgen der Bezirks-
arzt in die Klinik kommen und die polizeiliche
Einweisung aufheben. Eher wurde nichts aus der
heißersehnten Entlassung. Und jetzt wollte er hin-
übergehen zu den beiden da drüben, zu dem klei-
nen Serben und dem dritten Selbstmördergenossen.
Die mußten wieder neue Witze auf Lager haben;
denn sie lachten reichlich laut und anhaltend.

Der durchgefallene Selbstmordkandidat mar-
schierte in die gelächterbewegte Saalgegend. Es
gesellten sich bald noch ein schwerer Alkoholiker
und ein Morphinist dem Trio bei. Sie meckerten
und ließen Lachtriller steigen, daß die Stations-
schwester im stillen meinte, solches Verhalten
stünde eigentlich im Widerstand zu dem Befund:
Gemütsleiden. Aber darin irrte die Schwester.
Denn wie sie da saßen, waren sie alle fünf hono-
rable Selbstmordunternehmer gewesen. Freilich,
ohne das erforderliche Talent. Und freilich schien
es manchmal, daß sie, wenn sie es zwar nicht
wußten, so doch fühlten: Hinter allen, auch den
traurigsten Dingen dieses Lebens, wartet etwas
wie ein großes, unmenschliches Lächeln der Klar-
heit: vielleicht sanfte, vielleicht strenge Ironie
Gottes.


Heft 3 der "Lustigen Blätter" ist soeben als
Wintersport-Nummer erschienen. Die bekannte-
sten Künstler, wie Ehrenberger, Heiligenstaedt,
Hildebrand und Krain sind mit humorvollen
Zeichnungen vertreten, während Mühlen-Schulte,
Bloch, Roellinghoff, Presber usw. wieder über-
aus witzige Beiträge lieferten. Das Heft, das
jedem einige heitere Stunden vermitteln wird,
ist überall zum Preise von 50 Pfg. zu haben.

Die Jugend in den Parteien

sz. In immer stärkerem Maße wird eine
Ueberalterung der Parteien in Deutschland
beklagt. Ein Blick in die parlamentarischen Hand-
bücher beweist die Berechtigung dieses Vorwur-
fes. Nach kurzen Ansätzen bei der Nationalver-
sammlung, für die man auch frische Kräfte her-
anzog. ist es rasch wieder zu einer Erstarrung
gekommen. Männer der Vergangenheit kehrten
in die Politik zurück und übernahmen z. T. sogar
von neuem die Führung. Das hat zu Unzuträg-
lichkeiten geführt, die eben in dem raschen Wechsel
der Zeit ihre Erklärung finden. Wir leben schnel-
ler als früher und die Probleme von gestern sind
kaum noch die von heute. Die Schuld aber an
der einseitigen Zusammensetzung der Fraktionen
wie der Parteileitungen tragen nicht nur die
Persönlichkeiten, die an der Macht sind, sondern
auch die Jugend selbst. Sie ist zahlenmäßig un-
gewöhnlich schwach, denn ihre Blüte ist auf den
Schlachtfeldern geblieben. Vor allem aber hat sie
sich von der Politik abgewandt und ihr Interesse
auf Dinge vereinigt, die an sich, wie Sport, wie
Wissenschaft und Literatur ihre Bedeutung haben,
die aber die Mitarbeit am Staat nicht ersetzen
können. Sie hat gemurrt und über Zurücksetzung
gescholten, jedoch keinen Anlauf unternommen,
um sich selbst vorwärts zu bringen.

Es ist nun bezeichnend, daß fast gleichzeitig
überall ein Vorstoß jetzt einsetzt. Bei den
Deutschnationalen so gut wie bei der Deutschen
Volkspartei oder dem Zentrum. Bei den Demo-
kraten
haben die Jugendverbände schon seit
längerem eine gewisse Geltung erlangt, aber
durch einen übermäßigen Radikalismus eine
Kluft aufgerissen. Sogar gegen die eigenen von
ihnen gewählten Führer wie den Reichstagsab-
geordneten Lemmer haben sie Front gemacht, als
er in richtiger Würdigung der parlamentarischen
Lage den sozialdemokratischen Antrag gegen den
Bau des Panzerkreuzers mit zu Fall brachte.
Dieser Ueberschwang schadet an sich nichts. Er ist
ein Vorrecht der Heranwachsenden, die gerade da-
mit häufig genug das Gegengewicht gegen die
Zaudertaktik der Aelteren bilden. Nur müssen
dann die freundschaftlichen Formen gewahrt
bleiben, was nicht immer der Fall war. Auf den
Tagungen der Demokraten haben Koch und die
anderen Mitglieder des Vorstandes sich kaum
gegen irgendeine Gruppe so häufig wehren müs-
sen wie gegen die Jungdemokraten.

Ganz anders liegt es in der Deutschen
Volkspartei.
Auch hier besteht ganz natur-
gemäß der Gegensatz zwischen zwei Generationen,
die eben auch verschiedenen Anschauungskreisen
angehören. Zum Teil hat die Jugend dort in
eigenen Klubs den Versuch unternommen, sich
stärker zu betonen. Was aber ihre Lage gegenüber
den Jungdemokraten wesentlich anders erscheinen
läßt, ist die Tatsache, daß sie von dem offiziellen
Führer der Partei, Dr. Stresemann ermuntert und
geradezu zur Hilfeleistung aufgeboten werden. Der
Minister hatte schon in einem Neujahrsartikel
ihnen zugerufen, sie sollten sich mehr rühren und
die Partei zwingen, ihnen größere Beachtung zu
schenken. Vor dem Angestelltenausschuß hat er
nun diese Ausführungen noch unterstrichen. Im
allgemeinen sprach er über das Verhältnis der
Lohnempfänger zu den Arbeitgebern. Doch das
ist hier nicht das Wesentliche. Wichtiger für die
Krisen, in denen sich die Parteien befinden, ist
der Satz, sie sollten ihre Ellenbogen gebrauchen.
Die Jugend müsse sich durchsetzen. Aus Hono-
ratioren könne man keine Partei
bilden.

