Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 16. Mai 1920.16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft Aufbau. I. Die Hoffnungen, die sich an den Friedensschluß knüpf- Sie sind völklicher, politischer und wirtschaftlicher Art Für den sozialen Aufbau war es verhängnisvoll, daß Wie ein Pfahl steckt in unserem Fleisch der Kommunis- Auf diesem politischen Boden könnte die Volkswirt- Zugleich geben sich viele Leute einem unvernünftigen Diese Andeutungen bieten nichts Neues und sollen nur 16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft Aufbau. I. Die Hoffnungen, die ſich an den Friedensſchluß knüpf- Sie ſind völklicher, politiſcher und wirtſchaftlicher Art Für den ſozialen Aufbau war es verhängnisvoll, daß Wie ein Pfahl ſteckt in unſerem Fleiſch der Kommunis- Auf dieſem politiſchen Boden könnte die Volkswirt- Zugleich geben ſich viele Leute einem unvernünftigen Dieſe Andeutungen bieten nichts Neues und ſollen nur <TEI> <text> <body> <div type="jAnnouncements" n="1"> <pb facs="#f0003" n="181"/> <fw place="top" type="header">16. 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Wir müſſen den Gründen nachgehen und Hand<lb/> ans Werk legen, ſie zu beſeitigen.</p><lb/> <p>Sie ſind völklicher, politiſcher und wirtſchaftlicher Art<lb/> und hängen eng zuſammen. Daß die neue Zeit den ſozialen<lb/> Forderungen Rechnung trug, war gegeben und iſt gut. Jeder<lb/> Stand muß an kulturellen und materiellen Gütern ſoviel<lb/> erhalten, wie mit dem Gedeihen des Ganzen irgend vereinbar<lb/> iſt; dies iſt die Grenze, denn wenn das Ganze nicht gedeiht,<lb/> kann es auch dem einzelnen auf die Dauer nicht gut gehen.<lb/> Die politiſche Entwicklung mußte freiheitlich gerichtet ſein<lb/> und mit der Begünſtigung einzelner Stände und Klaſſen<lb/> aufräumen. Die Staatsform ſcheidet bei dieſer Betrachtung<lb/> aus. Wir hatten die Monarchie und kennen ihre Vorzüge<lb/> und Schwächen; wir haben die Republik und werden ſehen,<lb/> was ſie uns bringt. Beide müſſen daran gemeſſen werden,<lb/> was ſie für das Volkswohl zu leiſten vermögen. Jetzt er-<lb/> leben wir den Zuſammenſtoß der Gegenſätze. Ohne Kampf<lb/> geht es nicht ab, Späne müſſen fliegen, aber der Volks-<lb/> freund muß wünſchen, daß das Bittere, das uns nicht er-<lb/> ſpart werden kann, auf das geringſtmögliche Maß be-<lb/> ſchränkt bleibe. Dies Maß wird weit überſchritten. Jeder<lb/> Kampf ſallte ritterlich ausgefochten werden, am meiſten<lb/> aber der unter Volksgenoſſen. Es ſollte nicht vergeſſen<lb/> werden, daß wir alle Söhne einer Mutter ſind. Man ſollte<lb/> ſich nicht gegenſeitig den guten Glauben abſprechen. Aller-<lb/> dings iſt die Anſtachelung der Leidenſchaften ein wirkſames<lb/> Kampfmittel, aber auch dies hat ſeine Grenzen. Es gibt<lb/> weite Volksſchichten, denen der gehäſſige, politiſche Kampf<lb/> zuwider iſt. Es ſind die Stillen im Lande, aber auch ſie<lb/> führen ihren Stimmzettel. Sie ſollen und werden ſich rühren<lb/> gegen die, denen die Parteiintereſſen höherſtehen als das<lb/> Wohl des Ganzen.