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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920.

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Allgemeine Zeitung 9. Mai 1920
[Spaltenumbruch] tums und der Volkswirtschaft --, solange ist es unbedingte
Pflicht, den politischen Einfluß auszuüben, den die Verfas-
sung jedem Deutschen zuerkennt. Und das kann nur durch
den Anschluß an eine Partei geschehen. Die Unfreiheit des
Herdentums, die dieser Anschluß mit sich bringt, muß eben
getragen werden. Es ist gewiß unerfreulich, daß, wer wählen
will, eine Liste wählen muß, auf der die Namen von Per-
sönlichkeiten stehen, die ihm vielleicht unerträglich erschei-
nen, denn auch wer auf seinen Wahlzettel nur einen ein-
zigen Namen setzt, wozu er das Recht hat, wählt damit die
ganze Liste, der der betreffende Name entnommen ist, und
ein Name, der nicht in einer der Listen steht, darf selbst-
verständlich nicht auf einen Stimmzettel gesetzt werden. An
und für sich ist ja wohl die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe
von 20 Unterschriften einen Namen auf einen Reichswahl-
vorschlag zu setzen, diesen selben Namen mit Hilfe von je
50 Wählern auf eine Reihe von Kreisvorschlägen zu bringen
und auf diese Weise in einem größeren Gebiet die mehr als
30,000 Stimmen aufzubringen, die für eine Wahl auf Grund
des Reichswahlvorschlages ausreichen können. Aber wirk-
liche Macht verleiht selbstverständlich auch ein solcher ein-
zelner Vertrauensmann nicht, sie kann vielmehr einzig und
allein durch die Mitarbeit in und an einer großen Partei
ausgeübt werden.

Das ist eine Wahrheit, von der sich das deutsche Volk,
insbesondere auch in seinen gebildetsten Kreisen, im Hinblick
auf die bevorstehende Reichstagswahl durchdringen lassen
sollte. Auch die Wahl der Partei hat heutzutage sicherlich
ihre Qual. Aber die Zeit, in der wir leben, ist zu ernst,
als daß man derlei Entscheidungen mit der Empfindlichkeit
eines politischen und ästhetischen Feinschmeckers treffen
dürfte. Und wenn es z. B. in Amerika so weit gekommen
ist, daß an dem ausschließlich in die Parteihände über-
gegangenen politischen Leben ein ausgesprochener Makel
haftet, so ist es um so mehr Pflicht der Männer und Frauen,
die Sinn für saubere Hände und reine Wäsche haben, unser
politisches Leben nach Kräften von dem Einlenken in diese
amerikanischen Gleise zurückzuhalten.

Die im Wahlgesetz vorgesehenen Termine rücken rasch
heran. Spätestens am 8. Mai müssen die Wählerlisten oder
Wahlkarteien öffentlich ausgelegt werden, und zwar auf
8 Tage; am 22. Mai ist die Frist zur Anbringung von Ein-
sprüchen und ihrer Erledigung abgelaufen. Die Kreiswahl-
vorschläge müssen spätestens am 16. Mai, die Reichswahlvor-
schläge spätestens am 21. Mai beim Kreiswahlleiter bzw.
beim Reichswahlleiter eingereicht sein, und zwar mit den
Zustimmungserklärungen der Kandidaten, die auch telegra-
phisch eingehen können, aber spätestens am zweiten Tage nach
Ablauf der Frist schriftlich bestätigt sein müssen; die Er-
klärung über die Listenverbindung muß spätestens am
23. Mai, die Erklärung darüber, ob die Reststimmen eines
Kreiswahlvorschlages einem Reichswahlvorschlag zugerechnet
werden sollen, spätestens am 27. Mai abgegeben sein. Der
überaus bedauerlichen Tatsache, daß die Abstimmungsgebiete,
und zwar gleichviel ob die Abstimmung bereits vollzogen ist
oder nicht, ihr Wahlrecht zurzeit nicht ausüben können, ist
dadurch Rechnung getragen, daß die Reichstagswahl für Ost-
preußen, Oberschlesien und Schleswig-Holstein auf unbe-
stimmte Zeit verschoben ist; bis dahin gelten die in den be-
treffenden Gebieten gewählten Abgeordneten zur National-
versammlung als Mitglieder des Reichstags. Für den weder
an Polen noch an den Freistaat Danzig gefallenen östlich
der Weichsel gelegenen Teil Westpreußens werden den beiden
Wahlvorschlägen, die bei der Wahl zur Nationalversammlung
in diesem Gebiete die meisten Stimmen erhalten haben, je
ein Abgeordnetensitz zugeteilt. Der Ausnahmecharakter die-
ser Maßnahmen macht ohne weiteres klar, daß es doch viel
für sich gehabt hätte, die Reichstagswahlen solange hinaus-
zuschieben, bis die Abstimmungen alle erledigt waren. Aber
erst konnten den Rechtsparteien, dann den Linksparteien die
Wahlen nicht rasch genug vorgenommen werden; in beiden
Fällen haben die Beschleuniger auf keiner höheren Warte
gestanden als auf den Zinnen der Partei.