Fast zur selben Zeit haben die deutsch-
nationalen
Angestellten eine Beratung abge-
halten, auf der Lambach die Hauptrede hielt.
Soweit es sich um Meinungsverschiedenheiten
zwischen den Flügeln handelt, kann man sie in
diesem Zusammenhange übergehen. Im Grunde
genommen aber ist das ganze Auftreten dieser
Organisation innerhalb der Partei eine ähnliche
Erscheinung wie bei den Liberalen. Nicht umsonst
hat Lambach an seinen aufsehenerregenden Arti-

[Spaltenumbruch]

kel erinnert, in dem er, ohne für seine Person
den monarchischen Gedanken abzustreifen, doch die
volle Anerkennung der Republik verlangte mit der
Begründung, daß die Jugend keinerlei Verständ-
nis und Anhänglichkeit mehr für die Vergangen-
heit bewahre. Auch er sprach von dem Problem
der neuen Generation und zeigte die Schran-
ken, die sich hier allmählich von selbst aufrichten.

Erwähnt sei auch ein Artikel, den der Vor-
sitzende der Liberalen Vereinigung, der
frühere Reichstagsabg. Dr. Weber in der Köl-
nischen Zeitung veröffentlicht hat. Bemerkenswert
war seine Erklärung, daß man die alten Parteien
gar nicht mehr zusammenfassen könne, sondern
zu völlig neuen Gründungen übergehen müsse.
Dieser Ruf nach einer neuen Partei der Mitte ist
sofort von dem Jungdeutschen Orden auf-
gegriffen worden. An seine Kritik schloß sich ein
offener Meinungsaustausch zwischen ihm und Dr.
Weber in dem Organ des Bundes "Der Jung-
deutsche". Weber versuchte eine Brücke zwischen
der älteren und jüngeren Generation zu schlagen
und wies dabei darauf hin, daß auch Männer
von Jahren durchaus Verständnis für die For-
derungen der Kommenden hätten. Dabei sei es
gleichgültig, ob man ein neues Gebilde Partei
oder Bund nenne.

Der Jungdo antwortete ihm darauf, daß
das Ziel tatsächlich gemeinsam sei, aber er geht
weiter. Die Brücke betritt er nicht. Entweder
müsse die jetzt herrschende Generation die Füh-
rung freiwillig abgeben oder den Kampf wagen,
in dem die Jugend versuchen werde, das, was
man ihr verweigere, zu erobern. Der Unterschied
zwischen dem Bund, der den Staat von unten
her aufbauen will und den Parteien, die ihn von
oben her schaffen zu müssen glauben, wird ganz
richtig aufgezeichnet. Daß trotzdem beides sich
vereinigen läßt, scheint man im Orden noch nicht
zu erkennen, doch zweifeln wir nicht daran, daß
eine mittlere Linie sich ganz von selbst ergeben
wird. Vorläufig besteht der innere Zusammen-
hang offenbar nur zwischen den Altersgenossen
unter den Jungdeutschen und den anderen Par-
teien der Mitte. Wenn gesagt wird, daß nicht
kraftvolle Persönlichkeiten, sondern die Führer
die Führung übernehmen sollen, weil zu letzterem
Begriff auch die Gefolgschaft gehört, so ist das
ein Spiel mit Worten.

Ein Fortschritt ist hier ohne Zweifel erkennbar.
Man redet sich aneinander heran. In einem aber
greift der Jungdeutsche Orden fehl. Er will die
ganze Generation der Vorkriegszeit beiseite schie-
ben. Das klingt hoffnungsvoll, beruht aber auf
einer Verkennung der Lage. Es ist nichts gewon-
nen, wenn eine Generation die andere ersetzt.
Ihre Anschauungen gehen viel zu weit auseinan-
der, als daß dann eine stetige Entwicklung ein-
setzen kann. Die Folge wäre lediglich, daß wichtige
Zusammenhänge zerrissen und Umwälzungen in
die Erscheinung treten würden, von denen man
wirklich noch nicht weiß, ob sie ein Vorteil wären.
Ein Kompromiß ist hier unvermeidbar. Die kraft-
volle Art der Jugend muß ihre Ergänzung in der
Erfahrung finden. Männer, die an ihrem Platze
etwas geleistet haben und auch beweglich genug
dazu sind, um weiter fortzuschreiten, soll man nicht
mit einer Handbewegung abtun. Wir haben eben
die Rede Stresemanns erwähnt. Auf ihn würde
alles zutreffen, was der Jungdo gegen die Per-
sönlichkeiten der früheren Generationen sagt. Er
war schon Mitglied des Reichstages vor mehr als
25 Jahren. Und doch haben seine letzten Aeuße-
rungen bewiesen, daß er sich noch jung genug
fühle, um mit der Jugend zu arbeiten.

Jedenfalls ist diese Erörterung außerordentlich
lehrreich und beweist daß wir uns in einem Gä-
rungsprozeß begriffen sind, der ganz sicher zu
einer völligen Umgestaltung unseres politischen
Lebens in absehbarer Zeit führen wird. Es muß
nur dafür gesorgt werden, daß die Aussprache
nicht mehr abbricht. Sie ist die Voraussetzung für
die Schöpfungen, die jetzt deutlicher als früher
sichtbar werden.

[irrelevantes Material]
„AZ am Abend“ Nr. 19 Mittwoch, den 23. Januar
Seelen ohne Gleichgewicht

Den ganzen Tag Schach ſpielen. Immer wieder.
Immer wieder. Eigentlich kann man es gar nicht
richtig. Und viel Vergnügen macht es einem auch
nicht. Aber was ſoll man tun hier drin? ... Wenn
ſie einen doch wieder nur hinausließen! ...

Jetzt iſt man eine ganze Woche da, und ſchließ-
lich: wieſo halten ſie einen in der Pſychiatriſchen
Klinik feſt? Iſt man denn krank, weil man ſich
von einem Eiſenbahnzug überfahren laſſen wollte?

„Da haſt du einen ganz blöden Zug gemacht,“
ſagt der Spielpartner.