</p><lb/> <p>Für den ſozialen Aufbau war es verhängnisvoll, daß<lb/> die zur Führung berufene Sozialdemokratie mit den For-<lb/> derungen aus der Zeit, wo ſie eine rein oppoſitionelle<lb/> Kampfpartei war (Minimum an Arbeit, Verwerfung des<lb/> Stücklohns, Klaſſengegenſatz), behaftet war. Es ſoll den<lb/> Mehrheitsſozialiſten nicht vergeſſen ſein, daß ſie als Regie-<lb/> rungspartei ſtaatsmänniſch genug waren, hiervon ein<lb/> gutes Teil zu opfern und den Kampf mit den Unentwegten<lb/> aufzunehmen. Aber die Geiſter, die ſie gerufen hatten,<lb/> wurden ſie nicht los. Ihre guten Regierungsgrundſätze<lb/> kreuzten ſich mit ihren Parteiintereſſen. Es begann das<lb/> Ringen mit den Radikalen um die Gefolgſchaft. Hierin lag<lb/> das Hemmnis für die Entwicklung einer Arbeiterpartei,<lb/> die ihre Intereſſen als ein Glied des Ganzen verfolgt.<lb/> Nun iſt auch noch der unglückſelige Kapp-Putſch wie ein<lb/> Meltau auf die zarte Pflanze gefallen. Der Ruck nach<lb/> links hat die Mehrheitsſozialdemokratie mit ſich geriſſen,<lb/> die radikalere Richtung hat Abwaſſer bekommen und die<lb/> Regierungsmänner ſind gefolgt.</p><lb/> <p>Wie ein Pfahl ſteckt in unſerem Fleiſch der Kommunis-<lb/> mus. Mit der kommuniſtiſchen Lehre hat die Partei wenig<lb/> zu tun, dieſe iſt den meiſten Genoſſen wohl kaum bekannt.<lb/> Wie regelmäßig, wenn die Leidenſchaften entflammt ſind,<lb/> wird hier eine radikale Richtung von einer noch radikaleren<lb/> überboten. Hierzu kam das ruſſiſche Gift. Aus dieſen trüben<lb/> Quellen entſprang eine reine Umſturzpartei, gerichtet auf<lb/><cb/> unbedingte Klaſſenherrſchaft, kämpfend mit allen Mitteln<lb/> der Entſtellung, Verhetzung und rückſichtsloſen Gewalt,<lb/> ausgerüſtet mit Waffen aller Art, geführt von geſchickten,<lb/> zielbewußten und bedenkenloſen Agitatoren. Sie will den<lb/> Bürgerkrieg und hat ihn in dem empfindlichſten Gebiet<lb/> unſeres Vaterlandes entfeſſelt. Ihrer Entſchloſſenheit und<lb/> hinreißenden Kraft ſtehen auf der Ordnungsſeite Bedenk-<lb/> lichkeit und gegenſeitiges Mißtrauen gegenüber.</p><lb/> <p>Auf dieſem politiſchen Boden könnte die Volkswirt-<lb/> ſchaft nicht einmal gedeihen, wenn alle übrigen Bedingun-<lb/> gen günſtig wären. Bei uns gibt es nur ungünſtige Be-<lb/> dingungen. Große Gebiete mit wichtigſter Gütererzeugung<lb/> ſind uns entriſſen, die Zuführung von Rohſtoffen aus dem<lb/> Ausland iſt unterbunden, die Produktionsform für ver-<lb/> ſchiedene Güter bedeutendſter Art iſt in einer Umbildung<lb/> begriffen, unſere Handelsflotte iſt uns zum größten Teil<lb/> geraubt, unſere überſeeiſchen Verbindungen ſind vernichtet.<lb/> unſer Kredit iſt verſchwunden, die Stellung der Unterneh-<lb/> mer iſt erſchüttert, unſere Arbeiterſchaft politiſiert. Der<lb/> Krieg, der Friedensſchluß und die Revolution haben uns<lb/> eine ungeheuerliche Schuldenlaſt auferlegt, das mobile<lb/> Volksvermögen iſt zum größten Teil aufgezehrt, auch das<lb/> immobile fängt in bedenklichem Maße an, uns zu ent-<lb/> gleiten, die Staatsmittel müſſen faſt ganz in der unwirt-<lb/> ſchaftlichſten Form, durch ungedeckte Notenausgabe, beſchafft<lb/> werden, unſere Valuta wird im Auslande zeitweilig faſt<lb/> mit Null bewertet, die Teuerung iſt unerhört und wächſt<lb/> raſch. Sie muß wachſen, weil viel mehr verbraucht als er-<lb/> zeugt wird und weil das Valutaelend und der Warenmangel<lb/> dem Schiebertum und der Auswucherung Tür und Tor<lb/> öffnen. Die Teuerung zerrüttet unſer ganzes Wirtſchafts-<lb/> leben. Es herrſcht ein wildes Kämpfen um Lohn und Ge-<lb/> halt. Arbeiter und Beamte erzwingen ſich, was ſie zum<lb/> Leben nötig haben, die Produzenten, Händler und Hand-<lb/> werker machen entſprechende Preisaufſchläge, das eine<lb/> treibt das andere. Wer ſein Einkommen nicht erhöhen<lb/> kann, ſteht einer verzweifelten Lage gegenüber. Der Staat,<lb/> der ſelbſt nichts hat, ſoll helfen. Er kann es nicht; ſollte<lb/> er es dennoch unternehmen, kann der Staatsbankerott<lb/> nicht ausbleiben.