[Spaltenumbruch]
Kunst und Literatur
Thomas Mann.
(Schluß.)

Thomas Manns Natur konnte nicht schnellfertiger Pro-
duktion anheimfallen. Restloses Verantwortungsgefühl für
jedes Wort einte sich ererbter Gewissenhaftigkeit, peinlich-
stem künstlerischen Empfinden, vermehrte die Verpflichtung
zum subtilsten Fleiß, zu zähester Geduld, verlangsamte das
Tempo des Fertigwerdens und erhöhte dauernd die pein-
volle, ungeheure, vom Leben abtrennende Schaffensqual.
Dieser Dichter war nicht ein Mann der Phantasie, sondern
ein Mensch des wirklichen Lebens, er strebte nicht nach
irgendwelchen Erfindungen, sondern nach tieferer Lebens-
erkenntnis und -offenbarung, stets Künstler und stets wahr-
haftig zu sein, war sein Ziel. Das ästhetische Problem ver-
mählte sich ihm mit dem ethischen. Schon in den Novellen
"Tristan" (1903) und in den drei Akten "Fiorenza"
(1906), vollends aber im nächsten Roman "Königliche
Hoheit" (1909). Es war ein stetes Gerichtstaghalten über
das eigene Ich: im "Tristan" in besonders deutlicher Schärfe
über einen "argen Teil" seiner selbst, über jenes Aestheten-
tum, jene erstorbene Künstlichkeit, in der er selbst die Ge-
fahr der Gefahren sah, mit der Gestalt des Vetlef Spinell,
zu der die Welt der gesunden Bürgerlichkeit sympathisch
kontrastiert wurde, im "Tonio Kriger" noch tiefer sich
eingrabend in die subjektive Schaffens- und Lebensnot mit
dem offenen, einen Teil von Thomas Manns Wesen, mit
leiser Selbstironie enthüllendem Resultat. "Das Gefühl, das
warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar.
Künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen
unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems.
Es ist nötig, daß man irgend etwas Außerordentliches und
Unmenschliches sei, daß man zum Menschlichen in einem
seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um im-
stande und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit
zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen. Es
ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu
empfinden beginnt." Im "Tobias Mindermickel" und im
"Weg zum Friedhof" sammelt sich dieses Gefühl des Ver-
fluchtseins dann zum bitteren, grausamen Gelächter, zum
Haß des vom Leben Ausgestoßenen auf alles gesunde Leben
und dessen Träger, und im "Gladius dei" zum Zweifel, ob
Schönheit wirklich jenseits von Gut und Böse sei, ob das
Prinzip des l'art pour l'art wirklich alleinigen Lebens-
inhalt bilden könne. Die drei durchaus episch gestalteten
Akte der "Fiorenza" werden dann zum großartigen
Kampf um den Inbegriff alles Lebens überhaupt. Bei
nebensächlicher, unbedeutender Handlung und scharfer Zu-
spitzung des Geisteskampfes, mit Vorführung eines großen
Ensembles des Renaissanceflorenz gestaltete der Dichter
seine Weltanschauungslage: er focht für den ethischen Wert
der ästhetischen Lebensanschauung nicht als Künstler, son-
dern als Mensch, und mußte den Streit unentschieden lassen,
wenn auch Lorenzo Magnifico vor Saconorala im Werben
um die üppig schöne Fiore, die Inkarnation der Amorstadt,
weichen muß. Ganz im Individuum sah Thomas Mann
diesen Kampf begrüdet, und wenn er unentschieden blieb,
bedeutete es für ihn eine Not des individuellen Lebens