Blöden Zug? — Das kann jedem paſſieren, daß
er ſich einmal totfahren laſſen will; habt ihr eine
Ahnung! — Ah, nein, der meinte ja das Schach-
ſpiel. — „Ich ſpiele nicht mehr!“

„Dann läßt du’s halt bleiben.“

So, das war man los. Dummes Geſpiele. Aber
man dachte währenddeſſen wenigſtens nicht an all
dieſe Geſchichten da draußen, die einem ſo oft den
Kopf faſt zum Zerſpringen brachten. Erſt hatte er
es mit Saufen probiert. Aber das half anſcheinend
nicht viel gegen Seelenſchmerz. Na, und dann
eben ... Ach, zum Teufel mit dieſer ganzen
Sache! Jetzt war es vorbei. Jetzt wollte er wieder
hinaus. Fußballſpielen wäre vielleicht geſcheiter
geweſen als Saufen. Aber ſpiel’ du mal Fußball,
wenn du am liebſten losheulen möchteſt, weil —
weil — Verdammt, da war es ſchon wieder!
Dachte man denn immer nur im Kreis herum,
daß einem ſtändig die vermaledeite Herzensaffäre
ins Gedächtnis kam? Das Schachſpielen hatte
ſchon ſeine Vorzüge. Alſo lieber Schach! Aber jetzt
ſpielte ſchon ein anderer, auch einer von den ver-
geblichen Selbſtmördern. Na, ſchön, mochte der
alſo für eine Weile von ſeinen elenden Gedanken
frei ſein. Falls ausgerechnet der welche hatte.
Denn luſtiger als dieſer fünfzehnjährige Serbe
konnte man eigentlich kaum ſein. Das war ſchon
eine Marke! Hatten ſie ihn neulich am ſpäten
Abend angebracht, und am nächſten Morgen
ſchmetterte er ſeine ſlawiſchen Volkslieder unge-
niert durch den Saal, daß die Wände wackelten.
Und tags zuvor Selbſtmordverſuch mit Leder-
riemen am Fenſterkreuz. Rechtzeitig noch abge-
ſchnitten ... Er erzählte zwar, der kleine Schwarz-
haarige, das ſei alles nur „für Spaß“ geweſen;
aber na, na! Hier drinnen wurden derlei Späße
nicht ſo recht geglaubt und für „ſpaniſch“ ange-
ſehen.

Jetzt ſchmiß er die Schachfiguren plötzlich durch-
einander, der Serbe. Der hatte ja auch ſeine
Mucken, das mußte man ſchon ſagen. Warum
hörte er denn auf mit dem Spiel: — Aha: er
erzählte wieder einmal.

„... und war da in Bäckerladen ſchönes Mäd-
chen. Sehrrr ſchön. Hab’ ich ganzen Tag Semmel
gekauft. Immer ein Semmel. Bin ich gelaufen
zehnmal, zwanzigmal. Immer ein Semmel ...
Und vorgeſtern ich ſehe, wie junger Mann geht in
Laden. Und kommt, und kommt nicht heraus.
Halbe Stunde lang nicht ... Und ich hinüber —
wie ſagt man? — geſchleicht und hineingeſchaut.
Seh’ ich, wie ſie pouſiert mit ihm. Sehrrr! Mir
wird ganz ſchwer. Und dann ich geh’ hinauf in
mein Kammer und nehm’ von Hoſe Ledergurt.
Hab’ ich an Fenſter feſtgemacht und Stuhl geſtellt
und mein Kopf geſteckt in Schlinge. — Erſt auf
Stuhl, dann in Schlinge Kopf. — Wie ich gehört
habe: kommt Wirtin, ſchnell habe Stuhl umge-
poltert. So iſt gekommen mein Selbſtmord. Nur
Spaß iſt, gutes Spaß ...“

Daß doch immer die verfluchten Weibsbilder
hinter dieſen ſämtlichen Geſchichten ſteckten! Wo
man hinhörte, immer dieſelbe Sache: Dem einen
war die Frau durchgebrannt ... Dieſem da ging
alle acht Wochen die Braut durch die Lappen,
und er holte ſie dann ſtets unter großem Weh-
klagen zurück. Freilich, das letztemal hatte er ſie
nicht mehr zu finden gewußt. Deswegen war er
nun hier ... Da drüben der, am Tiſch, der Skat-
ſpieler, der Grauhaarige mit der ewigen Tabaks-
pfeife, na, der erzählte erſt Kapitel! Fünfzig
Jahre war er alt, über zwanzig Jahre verheiratet,
und jetzt hatte er die tollſten Tänze mit ſeiner

[Spaltenumbruch]

Eheliebſten. Scheiden laſſen wollte ſie ſich. Und
der alte Dummkopf ging doch wahrhaftig beinahe
zugrunde darüber! Anſtatt froh zu ſein, daß er
ſein Krachſcheit los war! Nun ſaß er jeden Tag
und ſchrieb Briefe. Drohbriefe, Bittbriefe, ſo un-
ſinniges Zeug, daß der Stationsarzt ihm alle drei
Tage erklären mußte, derlei Schreibwerke könne
er beim beſten Willen nicht befördern laſſen. Ja,
ja, die Liebe! Die hatte es in ſich. Und das
wurde nun eine „Himmelsmacht“ genannt, und
ganze Opern wurden drumherum verfertigt. Oder
Operetten oder ſonſtige Kunſt. Proſit Mahlzeit
zum Genuſſe dieſer „Himmelsmacht“!

Was ihn anlangte, er würde ſich hüten in Zu-
kunft. Kein Weibsgeſicht mehr angeſchaut! Fuß-
ball wurde geſpielt! Bumm, ins Tor den Ball!
Bravo! Ha, wie das Publikum Beifall klatſchte!
Und wie die netten Mädchen ihm zulächelten.
Manche winkte ſogar oder warf ihr Blumen-
ſträußchen — Rendezvous gefällig, meine Gnä-
digſte? Morgen abend da und da ... Dann gehen
wir zum ... Ja, war er denn verrückt? Er malte
ſich doch ſchon wieder das nächſte Liebesabenteuer
aus! Das ihn wahrſcheinlich ausgiebig elend
machen würde, weil er dieſe Geſchichten immer zu
ernſt nahm.

Damals und deswegen — wegen der „Liebe“
— haſt du dich von der hohen Flußbrücke hin-
unterſtürzen wollen. Gründlich tot wünſchteſt du
zu ſein: Genickbruch in Kombination mit Ertrin-
ken. Nur hat dich, wie du auf das Geländer
kletterteſt, noch gerade eine energiſche Poliziſten-
hand erwiſcht. Und damals und deswegen —
auch wegen der „Liebe“ ſelbſtverſtändlich — biſt
du hinausgeſchlichen vor die Stadt, haſt dir eine
Stelle auf dem Bahndamm ausgeſucht. Und als
es dann dunkel wurde, haſt du dich hingelegt,
Kopf auf die eine Schiene, Beine auf die andere.
Den Zug haſt du auch ſchon heranrollen hören,
haſt gedacht: „So, Emmi, morgen lieſt du’s in
der Zeitung, daß ich mich deinetwegen umgebracht
habe.“ Aber du haſt tatſächlich wieder Schwein
gehabt, und im letzten Augenblick hat dir eine
biedere Landjägerfauſt an den Rockkragen gegrif-
fen, und da biſt du den Bahndamm herunter-
gekollert. Oben iſt der Zug vorbeigerumpelt, auch
ohne dich totzufahren, du Kamel.