</p><lb/> <p>Zugleich geben ſich viele Leute einem unvernünftigen<lb/> Luxus hin, nicht nur die Kriegs- und Revolutionsgewinn-<lb/> ler, ſondern auch andere, die ein erhöhtes Einkommen be-<lb/> ziehen. Vielfach werden die Anſprüche an Lebensgenuß viel<lb/> höher geſtellt als im Frieden, die Erzwingung der ent-<lb/> ſprechend berechneten Lohnforderungen ermöglicht es, für<lb/> Vergnügungen und entbehrliche Genußmittel viel mehr aus-<lb/> zugeben als früher. Kinos und Kabaretts wachſen wie<lb/> Pilze aus dem Boden, entbehrliche Genußmittel und Luxus-<lb/> artikel werden maſſenhaft aus dem Auslande eingeführt.<lb/> Gegen Schokolade und Zigaretten tauſchen wir <supplied>nötige</supplied><lb/> Lebensmittel, Grundbeſitz und induſtrielle Anlagen aus.</p><lb/> <p>Dieſe Andeutungen bieten nichts Neues und ſollen nur<lb/> die Unterlage für die Fragen bilden: Was tun wir, um<lb/> uns aus dieſer elenden Lage herauszuarbeiten? Was ſollten<lb/> wir hierfür tun? Die zweite Frage muß geſtellt werden.<lb/> weil die Antwort auf die erſte lautet: „Nichts oder wenig-<lb/> ſtens ſo gut wie nichts“. Denn die an ſich anerkennens-<lb/> werten Einzelbeſtrebungen ſind für ſich allein unzureichend.<lb/> einem Elend von ſo grenzenloſem Umfang und ſo verzwei-<lb/> felter Intenſität abzuhelfen. Auch die Beruhigungspaſtille,<lb/> es handle ſich um eine Volkskrankheit, die ausraſen werde,<lb/> und nach eingetretener Geneſung werde das an ſich tüchtige<lb/> deutſche Volk ſich ſchon wieder emporarbeiten, kann nicht<lb/> befriedigen. Geneſen wird es einmal, aber wenn dies nicht<lb/> bald geſchieht, es könnte auf einem Trümmerhaufen und<lb/> einem Kirchhof ſtehen. Unſere Feinde würden die politiſchen<lb/> und wirtſchaftlichen Herren im Lande ſein, für ſie würden<lb/> wir arbeiten müſſen, um zu leben. Kein Streik würde<lb/> helfen, die Arbeiterrechte zu wahren, man ließe uns ein-<lb/> fach hungern, bis wir zu Kreuze kröchen, Bajonette und<lb/> Maſchinengewehre würden nachhelfen. Aus Deutſchland<lb/> würde ein Irland mit induſtriellem Einſchlag werden. Es<lb/> muß alſo etwas geſchehen, daß der ſtändige Niedergang<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [181/0003]
16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Aufbau.
Von Staatsminiſter Graepel in Oldenburg.
I.
Die Hoffnungen, die ſich an den Friedensſchluß knüpf-
ten, haben ſich nicht erfüllt: Wer an einen ſofortigen Beginn
des Aufſtieges glaubte, war auch zu hoffnungsfreudig, ohne
krampfartige Zuckungen konnte eine ſolche Erſchütterung
der Volksſeele nicht zum Ausgleich kommen. Daß wir aber
nach anderthalb Jahren ſo zerrüttet ſein würden, wie wir
es ſind, hat niemand erwartet, und hätte nicht einzutreten
brauchen. Wir müſſen den Gründen nachgehen und Hand
ans Werk legen, ſie zu beſeitigen.
Sie ſind völklicher, politiſcher und wirtſchaftlicher Art
und hängen eng zuſammen. Daß die neue Zeit den ſozialen
Forderungen Rechnung trug, war gegeben und iſt gut. Jeder
Stand muß an kulturellen und materiellen Gütern ſoviel
erhalten, wie mit dem Gedeihen des Ganzen irgend vereinbar
iſt; dies iſt die Grenze, denn wenn das Ganze nicht gedeiht,
kann es auch dem einzelnen auf die Dauer nicht gut gehen.