im nächsten Werk "Königliche Hoheit" wurde sie
zum Thema: "Die anspielungsreiche Analyse des fürstlichen
Daseins als eines formalen, unsachlichen. übersachlichen,
mit einem Wort artistischen Daseins und die Erlösung der
Hoheit durch die Liebe: das ist der Inhalt meines Romans,
und voller Sympathie für jede Art "Sonderfall" predigt
er Menschlichkeit ... In dem Schicksal meiner drei fürst-
lichen Geschwister Albrechts, Klaus Heinrichs und Dietlin-
dens malt sich symbolisch die Krise des Individualismus,
in der wir stehen, jene geistige Wendung zum Demokrati-
schen, zur Gemeinsamkeit, zum Anschluß, zur Liebe, die

Allgemeine Zeitung 9. Mai 1920
[Spaltenumbruch] tums und der Volkswirtſchaft —, ſolange iſt es unbedingte
Pflicht, den politiſchen Einfluß auszuüben, den die Verfaſ-
ſung jedem Deutſchen zuerkennt. Und das kann nur durch
den Anſchluß an eine Partei geſchehen. Die Unfreiheit des
Herdentums, die dieſer Anſchluß mit ſich bringt, muß eben
getragen werden. Es iſt gewiß unerfreulich, daß, wer wählen
will, eine Liſte wählen muß, auf der die Namen von Per-
ſönlichkeiten ſtehen, die ihm vielleicht unerträglich erſchei-
nen, denn auch wer auf ſeinen Wahlzettel nur einen ein-
zigen Namen ſetzt, wozu er das Recht hat, wählt damit die
ganze Liſte, der der betreffende Name entnommen iſt, und
ein Name, der nicht in einer der Liſten ſteht, darf ſelbſt-
verſtändlich nicht auf einen Stimmzettel geſetzt werden. An
und für ſich iſt ja wohl die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe
von 20 Unterſchriften einen Namen auf einen Reichswahl-
vorſchlag zu ſetzen, dieſen ſelben Namen mit Hilfe von je
50 Wählern auf eine Reihe von Kreisvorſchlägen zu bringen
und auf dieſe Weiſe in einem größeren Gebiet die mehr als
30,000 Stimmen aufzubringen, die für eine Wahl auf Grund
des Reichswahlvorſchlages ausreichen können. Aber wirk-
liche Macht verleiht ſelbſtverſtändlich auch ein ſolcher ein-
zelner Vertrauensmann nicht, ſie kann vielmehr einzig und
allein durch die Mitarbeit in und an einer großen Partei
ausgeübt werden.

Das iſt eine Wahrheit, von der ſich das deutſche Volk,
insbeſondere auch in ſeinen gebildetſten Kreiſen, im Hinblick
auf die bevorſtehende Reichstagswahl durchdringen laſſen
ſollte. Auch die Wahl der Partei hat heutzutage ſicherlich
ihre Qual. Aber die Zeit, in der wir leben, iſt zu ernſt,
als daß man derlei Entſcheidungen mit der Empfindlichkeit
eines politiſchen und äſthetiſchen Feinſchmeckers treffen
dürfte. Und wenn es z. B. in Amerika ſo weit gekommen
iſt, daß an dem ausſchließlich in die Parteihände über-
gegangenen politiſchen Leben ein ausgeſprochener Makel
haftet, ſo iſt es um ſo mehr Pflicht der Männer und Frauen,
die Sinn für ſaubere Hände und reine Wäſche haben, unſer
politiſches Leben nach Kräften von dem Einlenken in dieſe
amerikaniſchen Gleiſe zurückzuhalten.

Die im Wahlgeſetz vorgeſehenen Termine rücken raſch
heran. Späteſtens am 8. Mai müſſen die Wählerliſten oder
Wahlkarteien öffentlich ausgelegt werden, und zwar auf
8 Tage; am 22. Mai iſt die Friſt zur Anbringung von Ein-
ſprüchen und ihrer Erledigung abgelaufen. Die Kreiswahl-
vorſchläge müſſen ſpäteſtens am 16. Mai, die Reichswahlvor-
ſchläge ſpäteſtens am 21. Mai beim Kreiswahlleiter bzw.