So! — Hoffentlich würde morgen der Bezirks-
arzt in die Klinik kommen und die polizeiliche
Einweiſung aufheben. Eher wurde nichts aus der
heißerſehnten Entlaſſung. Und jetzt wollte er hin-
übergehen zu den beiden da drüben, zu dem klei-
nen Serben und dem dritten Selbſtmördergenoſſen.
Die mußten wieder neue Witze auf Lager haben;
denn ſie lachten reichlich laut und anhaltend.

Der durchgefallene Selbſtmordkandidat mar-
ſchierte in die gelächterbewegte Saalgegend. Es
geſellten ſich bald noch ein ſchwerer Alkoholiker
und ein Morphiniſt dem Trio bei. Sie meckerten
und ließen Lachtriller ſteigen, daß die Stations-
ſchweſter im ſtillen meinte, ſolches Verhalten
ſtünde eigentlich im Widerſtand zu dem Befund:
Gemütsleiden. Aber darin irrte die Schweſter.
Denn wie ſie da ſaßen, waren ſie alle fünf hono-
rable Selbſtmordunternehmer geweſen. Freilich,
ohne das erforderliche Talent. Und freilich ſchien
es manchmal, daß ſie, wenn ſie es zwar nicht
wußten, ſo doch fühlten: Hinter allen, auch den
traurigſten Dingen dieſes Lebens, wartet etwas
wie ein großes, unmenſchliches Lächeln der Klar-
heit: vielleicht ſanfte, vielleicht ſtrenge Ironie
Gottes.


Heft 3 der „Luſtigen Blätter“ iſt ſoeben als
Winterſport-Nummer erſchienen. Die bekannte-
ſten Künſtler, wie Ehrenberger, Heiligenſtaedt,
Hildebrand und Krain ſind mit humorvollen
Zeichnungen vertreten, während Mühlen-Schulte,
Bloch, Roellinghoff, Presber uſw. wieder über-
aus witzige Beiträge lieferten. Das Heft, das
jedem einige heitere Stunden vermitteln wird,
iſt überall zum Preiſe von 50 Pfg. zu haben.

Die Jugend in den Parteien

sz. In immer ſtärkerem Maße wird eine
Ueberalterung der Parteien in Deutſchland
beklagt. Ein Blick in die parlamentariſchen Hand-
bücher beweiſt die Berechtigung dieſes Vorwur-
fes. Nach kurzen Anſätzen bei der Nationalver-
ſammlung, für die man auch friſche Kräfte her-
anzog. iſt es raſch wieder zu einer Erſtarrung
gekommen. Männer der Vergangenheit kehrten
in die Politik zurück und übernahmen z. T. ſogar
von neuem die Führung. Das hat zu Unzuträg-
lichkeiten geführt, die eben in dem raſchen Wechſel
der Zeit ihre Erklärung finden. Wir leben ſchnel-
ler als früher und die Probleme von geſtern ſind
kaum noch die von heute. Die Schuld aber an
der einſeitigen Zuſammenſetzung der Fraktionen
wie der Parteileitungen tragen nicht nur die
Perſönlichkeiten, die an der Macht ſind, ſondern
auch die Jugend ſelbſt. Sie iſt zahlenmäßig un-
gewöhnlich ſchwach, denn ihre Blüte iſt auf den
Schlachtfeldern geblieben. Vor allem aber hat ſie
ſich von der Politik abgewandt und ihr Intereſſe
auf Dinge vereinigt, die an ſich, wie Sport, wie
Wiſſenſchaft und Literatur ihre Bedeutung haben,
die aber die Mitarbeit am Staat nicht erſetzen
können. Sie hat gemurrt und über Zurückſetzung
geſcholten, jedoch keinen Anlauf unternommen,
um ſich ſelbſt vorwärts zu bringen.

Es iſt nun bezeichnend, daß faſt gleichzeitig
überall ein Vorſtoß jetzt einſetzt. Bei den
Deutſchnationalen ſo gut wie bei der Deutſchen
Volkspartei oder dem Zentrum. Bei den Demo-
kraten
haben die Jugendverbände ſchon ſeit
längerem eine gewiſſe Geltung erlangt, aber
durch einen übermäßigen Radikalismus eine
Kluft aufgeriſſen. Sogar gegen die eigenen von
ihnen gewählten Führer wie den Reichstagsab-
geordneten Lemmer haben ſie Front gemacht, als
er in richtiger Würdigung der parlamentariſchen
Lage den ſozialdemokratiſchen Antrag gegen den
Bau des Panzerkreuzers mit zu Fall brachte.
Dieſer Ueberſchwang ſchadet an ſich nichts. Er iſt
ein Vorrecht der Heranwachſenden, die gerade da-
mit häufig genug das Gegengewicht gegen die
Zaudertaktik der Aelteren bilden. Nur müſſen
dann die freundſchaftlichen Formen gewahrt
bleiben, was nicht immer der Fall war. Auf den
Tagungen der Demokraten haben Koch und die
anderen Mitglieder des Vorſtandes ſich kaum
gegen irgendeine Gruppe ſo häufig wehren müſ-
ſen wie gegen die Jungdemokraten.

Ganz anders liegt es in der Deutſchen
Volkspartei.
Auch hier beſteht ganz natur-
gemäß der Gegenſatz zwiſchen zwei Generationen,
die eben auch verſchiedenen Anſchauungskreiſen
angehören. Zum Teil hat die Jugend dort in
eigenen Klubs den Verſuch unternommen, ſich
ſtärker zu betonen. Was aber ihre Lage gegenüber
den Jungdemokraten weſentlich anders erſcheinen
läßt, iſt die Tatſache, daß ſie von dem offiziellen
Führer der Partei, Dr. Streſemann ermuntert und
geradezu zur Hilfeleiſtung aufgeboten werden. Der
Miniſter hatte ſchon in einem Neujahrsartikel
ihnen zugerufen, ſie ſollten ſich mehr rühren und
die Partei zwingen, ihnen größere Beachtung zu
ſchenken. Vor dem Angeſtelltenausſchuß hat er
nun dieſe Ausführungen noch unterſtrichen. Im
allgemeinen ſprach er über das Verhältnis der
Lohnempfänger zu den Arbeitgebern. Doch das
iſt hier nicht das Weſentliche. Wichtiger für die
Kriſen, in denen ſich die Parteien befinden, iſt
der Satz, ſie ſollten ihre Ellenbogen gebrauchen.
Die Jugend müſſe ſich durchſetzen. Aus Hono-
ratioren könne man keine Partei
bilden.