Die politiſche Entwicklung mußte freiheitlich gerichtet ſein
und mit der Begünſtigung einzelner Stände und Klaſſen
aufräumen. Die Staatsform ſcheidet bei dieſer Betrachtung
aus. Wir hatten die Monarchie und kennen ihre Vorzüge
und Schwächen; wir haben die Republik und werden ſehen,
was ſie uns bringt. Beide müſſen daran gemeſſen werden,
was ſie für das Volkswohl zu leiſten vermögen. Jetzt er-
leben wir den Zuſammenſtoß der Gegenſätze. Ohne Kampf
geht es nicht ab, Späne müſſen fliegen, aber der Volks-
freund muß wünſchen, daß das Bittere, das uns nicht er-
ſpart werden kann, auf das geringſtmögliche Maß be-
ſchränkt bleibe. Dies Maß wird weit überſchritten. Jeder
Kampf ſallte ritterlich ausgefochten werden, am meiſten
aber der unter Volksgenoſſen. Es ſollte nicht vergeſſen
werden, daß wir alle Söhne einer Mutter ſind. Man ſollte
ſich nicht gegenſeitig den guten Glauben abſprechen. Aller-
dings iſt die Anſtachelung der Leidenſchaften ein wirkſames
Kampfmittel, aber auch dies hat ſeine Grenzen. Es gibt
weite Volksſchichten, denen der gehäſſige, politiſche Kampf
zuwider iſt. Es ſind die Stillen im Lande, aber auch ſie
führen ihren Stimmzettel. Sie ſollen und werden ſich rühren
gegen die, denen die Parteiintereſſen höherſtehen als das
Wohl des Ganzen.
Für den ſozialen Aufbau war es verhängnisvoll, daß
die zur Führung berufene Sozialdemokratie mit den For-
derungen aus der Zeit, wo ſie eine rein oppoſitionelle
Kampfpartei war (Minimum an Arbeit, Verwerfung des
Stücklohns, Klaſſengegenſatz), behaftet war. Es ſoll den
Mehrheitsſozialiſten nicht vergeſſen ſein, daß ſie als Regie-
rungspartei ſtaatsmänniſch genug waren, hiervon ein
gutes Teil zu opfern und den Kampf mit den Unentwegten
aufzunehmen. Aber die Geiſter, die ſie gerufen hatten,
wurden ſie nicht los. Ihre guten Regierungsgrundſätze
kreuzten ſich mit ihren Parteiintereſſen. Es begann das
Ringen mit den Radikalen um die Gefolgſchaft. Hierin lag
das Hemmnis für die Entwicklung einer Arbeiterpartei,
die ihre Intereſſen als ein Glied des Ganzen verfolgt.
Nun iſt auch noch der unglückſelige Kapp-Putſch wie ein
Meltau auf die zarte Pflanze gefallen. Der Ruck nach
links hat die Mehrheitsſozialdemokratie mit ſich geriſſen,
die radikalere Richtung hat Abwaſſer bekommen und die
Regierungsmänner ſind gefolgt.
Wie ein Pfahl ſteckt in unſerem Fleiſch der Kommunis-
mus. Mit der kommuniſtiſchen Lehre hat die Partei wenig
zu tun, dieſe iſt den meiſten Genoſſen wohl kaum bekannt.
Wie regelmäßig, wenn die Leidenſchaften entflammt ſind,
wird hier eine radikale Richtung von einer noch radikaleren
überboten. Hierzu kam das ruſſiſche Gift. Aus dieſen trüben
Quellen entſprang eine reine Umſturzpartei, gerichtet auf
unbedingte Klaſſenherrſchaft, kämpfend mit allen Mitteln
der Entſtellung, Verhetzung und rückſichtsloſen Gewalt,
ausgerüſtet mit Waffen aller Art, geführt von geſchickten,
zielbewußten und bedenkenloſen Agitatoren. Sie will den
Bürgerkrieg und hat ihn in dem empfindlichſten Gebiet
unſeres Vaterlandes entfeſſelt. Ihrer Entſchloſſenheit und
hinreißenden Kraft ſtehen auf der Ordnungsſeite Bedenk-
lichkeit und gegenſeitiges Mißtrauen gegenüber.