beim Reichswahlleiter eingereicht ſein, und zwar mit den
Zuſtimmungserklärungen der Kandidaten, die auch telegra-
phiſch eingehen können, aber ſpäteſtens am zweiten Tage nach
Ablauf der Friſt ſchriftlich beſtätigt ſein müſſen; die Er-
klärung über die Liſtenverbindung muß ſpäteſtens am
23. Mai, die Erklärung darüber, ob die Reſtſtimmen eines
Kreiswahlvorſchlages einem Reichswahlvorſchlag zugerechnet
werden ſollen, ſpäteſtens am 27. Mai abgegeben ſein. Der
überaus bedauerlichen Tatſache, daß die Abſtimmungsgebiete,
und zwar gleichviel ob die Abſtimmung bereits vollzogen iſt
oder nicht, ihr Wahlrecht zurzeit nicht ausüben können, iſt
dadurch Rechnung getragen, daß die Reichstagswahl für Oſt-
preußen, Oberſchleſien und Schleswig-Holſtein auf unbe-
ſtimmte Zeit verſchoben iſt; bis dahin gelten die in den be-
treffenden Gebieten gewählten Abgeordneten zur National-
verſammlung als Mitglieder des Reichstags. Für den weder
an Polen noch an den Freiſtaat Danzig gefallenen öſtlich
der Weichſel gelegenen Teil Weſtpreußens werden den beiden
Wahlvorſchlägen, die bei der Wahl zur Nationalverſammlung
in dieſem Gebiete die meiſten Stimmen erhalten haben, je
ein Abgeordnetenſitz zugeteilt. Der Ausnahmecharakter die-
ſer Maßnahmen macht ohne weiteres klar, daß es doch viel
für ſich gehabt hätte, die Reichstagswahlen ſolange hinaus-
zuſchieben, bis die Abſtimmungen alle erledigt waren. Aber
erſt konnten den Rechtsparteien, dann den Linksparteien die
Wahlen nicht raſch genug vorgenommen werden; in beiden
Fällen haben die Beſchleuniger auf keiner höheren Warte
geſtanden als auf den Zinnen der Partei.



[Spaltenumbruch]
Kunſt und Literatur
Thomas Mann.
(Schluß.)

Thomas Manns Natur konnte nicht ſchnellfertiger Pro-
duktion anheimfallen. Reſtloſes Verantwortungsgefühl für
jedes Wort einte ſich ererbter Gewiſſenhaftigkeit, peinlich-
ſtem künſtleriſchen Empfinden, vermehrte die Verpflichtung
zum ſubtilſten Fleiß, zu zäheſter Geduld, verlangſamte das
Tempo des Fertigwerdens und erhöhte dauernd die pein-
volle, ungeheure, vom Leben abtrennende Schaffensqual.
Dieſer Dichter war nicht ein Mann der Phantaſie, ſondern
ein Menſch des wirklichen Lebens, er ſtrebte nicht nach
irgendwelchen Erfindungen, ſondern nach tieferer Lebens-
erkenntnis und -offenbarung, ſtets Künſtler und ſtets wahr-
haftig zu ſein, war ſein Ziel. Das äſthetiſche Problem ver-
mählte ſich ihm mit dem ethiſchen. Schon in den Novellen
Triſtan“ (1903) und in den drei Akten „Fiorenza
(1906), vollends aber im nächſten Roman „Königliche
Hoheit“ (1909). Es war ein ſtetes Gerichtstaghalten über
das eigene Ich: im „Triſtan“ in beſonders deutlicher Schärfe
über einen „argen Teil“ ſeiner ſelbſt, über jenes Aeſtheten-
tum, jene erſtorbene Künſtlichkeit, in der er ſelbſt die Ge-
fahr der Gefahren ſah, mit der Geſtalt des Vetlef Spinell,
zu der die Welt der geſunden Bürgerlichkeit ſympathiſch
kontraſtiert wurde, im „Tonio Kriger“ noch tiefer ſich
eingrabend in die ſubjektive Schaffens- und Lebensnot mit
dem offenen, einen Teil von Thomas Manns Weſen, mit
leiſer Selbſtironie enthüllendem Reſultat. „Das Gefühl, das
warme, herzliche Gefühl iſt immer banal und unbrauchbar.
Künſtleriſch ſind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekſtaſen
unſeres verdorbenen, unſeres artiſtiſchen Nervenſyſtems.