Faſt zur ſelben Zeit haben die deutſch-
nationalen
Angeſtellten eine Beratung abge-
halten, auf der Lambach die Hauptrede hielt.
Soweit es ſich um Meinungsverſchiedenheiten
zwiſchen den Flügeln handelt, kann man ſie in
dieſem Zuſammenhange übergehen. Im Grunde
genommen aber iſt das ganze Auftreten dieſer
Organiſation innerhalb der Partei eine ähnliche
Erſcheinung wie bei den Liberalen. Nicht umſonſt
hat Lambach an ſeinen aufſehenerregenden Arti-

[Spaltenumbruch]

kel erinnert, in dem er, ohne für ſeine Perſon
den monarchiſchen Gedanken abzuſtreifen, doch die
volle Anerkennung der Republik verlangte mit der
Begründung, daß die Jugend keinerlei Verſtänd-
nis und Anhänglichkeit mehr für die Vergangen-
heit bewahre. Auch er ſprach von dem Problem
der neuen Generation und zeigte die Schran-
ken, die ſich hier allmählich von ſelbſt aufrichten.

Erwähnt ſei auch ein Artikel, den der Vor-
ſitzende der Liberalen Vereinigung, der
frühere Reichstagsabg. Dr. Weber in der Köl-
niſchen Zeitung veröffentlicht hat. Bemerkenswert
war ſeine Erklärung, daß man die alten Parteien
gar nicht mehr zuſammenfaſſen könne, ſondern
zu völlig neuen Gründungen übergehen müſſe.
Dieſer Ruf nach einer neuen Partei der Mitte iſt
ſofort von dem Jungdeutſchen Orden auf-
gegriffen worden. An ſeine Kritik ſchloß ſich ein
offener Meinungsaustauſch zwiſchen ihm und Dr.
Weber in dem Organ des Bundes „Der Jung-
deutſche“. Weber verſuchte eine Brücke zwiſchen
der älteren und jüngeren Generation zu ſchlagen
und wies dabei darauf hin, daß auch Männer
von Jahren durchaus Verſtändnis für die For-
derungen der Kommenden hätten. Dabei ſei es
gleichgültig, ob man ein neues Gebilde Partei
oder Bund nenne.

Der Jungdo antwortete ihm darauf, daß
das Ziel tatſächlich gemeinſam ſei, aber er geht
weiter. Die Brücke betritt er nicht. Entweder
müſſe die jetzt herrſchende Generation die Füh-
rung freiwillig abgeben oder den Kampf wagen,
in dem die Jugend verſuchen werde, das, was
man ihr verweigere, zu erobern. Der Unterſchied
zwiſchen dem Bund, der den Staat von unten
her aufbauen will und den Parteien, die ihn von
oben her ſchaffen zu müſſen glauben, wird ganz
richtig aufgezeichnet. Daß trotzdem beides ſich
vereinigen läßt, ſcheint man im Orden noch nicht
zu erkennen, doch zweifeln wir nicht daran, daß
eine mittlere Linie ſich ganz von ſelbſt ergeben
wird. Vorläufig beſteht der innere Zuſammen-
hang offenbar nur zwiſchen den Altersgenoſſen
unter den Jungdeutſchen und den anderen Par-
teien der Mitte. Wenn geſagt wird, daß nicht
kraftvolle Perſönlichkeiten, ſondern die Führer
die Führung übernehmen ſollen, weil zu letzterem
Begriff auch die Gefolgſchaft gehört, ſo iſt das
ein Spiel mit Worten.

Ein Fortſchritt iſt hier ohne Zweifel erkennbar.
Man redet ſich aneinander heran. In einem aber
greift der Jungdeutſche Orden fehl. Er will die
ganze Generation der Vorkriegszeit beiſeite ſchie-
ben. Das klingt hoffnungsvoll, beruht aber auf
einer Verkennung der Lage. Es iſt nichts gewon-
nen, wenn eine Generation die andere erſetzt.
Ihre Anſchauungen gehen viel zu weit auseinan-
der, als daß dann eine ſtetige Entwicklung ein-
ſetzen kann. Die Folge wäre lediglich, daß wichtige
Zuſammenhänge zerriſſen und Umwälzungen in
die Erſcheinung treten würden, von denen man
wirklich noch nicht weiß, ob ſie ein Vorteil wären.
Ein Kompromiß iſt hier unvermeidbar. Die kraft-
volle Art der Jugend muß ihre Ergänzung in der
Erfahrung finden. Männer, die an ihrem Platze
etwas geleiſtet haben und auch beweglich genug
dazu ſind, um weiter fortzuſchreiten, ſoll man nicht
mit einer Handbewegung abtun. Wir haben eben
die Rede Streſemanns erwähnt. Auf ihn würde
alles zutreffen, was der Jungdo gegen die Per-
ſönlichkeiten der früheren Generationen ſagt. Er
war ſchon Mitglied des Reichstages vor mehr als
25 Jahren. Und doch haben ſeine letzten Aeuße-
rungen bewieſen, daß er ſich noch jung genug
fühle, um mit der Jugend zu arbeiten.

Jedenfalls iſt dieſe Erörterung außerordentlich
lehrreich und beweiſt daß wir uns in einem Gä-
rungsprozeß begriffen ſind, der ganz ſicher zu
einer völligen Umgeſtaltung unſeres politiſchen
Lebens in abſehbarer Zeit führen wird. Es muß
nur dafür geſorgt werden, daß die Ausſprache
nicht mehr abbricht. Sie iſt die Vorausſetzung für
die Schöpfungen, die jetzt deutlicher als früher
ſichtbar werden.