Auf dieſem politiſchen Boden könnte die Volkswirt-
ſchaft nicht einmal gedeihen, wenn alle übrigen Bedingun-
gen günſtig wären. Bei uns gibt es nur ungünſtige Be-
dingungen. Große Gebiete mit wichtigſter Gütererzeugung
ſind uns entriſſen, die Zuführung von Rohſtoffen aus dem
Ausland iſt unterbunden, die Produktionsform für ver-
ſchiedene Güter bedeutendſter Art iſt in einer Umbildung
begriffen, unſere Handelsflotte iſt uns zum größten Teil
geraubt, unſere überſeeiſchen Verbindungen ſind vernichtet.
unſer Kredit iſt verſchwunden, die Stellung der Unterneh-
mer iſt erſchüttert, unſere Arbeiterſchaft politiſiert. Der
Krieg, der Friedensſchluß und die Revolution haben uns
eine ungeheuerliche Schuldenlaſt auferlegt, das mobile
Volksvermögen iſt zum größten Teil aufgezehrt, auch das
immobile fängt in bedenklichem Maße an, uns zu ent-
gleiten, die Staatsmittel müſſen faſt ganz in der unwirt-
ſchaftlichſten Form, durch ungedeckte Notenausgabe, beſchafft
werden, unſere Valuta wird im Auslande zeitweilig faſt
mit Null bewertet, die Teuerung iſt unerhört und wächſt
raſch. Sie muß wachſen, weil viel mehr verbraucht als er-
zeugt wird und weil das Valutaelend und der Warenmangel
dem Schiebertum und der Auswucherung Tür und Tor
öffnen. Die Teuerung zerrüttet unſer ganzes Wirtſchafts-
leben. Es herrſcht ein wildes Kämpfen um Lohn und Ge-
halt. Arbeiter und Beamte erzwingen ſich, was ſie zum
Leben nötig haben, die Produzenten, Händler und Hand-
werker machen entſprechende Preisaufſchläge, das eine
treibt das andere. Wer ſein Einkommen nicht erhöhen
kann, ſteht einer verzweifelten Lage gegenüber. Der Staat,
der ſelbſt nichts hat, ſoll helfen. Er kann es nicht; ſollte
er es dennoch unternehmen, kann der Staatsbankerott
nicht ausbleiben.
Zugleich geben ſich viele Leute einem unvernünftigen
Luxus hin, nicht nur die Kriegs- und Revolutionsgewinn-
ler, ſondern auch andere, die ein erhöhtes Einkommen be-
ziehen. Vielfach werden die Anſprüche an Lebensgenuß viel
höher geſtellt als im Frieden, die Erzwingung der ent-
ſprechend berechneten Lohnforderungen ermöglicht es, für
Vergnügungen und entbehrliche Genußmittel viel mehr aus-
zugeben als früher. Kinos und Kabaretts wachſen wie
Pilze aus dem Boden, entbehrliche Genußmittel und Luxus-
artikel werden maſſenhaft aus dem Auslande eingeführt.
Gegen Schokolade und Zigaretten tauſchen wir nötige
Lebensmittel, Grundbeſitz und induſtrielle Anlagen aus.
Dieſe Andeutungen bieten nichts Neues und ſollen nur
die Unterlage für die Fragen bilden: Was tun wir, um
uns aus dieſer elenden Lage herauszuarbeiten? Was ſollten
wir hierfür tun? Die zweite Frage muß geſtellt werden.
weil die Antwort auf die erſte lautet: „Nichts oder wenig-
ſtens ſo gut wie nichts“. Denn die an ſich anerkennens-
werten Einzelbeſtrebungen ſind für ſich allein unzureichend.
einem Elend von ſo grenzenloſem Umfang und ſo verzwei-
felter Intenſität abzuhelfen. Auch die Beruhigungspaſtille,
es handle ſich um eine Volkskrankheit, die ausraſen werde,
und nach eingetretener Geneſung werde das an ſich tüchtige
deutſche Volk ſich ſchon wieder emporarbeiten, kann nicht
befriedigen. Geneſen wird es einmal, aber wenn dies nicht
bald geſchieht, es könnte auf einem Trümmerhaufen und
einem Kirchhof ſtehen. Unſere Feinde würden die politiſchen
und wirtſchaftlichen Herren im Lande ſein, für ſie würden
wir arbeiten müſſen, um zu leben. Kein Streik würde
helfen, die Arbeiterrechte zu wahren, man ließe uns ein-
fach hungern, bis wir zu Kreuze kröchen, Bajonette und
Maſchinengewehre würden nachhelfen. Aus Deutſchland
würde ein Irland mit induſtriellem Einſchlag werden. Es
muß alſo etwas geſchehen, daß der ſtändige Niedergang
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(2023-04-24T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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