Es iſt nötig, daß man irgend etwas Außerordentliches und
Unmenſchliches ſei, daß man zum Menſchlichen in einem
ſeltſam fernen und unbeteiligten Verhältnis ſtehe, um im-
ſtande und überhaupt verſucht zu ſein, es zu ſpielen, damit
zu ſpielen, es wirkſam und geſchmackvoll darzuſtellen. Es
iſt aus mit dem Künſtler, ſobald er Menſch wird und zu
empfinden beginnt.“ Im „Tobias Mindermickel“ und im
„Weg zum Friedhof“ ſammelt ſich dieſes Gefühl des Ver-
fluchtſeins dann zum bitteren, grauſamen Gelächter, zum
Haß des vom Leben Ausgeſtoßenen auf alles geſunde Leben
und deſſen Träger, und im „Gladius dei“ zum Zweifel, ob
Schönheit wirklich jenſeits von Gut und Böſe ſei, ob das
Prinzip des l’art pour l’art wirklich alleinigen Lebens-
inhalt bilden könne. Die drei durchaus epiſch geſtalteten
Akte der „Fiorenza“ werden dann zum großartigen
Kampf um den Inbegriff alles Lebens überhaupt. Bei
nebenſächlicher, unbedeutender Handlung und ſcharfer Zu-
ſpitzung des Geiſteskampfes, mit Vorführung eines großen
Enſembles des Renaiſſanceflorenz geſtaltete der Dichter
ſeine Weltanſchauungslage: er focht für den ethiſchen Wert
der äſthetiſchen Lebensanſchauung nicht als Künſtler, ſon-
dern als Menſch, und mußte den Streit unentſchieden laſſen,
wenn auch Lorenzo Magnifico vor Saconorala im Werben
um die üppig ſchöne Fiore, die Inkarnation der Amorſtadt,
weichen muß. Ganz im Individuum ſah Thomas Mann
dieſen Kampf begrüdet, und wenn er unentſchieden blieb,
bedeutete es für ihn eine Not des individuellen Lebens
im nächſten Werk „Königliche Hoheit“ wurde ſie
zum Thema: „Die anſpielungsreiche Analyſe des fürſtlichen
Daſeins als eines formalen, unſachlichen. überſachlichen,
mit einem Wort artiſtiſchen Daſeins und die Erlöſung der
Hoheit durch die Liebe: das iſt der Inhalt meines Romans,
und voller Sympathie für jede Art „Sonderfall“ predigt
er Menſchlichkeit ... In dem Schickſal meiner drei fürſt-
lichen Geſchwiſter Albrechts, Klaus Heinrichs und Dietlin-
dens malt ſich ſymboliſch die Kriſe des Individualismus,
in der wir ſtehen, jene geiſtige Wendung zum Demokrati-
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[174/0004] Allgemeine Zeitung 9. Mai 1920 tums und der Volkswirtſchaft —, ſolange iſt es unbedingte Pflicht, den politiſchen Einfluß auszuüben, den die Verfaſ- ſung jedem Deutſchen zuerkennt. Und das kann nur durch den Anſchluß an eine Partei geſchehen. Die Unfreiheit des Herdentums, die dieſer Anſchluß mit ſich bringt, muß eben getragen werden. Es iſt gewiß unerfreulich, daß, wer wählen will, eine Liſte wählen muß, auf der die Namen von Per- ſönlichkeiten ſtehen, die ihm vielleicht unerträglich erſchei- nen, denn auch wer auf ſeinen Wahlzettel nur einen ein- zigen Namen ſetzt, wozu er das Recht hat, wählt damit die ganze Liſte, der der betreffende Name entnommen iſt, und ein Name, der nicht in einer der Liſten ſteht, darf ſelbſt- verſtändlich nicht auf einen Stimmzettel geſetzt werden. An und für ſich iſt ja wohl die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe von 20 Unterſchriften einen Namen auf einen Reichswahl- vorſchlag zu ſetzen, dieſen ſelben Namen mit Hilfe von je 50 Wählern auf eine Reihe von Kreisvorſchlägen zu bringen und auf dieſe Weiſe in einem größeren Gebiet die mehr als 30,000 Stimmen aufzubringen, die für eine Wahl auf Grund des Reichswahlvorſchlages ausreichen können. Aber wirk- liche Macht verleiht ſelbſtverſtändlich auch ein ſolcher ein- zelner