[irrelevantes Material]
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[Seite 10[10]/0010] „AZ am Abend“ Nr. 19 Mittwoch, den 23. Januar Seelen ohne Gleichgewicht Von Walter C. F. Lierke Den ganzen Tag Schach ſpielen. Immer wieder. Immer wieder. Eigentlich kann man es gar nicht richtig. Und viel Vergnügen macht es einem auch nicht. Aber was ſoll man tun hier drin? ... Wenn ſie einen doch wieder nur hinausließen! ... Jetzt iſt man eine ganze Woche da, und ſchließ- lich: wieſo halten ſie einen in der Pſychiatriſchen Klinik feſt? Iſt man denn krank, weil man ſich von einem Eiſenbahnzug überfahren laſſen wollte? „Da haſt du einen ganz blöden Zug gemacht,“ ſagt der Spielpartner. Blöden Zug? — Das kann jedem paſſieren, daß er ſich einmal totfahren laſſen will; habt ihr eine Ahnung! — Ah, nein, der meinte ja das Schach- ſpiel. — „Ich ſpiele nicht mehr!“ „Dann läßt du’s halt bleiben.“ So, das war man los. Dummes Geſpiele. Aber man dachte währenddeſſen wenigſtens nicht an all dieſe Geſchichten da draußen, die einem ſo oft den Kopf faſt zum Zerſpringen brachten. Erſt hatte er es mit Saufen probiert. Aber das half anſcheinend nicht viel gegen Seelenſchmerz. Na, und dann eben ... Ach, zum Teufel mit dieſer ganzen Sache! Jetzt war es vorbei. Jetzt wollte er wieder hinaus. Fußballſpielen wäre vielleicht geſcheiter geweſen als Saufen. Aber ſpiel’ du mal Fußball, wenn du am liebſten losheulen möchteſt, weil — weil — Verdammt, da war es ſchon wieder! Dachte man denn immer nur im Kreis herum, daß einem ſtändig die vermaledeite Herzensaffäre ins Gedächtnis kam? Das Schachſpielen hatte ſchon ſeine Vorzüge. Alſo lieber Schach! Aber jetzt ſpielte ſchon ein anderer, auch einer von den ver- geblichen Selbſtmördern. Na, ſchön, mochte der alſo für eine Weile von ſeinen elenden Gedanken frei ſein. Falls ausgerechnet der welche hatte. Denn luſtiger als dieſer fünfzehnjährige Serbe konnte man eigentlich kaum ſein. Das war ſchon eine Marke! Hatten ſie ihn neulich am ſpäten Abend angebracht, und am nächſten Morgen ſchmetterte er ſeine ſlawiſchen Volkslieder unge- niert durch den Saal, daß die Wände wackelten. Und tags zuvor Selbſtmordverſuch mit Leder- riemen am Fenſterkreuz. Rechtzeitig noch abge- ſchnitten ... Er erzählte zwar, der kleine Schwarz- haarige, das ſei alles nur „für Spaß“ geweſen; aber na, na! Hier drinnen wurden derlei Späße nicht ſo recht geglaubt und für „ſpaniſch“ ange- ſehen. Jetzt ſchmiß er die Schachfiguren plötzlich durch- einander, der Serbe. Der hatte ja auch ſeine Mucken, das mußte man ſchon ſagen. Warum hörte er denn auf mit dem Spiel: — Aha: er erzählte wieder einmal. „... und war da in Bäckerladen ſchönes Mäd- chen. Sehrrr ſchön. Hab’ ich ganzen Tag Semmel gekauft. Immer ein Semmel. Bin ich gelaufen zehnmal, zwanzigmal. Immer ein Semmel ... Und vorgeſtern ich ſehe, wie junger Mann geht in Laden. Und kommt, und kommt nicht heraus. Halbe Stunde lang nicht ... Und ich hinüber — wie ſagt man? — geſchleicht und hineingeſchaut. Seh’ ich, wie ſie pouſiert mit ihm. Sehrrr! Mir wird ganz ſchwer. Und dann ich geh’ hinauf in mein Kammer und nehm’ von Hoſe Ledergurt. Hab’ ich an Fenſter feſtgemacht und Stuhl geſtellt und mein Kopf geſteckt in Schlinge. — Erſt auf Stuhl, dann in Schlinge Kopf. — Wie ich gehört habe: kommt Wirtin, ſchnell habe Stuhl umge- poltert. So iſt gekommen mein Selbſtmord. Nur Spaß iſt, gutes Spaß ...“ Daß doch immer die verfluchten Weibsbilder hinter dieſen ſämtlichen Geſchichten ſteckten! Wo man hinhörte, immer dieſelbe Sache: Dem einen war die Frau durchgebrannt ... Dieſem da ging alle acht Wochen die Braut durch die Lappen, und er holte ſie dann ſtets unter großem Weh- klagen zurück. Freilich, das letztemal hatte er ſie nicht mehr zu finden gewußt. Deswegen war er nun hier ... Da drüben der, am Tiſch, der Skat- ſpieler, der Grauhaarige mit der ewigen Tabaks- pfeife, na, der erzählte erſt Kapitel! Fünfzig Jahre war er alt, über zwanzig Jahre verheiratet, und jetzt hatte er die tollſten Tänze mit ſeiner Eheliebſten. Scheiden laſſen wollte ſie ſich. Und der alte Dummkopf ging doch wahrhaftig beinahe zugrunde darüber! Anſtatt froh zu ſein, daß er ſein Krachſcheit los war! Nun ſaß er jeden Tag und ſchrieb Briefe. Drohbriefe, Bittbriefe, ſo un- ſinniges Zeug, daß der Stationsarzt ihm alle drei Tage erklären mußte, derlei Schreibwerke könne er beim beſten Willen nicht befördern laſſen. Ja, ja, die Liebe! Die hatte es in ſich. Und das wurde nun eine „Himmelsmacht“ genannt, und ganze Opern wurden drumherum verfertigt. Oder Operetten oder ſonſtige Kunſt. Proſit Mahlzeit zum Genuſſe dieſer „Himmelsmacht“! Was ihn anlangte, er würde ſich hüten in Zu- kunft. Kein Weibsgeſicht mehr angeſchaut! Fuß- ball wurde geſpielt! Bumm, ins Tor den Ball! Bravo! Ha, wie das Publikum Beifall klatſchte! Und wie die netten Mädchen ihm zulächelten. Manche winkte ſogar oder warf ihr Blumen- ſträußchen — Rendezvous gefällig, meine Gnä- digſte? Morgen abend da und da ... Dann gehen wir zum ... Ja, war er denn verrückt? Er malte ſich doch ſchon wieder das nächſte Liebesabenteuer aus! Das ihn wahrſcheinlich ausgiebig elend machen würde, weil er dieſe Geſchichten immer zu ernſt nahm. Damals und deswegen — wegen der „Liebe“ — haſt du dich von der hohen Flußbrücke hin- unterſtürzen wollen. Gründlich tot wünſchteſt du zu ſein: Genickbruch in Kombination mit Ertrin- ken. Nur hat dich, wie du auf das Geländer kletterteſt, noch gerade eine energiſche Poliziſten- hand erwiſcht. Und damals und deswegen — auch wegen der „Liebe“ ſelbſtverſtändlich — biſt du hinausgeſchlichen vor die Stadt, haſt dir eine Stelle auf dem Bahndamm ausgeſucht. Und als es dann dunkel wurde, haſt du dich hingelegt, Kopf auf die eine Schiene, Beine auf die andere. Den Zug haſt du auch ſchon heranrollen hören, haſt gedacht: „So, Emmi, morgen lieſt du’s in der Zeitung, daß ich mich deinetwegen umgebracht habe.