Vertrauensmann nicht, ſie kann vielmehr einzig und allein durch die Mitarbeit in und an einer großen Partei ausgeübt werden. Das iſt eine Wahrheit, von der ſich das deutſche Volk, insbeſondere auch in ſeinen gebildetſten Kreiſen, im Hinblick auf die bevorſtehende Reichstagswahl durchdringen laſſen ſollte. Auch die Wahl der Partei hat heutzutage ſicherlich ihre Qual. Aber die Zeit, in der wir leben, iſt zu ernſt, als daß man derlei Entſcheidungen mit der Empfindlichkeit eines politiſchen und äſthetiſchen Feinſchmeckers treffen dürfte. Und wenn es z. B. in Amerika ſo weit gekommen iſt, daß an dem ausſchließlich in die Parteihände über- gegangenen politiſchen Leben ein ausgeſprochener Makel haftet, ſo iſt es um ſo mehr Pflicht der Männer und Frauen, die Sinn für ſaubere Hände und reine Wäſche haben, unſer politiſches Leben nach Kräften von dem Einlenken in dieſe amerikaniſchen Gleiſe zurückzuhalten. Die im Wahlgeſetz vorgeſehenen Termine rücken raſch heran. Späteſtens am 8. Mai müſſen die Wählerliſten oder Wahlkarteien öffentlich ausgelegt werden, und zwar auf 8 Tage; am 22. Mai iſt die Friſt zur Anbringung von Ein- ſprüchen und ihrer Erledigung abgelaufen. Die Kreiswahl- vorſchläge müſſen ſpäteſtens am 16. Mai, die Reichswahlvor- ſchläge ſpäteſtens am 21. Mai beim Kreiswahlleiter bzw. beim Reichswahlleiter eingereicht ſein, und zwar mit den Zuſtimmungserklärungen der Kandidaten, die auch telegra- phiſch eingehen können, aber ſpäteſtens am zweiten Tage nach Ablauf der Friſt ſchriftlich beſtätigt ſein müſſen; die Er- klärung über die Liſtenverbindung muß ſpäteſtens am 23. Mai, die Erklärung darüber, ob die Reſtſtimmen eines Kreiswahlvorſchlages einem Reichswahlvorſchlag zugerechnet werden ſollen, ſpäteſtens am 27. Mai abgegeben ſein. Der überaus bedauerlichen Tatſache, daß die Abſtimmungsgebiete, und zwar gleichviel ob die Abſtimmung bereits vollzogen iſt oder nicht, ihr Wahlrecht zurzeit nicht ausüben können, iſt dadurch Rechnung getragen, daß die Reichstagswahl für Oſt- preußen, Oberſchleſien und Schleswig-Holſtein auf unbe- ſtimmte Zeit verſchoben iſt; bis dahin gelten die in den be- treffenden Gebieten gewählten Abgeordneten zur National- verſammlung als Mitglieder des Reichstags. Für den weder an Polen noch an den Freiſtaat Danzig gefallenen öſtlich der Weichſel gelegenen Teil Weſtpreußens werden den beiden Wahlvorſchlägen, die bei der Wahl zur Nationalverſammlung in dieſem Gebiete die meiſten Stimmen erhalten haben, je ein Abgeordnetenſitz zugeteilt. Der Ausnahmecharakter die- ſer Maßnahmen macht ohne weiteres klar, daß es doch viel für ſich gehabt hätte, die Reichstagswahlen ſolange hinaus- zuſchieben, bis die Abſtimmungen alle erledigt waren. Aber erſt konnten den Rechtsparteien, dann den Linksparteien die Wahlen nicht raſch genug vorgenommen werden; in beiden Fällen haben die Beſchleuniger auf keiner höheren Warte geſtanden als auf den Zinnen der Partei. HD. Kunſt und Literatur Thomas Mann. Von Hanns Martin Elſter. (Schluß.) Thomas Manns Natur konnte nicht ſchnellfertiger Pro- duktion anheimfallen. Reſtloſes Verantwortungsgefühl für jedes Wort einte ſich ererbter Gewiſſenhaftigkeit, peinlich- ſtem künſtleriſchen Empfinden, vermehrte die Verpflichtung zum ſubtilſten Fleiß, zu zäheſter Geduld, verlangſamte das Tempo des Fertigwerdens und erhöhte dauernd die pein- volle, ungeheure, vom Leben abtrennende Schaffensqual. Dieſer Dichter war nicht ein Mann