“ Aber du haſt tatſächlich wieder Schwein gehabt, und im letzten Augenblick hat dir eine biedere Landjägerfauſt an den Rockkragen gegrif- fen, und da biſt du den Bahndamm herunter- gekollert. Oben iſt der Zug vorbeigerumpelt, auch ohne dich totzufahren, du Kamel. So! — Hoffentlich würde morgen der Bezirks- arzt in die Klinik kommen und die polizeiliche Einweiſung aufheben. Eher wurde nichts aus der heißerſehnten Entlaſſung. Und jetzt wollte er hin- übergehen zu den beiden da drüben, zu dem klei- nen Serben und dem dritten Selbſtmördergenoſſen. Die mußten wieder neue Witze auf Lager haben; denn ſie lachten reichlich laut und anhaltend. Der durchgefallene Selbſtmordkandidat mar- ſchierte in die gelächterbewegte Saalgegend. Es geſellten ſich bald noch ein ſchwerer Alkoholiker und ein Morphiniſt dem Trio bei. Sie meckerten und ließen Lachtriller ſteigen, daß die Stations- ſchweſter im ſtillen meinte, ſolches Verhalten ſtünde eigentlich im Widerſtand zu dem Befund: Gemütsleiden. Aber darin irrte die Schweſter. Denn wie ſie da ſaßen, waren ſie alle fünf hono- rable Selbſtmordunternehmer geweſen. Freilich, ohne das erforderliche Talent. Und freilich ſchien es manchmal, daß ſie, wenn ſie es zwar nicht wußten, ſo doch fühlten: Hinter allen, auch den traurigſten Dingen dieſes Lebens, wartet etwas wie ein großes, unmenſchliches Lächeln der Klar- heit: vielleicht ſanfte, vielleicht ſtrenge Ironie Gottes. Heft 3 der „Luſtigen Blätter“ iſt ſoeben als Winterſport-Nummer erſchienen. Die bekannte- ſten Künſtler, wie Ehrenberger, Heiligenſtaedt, Hildebrand und Krain ſind mit humorvollen Zeichnungen vertreten, während Mühlen-Schulte, Bloch, Roellinghoff, Presber uſw. wieder über- aus witzige Beiträge lieferten. Das Heft, das jedem einige heitere Stunden vermitteln wird, iſt überall zum Preiſe von 50 Pfg. zu haben. Die Jugend in den Parteien sz. In immer ſtärkerem Maße wird eine Ueberalterung der Parteien in Deutſchland beklagt. Ein Blick in die parlamentariſchen Hand- bücher beweiſt die Berechtigung dieſes Vorwur- fes. Nach kurzen Anſätzen bei der Nationalver- ſammlung, für die man auch friſche Kräfte her- anzog. iſt es raſch wieder zu einer Erſtarrung gekommen. Männer der Vergangenheit kehrten in die Politik zurück und übernahmen z. T. ſogar von neuem die Führung. Das hat zu Unzuträg- lichkeiten geführt, die eben in dem raſchen Wechſel der Zeit ihre Erklärung finden. Wir leben ſchnel- ler als früher und die Probleme von geſtern ſind kaum noch die von heute. Die Schuld aber an der einſeitigen Zuſammenſetzung der Fraktionen wie der Parteileitungen tragen nicht nur die Perſönlichkeiten, die an der Macht ſind, ſondern auch die Jugend ſelbſt. Sie iſt zahlenmäßig un- gewöhnlich ſchwach, denn ihre Blüte iſt auf den Schlachtfeldern geblieben. Vor allem aber hat ſie ſich von der Politik abgewandt und ihr Intereſſe auf Dinge vereinigt, die an ſich, wie Sport, wie Wiſſenſchaft und Literatur ihre Bedeutung haben, die aber die Mitarbeit am Staat nicht erſetzen können. Sie hat gemurrt und über Zurückſetzung geſcholten, jedoch keinen Anlauf unternommen, um ſich ſelbſt vorwärts zu bringen. Es iſt nun bezeichnend, daß faſt gleichzeitig überall ein Vorſtoß jetzt einſetzt. Bei den Deutſchnationalen ſo gut wie bei der Deutſchen Volkspartei oder dem Zentrum. Bei den Demo- kraten haben die Jugendverbände ſchon ſeit längerem eine gewiſſe Geltung erlangt, aber durch einen übermäßigen Radikalismus eine Kluft aufgeriſſen. Sogar gegen die eigenen von ihnen gewählten Führer wie den Reichstagsab- geordneten Lemmer haben ſie Front gemacht, als er in richtiger Würdigung der parlamentariſchen Lage den ſozialdemokratiſchen Antrag gegen den Bau des Panzerkreuzers mit zu Fall brachte. Dieſer Ueberſchwang ſchadet an ſich nichts. Er iſt ein Vorrecht der Heranwachſenden, die gerade da- mit häufig genug das Gegengewicht gegen die Zaudertaktik der Aelteren bilden. Nur müſſen dann die freundſchaftlichen Formen gewahrt bleiben, was nicht immer der Fall war. Auf den Tagungen der Demokraten haben Koch und die anderen Mitglieder des Vorſtandes ſich kaum gegen irgendeine Gruppe ſo häufig wehren müſ- ſen wie gegen die Jungdemokraten. Ganz anders liegt es in der Deutſchen Volkspartei. Auch hier beſteht ganz natur- gemäß der Gegenſatz zwiſchen zwei Generationen, die eben auch verſchiedenen Anſchauungskreiſen angehören. Zum Teil hat die Jugend dort in eigenen Klubs den Verſuch unternommen, ſich ſtärker zu betonen. Was aber ihre Lage gegenüber den Jungdemokraten weſentlich anders erſcheinen läßt, iſt die Tatſache, daß ſie von dem offiziellen Führer der Partei, Dr. Streſemann ermuntert und geradezu zur Hilfeleiſtung aufgeboten werden. Der Miniſter hatte ſchon in einem Neujahrsartikel ihnen zugerufen, ſie ſollten ſich mehr rühren und die Partei zwingen, ihnen größere Beachtung zu ſchenken. Vor dem Angeſtelltenausſchuß hat er nun dieſe Ausführungen noch unterſtrichen. Im allgemeinen ſprach er über das Verhältnis der Lohnempfänger zu den Arbeitgebern. Doch das iſt hier nicht das Weſentliche. Wichtiger für die Kriſen, in denen ſich die Parteien befinden, iſt der Satz, ſie ſollten ihre Ellenbogen gebrauchen. Die Jugend müſſe ſich durchſetzen. Aus Hono- ratioren könne man keine Partei bilden. Faſt zur ſelben Zeit haben die deutſch- nationalen Angeſtellten eine Beratung abge- halten, auf der Lambach die Hauptrede hielt. Soweit es ſich um Meinungsverſchiedenheiten zwiſchen den Flügeln handelt, kann man ſie in dieſem Zuſammenhange übergehen. Im Grunde genommen aber iſt das ganze Auftreten dieſer Organiſation innerhalb der Partei eine ähnliche Erſcheinung wie bei den Liberalen. Nicht umſonſt hat Lambach an ſeinen aufſehenerregenden Arti- kel erinnert, in dem er, ohne für ſeine Perſon den monarchiſchen Gedanken abzuſtreifen, doch die volle Anerkennung der Republik verlangte mit der Begründung, daß die Jugend keinerlei Verſtänd- nis und Anhänglichkeit mehr für die Vergangen- heit bewahre. Auch er ſprach von dem Problem der neuen Generation und zeigte die Schran- ken, die ſich hier allmählich von ſelbſt aufrichten. Erwähnt ſei auch ein Artikel, den der Vor- ſitzende der Liberalen Vereinigung, der frühere Reichstagsabg. Dr. Weber in der Köl- niſchen Zeitung veröffentlicht hat. Bemerkenswert war ſeine Erklärung, daß man die alten Parteien gar nicht mehr zuſammenfaſſen könne, ſondern zu völlig neuen Gründungen übergehen müſſe. Dieſer Ruf nach einer neuen Partei der Mitte iſt ſofort von dem Jungdeutſchen Orden auf- gegriffen worden. An ſeine Kritik ſchloß ſich ein offener Meinungsaustauſch zwiſchen ihm und Dr. Weber in dem Organ des Bundes „Der Jung- deutſche“. Weber verſuchte eine Brücke zwiſchen der älteren und jüngeren Generation zu ſchlagen und wies dabei darauf hin, daß auch Männer von Jahren durchaus Verſtändnis für die For- derungen der Kommenden hätten. Dabei ſei es gleichgültig, ob man ein neues Gebilde Partei oder Bund nenne. Der Jungdo antwortete ihm darauf, daß das Ziel tatſächlich gemeinſam ſei, aber er geht weiter. Die Brücke betritt er nicht. Entweder müſſe die jetzt herrſchende Generation die Füh- rung freiwillig abgeben oder den Kampf wagen, in dem die Jugend verſuchen werde, das, was man ihr verweigere, zu erobern. Der Unterſchied zwiſchen dem Bund, der den Staat von unten her aufbauen will und den Parteien, die ihn von oben her ſchaffen zu müſſen glauben, wird ganz richtig aufgezeichnet. Daß trotzdem beides ſich vereinigen läßt, ſcheint man im Orden noch nicht zu erkennen, doch zweifeln wir nicht daran, daß eine mittlere Linie ſich ganz von ſelbſt ergeben wird. Vorläufig beſteht der innere Zuſammen- hang offenbar nur zwiſchen den Altersgenoſſen unter den Jungdeutſchen und den anderen Par- teien der Mitte. Wenn geſagt wird, daß nicht kraftvolle Perſönlichkeiten, ſondern die Führer die Führung übernehmen ſollen, weil zu letzterem Begriff auch die Gefolgſchaft gehört, ſo iſt das ein Spiel mit Worten. Ein Fortſchritt iſt hier ohne Zweifel erkennbar. Man redet ſich aneinander heran. In einem aber greift der Jungdeutſche Orden fehl. Er will die ganze Generation der Vorkriegszeit beiſeite ſchie- ben. Das klingt hoffnungsvoll, beruht aber auf einer Verkennung der Lage. Es iſt nichts gewon- nen, wenn eine Generation die andere erſetzt. Ihre Anſchauungen gehen viel zu weit auseinan- der, als daß dann eine ſtetige Entwicklung ein- ſetzen kann. Die Folge wäre lediglich, daß wichtige Zuſammenhänge zerriſſen und Umwälzungen in die Erſcheinung treten würden, von denen man wirklich noch nicht weiß, ob ſie ein Vorteil wären. Ein Kompromiß iſt hier unvermeidbar. Die kraft- volle Art der Jugend muß ihre Ergänzung in der Erfahrung finden. Männer, die an ihrem Platze etwas geleiſtet haben und auch beweglich genug dazu ſind, um weiter fortzuſchreiten, ſoll man nicht mit einer Handbewegung abtun. Wir haben eben die Rede Streſemanns erwähnt. Auf ihn würde alles zutreffen, was der Jungdo gegen die Per- ſönlichkeiten der früheren Generationen ſagt. Er war ſchon Mitglied des Reichstages vor mehr als 25 Jahren. Und doch haben ſeine letzten Aeuße- rungen bewieſen, daß er ſich noch jung genug fühle, um mit der Jugend zu arbeiten. Jedenfalls iſt dieſe Erörterung außerordentlich lehrreich und beweiſt daß wir uns in einem Gä- rungsprozeß begriffen ſind, der ganz ſicher zu einer völligen Umgeſtaltung unſeres politiſchen Lebens in abſehbarer Zeit führen wird. Es muß nur dafür geſorgt werden, daß die Ausſprache nicht mehr abbricht. Sie iſt die Vorausſetzung für die Schöpfungen, die jetzt deutlicher als früher ſichtbar werden. Richard May. _

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-01-02T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 23. Januar 1929, S. Seite 10[10]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine19_1929/10>, abgerufen am 17.06.2024.