der Phantaſie, ſondern ein Menſch des wirklichen Lebens, er ſtrebte nicht nach irgendwelchen Erfindungen, ſondern nach tieferer Lebens- erkenntnis und -offenbarung, ſtets Künſtler und ſtets wahr- haftig zu ſein, war ſein Ziel. Das äſthetiſche Problem ver- mählte ſich ihm mit dem ethiſchen. Schon in den Novellen „Triſtan“ (1903) und in den drei Akten „Fiorenza“ (1906), vollends aber im nächſten Roman „Königliche Hoheit“ (1909). Es war ein ſtetes Gerichtstaghalten über das eigene Ich: im „Triſtan“ in beſonders deutlicher Schärfe über einen „argen Teil“ ſeiner ſelbſt, über jenes Aeſtheten- tum, jene erſtorbene Künſtlichkeit, in der er ſelbſt die Ge- fahr der Gefahren ſah, mit der Geſtalt des Vetlef Spinell, zu der die Welt der geſunden Bürgerlichkeit ſympathiſch kontraſtiert wurde, im „Tonio Kriger“ noch tiefer ſich eingrabend in die ſubjektive Schaffens- und Lebensnot mit dem offenen, einen Teil von Thomas Manns Weſen, mit leiſer Selbſtironie enthüllendem Reſultat. „Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl iſt immer banal und unbrauchbar. Künſtleriſch ſind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekſtaſen unſeres verdorbenen, unſeres artiſtiſchen Nervenſyſtems. Es iſt nötig, daß man irgend etwas Außerordentliches und Unmenſchliches ſei, daß man zum Menſchlichen in einem ſeltſam fernen und unbeteiligten Verhältnis ſtehe, um im- ſtande und überhaupt verſucht zu ſein, es zu ſpielen, damit zu ſpielen, es wirkſam und geſchmackvoll darzuſtellen. Es iſt aus mit dem Künſtler, ſobald er Menſch wird und zu empfinden beginnt.“ Im „Tobias Mindermickel“ und im „Weg zum Friedhof“ ſammelt ſich dieſes Gefühl des Ver- fluchtſeins dann zum bitteren, grauſamen Gelächter, zum Haß des vom Leben Ausgeſtoßenen auf alles geſunde Leben und deſſen Träger, und im „Gladius dei“ zum Zweifel, ob Schönheit wirklich jenſeits von Gut und Böſe ſei, ob das Prinzip des l’art pour l’art wirklich alleinigen Lebens- inhalt bilden könne. Die drei durchaus epiſch geſtalteten Akte der „Fiorenza“ werden dann zum großartigen Kampf um den Inbegriff alles Lebens überhaupt. Bei nebenſächlicher, unbedeutender Handlung und ſcharfer Zu- ſpitzung des Geiſteskampfes, mit Vorführung eines großen Enſembles des Renaiſſanceflorenz geſtaltete der Dichter ſeine Weltanſchauungslage: er focht für den ethiſchen Wert der äſthetiſchen Lebensanſchauung nicht als Künſtler, ſon- dern als Menſch, und mußte den Streit unentſchieden laſſen, wenn auch Lorenzo Magnifico vor Saconorala im Werben um die üppig ſchöne Fiore, die Inkarnation der Amorſtadt, weichen muß. Ganz im Individuum ſah Thomas Mann dieſen Kampf begrüdet, und wenn er unentſchieden blieb, bedeutete es für ihn eine Not des individuellen Lebens im nächſten Werk „Königliche Hoheit“ wurde ſie zum Thema: „Die anſpielungsreiche Analyſe des fürſtlichen Daſeins als eines formalen, unſachlichen. überſachlichen, mit einem Wort artiſtiſchen Daſeins und die Erlöſung der Hoheit durch die Liebe: das iſt der Inhalt meines Romans, und voller Sympathie für jede Art „Sonderfall“ predigt er Menſchlichkeit ... In dem Schickſal meiner drei fürſt- lichen Geſchwiſter Albrechts, Klaus Heinrichs und Dietlin- dens malt ſich ſymboliſch die Kriſe des Individualismus, in der wir ſtehen, jene geiſtige Wendung zum Demokrati- ſchen, zur Gemeinſamkeit, zum Anſchluß, zur Liebe, die

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1920/4>, abgerufen am 17.06.2024.