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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 1. Mai 1915.

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1. Mai 1915. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] noch in der Walküre, wo ihn eben nach einem prächtigen
Anfang im ersten Akt diese fatale Indisposition überfiel. Jene
Aufführung der Walküre war besonders dadurch interessant,
daß Fräulein Morena zum ersten Male nach einer schweren
Operation wieder die Sieglinde sang und zwar besser und
schöner als sie sie je vorher gesungen. Vor allem war eine
weit ruhigere Tongebung, eine größere Festigkeit des Tones
freudig anzuerkennen. Fräulein Krüger sang an jenem Abend
zum ersten Male die Fricka und bestätigte neuerdings unser
oben ausgesprochenes Urteil. Den Wotan sang Herr Bender,
die Brünnhilde Frau Faßbender und den Hunding Herr Gill-
mann. Unangenehm ist uns der offenbare Mangel einer vor-
hergehenden Verständigung in der Kampfßene zwischen Sieg-
mund und Hunding aufgefallen. Die Sache sah unglaubhaft
und lächerlich aus. Dagegen angenehm aufgefallen ist das
wirklich prachtvoll gespielte Cello-Solo im ersten Akt der
Walküre, das, wie ich höre, ein neues Mitglied unseres Hof-
orchesters, ein Belgier Ducles, spielte.



Die meisten Neuheiten brachte natürlich das Schauspiel,
und da haben wir vor allem eines hübschen Moliere-Abends
zu gedenken, der im Residenztheater stattfand, wo die beiden
Komödien "Spitzbubenstreiche" und "Der Arzt wider Willen"
nach längerer Zeit wieder einmal gegeben wurden. In beiden
Stücken war es namentlich Herr Schwannecke, der die Haupt-
kosten der Unterhaltung trug. Die beiden Stücke werden noch
in der Uebersetzung von Georg Dröscher und August Fresenius
aufgeführt. Die Regie hat jetzt Herr Lützenkirchen. Moliere
wie Shakespeare gehörten zu jener klassischen Literatur unserer
Feinde, die auch künftig auf unseren deutschen Bühnen nicht
fehlen darf, denn ihr Wert geht über das Nationale hinaus
in das allgemein Menschliche; aber französische Darsteller,
wie einstmals die beiden Coquelins, werden wir freilich darin
nicht mehr zu sehen bekommen, was aber auch weiter nichts
schadet, ist doch gerade Coquelin mit dem Moliereschen Text
höchst rücksichtslos umgesprungen. --

Auch das Schauspielhaus griff auf ein altes Stück zurück,
als es unerwartet Gerhart Hauptmanns einst so viel be-
schrienes Märchendrama "Die versunkene Glocke" aus dem
Theaterarchiv hervorsuchte. Es ist darin ziemlich staubig ge-
worden und wird auf die Dauer wohl kaum mehr zum
Leben zu erwecken sein. Damals verblüffte und imponierte der
Reflexionsballast, der an dem Stücke hängt. Seither hat man
eine etwas reinere und schlichtere Anschauung von den Er-
fordernissen eines deutschen Märchens gewonnen. Die Auf-
führung selbst war recht gut. Den Glockengießer spielte ein
Gast, Kurt Gerden, seine Frau Annie Rosar, den Pfarrer
vortrefflich Herr Eßlair. Die alte Wittichen Fräulein Glümer,
das Rautendelein Fräulein Selbing und den Nickelmann der
Leiter der Aufführung Herr Peppler. Noch weniger Glück
aber hatte das Schauspielhaus mit einer ziemlich überflüssigen
Neuheit, einer dreiaktigen Komödie des bekannten Shaw-
Uebersetzers Siegfried Trebitsch. Wenn ihm auch als solchen
seinerzeit schwere Mißverständnisse des englischen Dichters
nachgewiesen worden sind, so ist uns der Uebersetzer doch noch
immer lieber als der Autor dieses eigenen Stückes. "Gefähr-
liche Jahre" ist weder eine Komödie noch irgendwie amüsant,
sondern gehört eigentlich der Gattung jener Kokottenstücke
nach französischem Muster an, die jetzt für immer für uns ab-
getan sein sollten. Außer den Franzosen ist wohl noch Arthur
Schnitzler Vorbild für den Verfasser gewesen, der die gefähr-
lichen Jahre einen albernen Jungen durch dessen Vater in der
Weise überstehen lassen will, daß dieser ihm eine angehende
Schauspielerin als Liebschaft kontraktlich gewinnt, damit er
nicht aus unterdrücktem Lebenstrieb wie seine Geschwister
Selbstmord begeht. Die einzige vernünftige Person in dem
Stücke, die Mutter, verschwindet leider mit dem ersten Akt,
und wir haben noch zwei weitere auszuhalten, in denen
wenig, vor allem nichts Heiteres vorgeht, aber furchtbar geist-
reich über die gewöhnlichsten Dinge geredet wird. Abermals
ein Gast, ein Fräulein Malva Rona, spielte die weibliche
Hauptrolle und führte sich damit nicht übel ein. Den Jungen
in den gefährlichen Jahren hatte Herr Bauer, seinen leicht-
lebigen Vater Herr Hans Raabe zu geben. Auch einem ver-
mutlich komisch gemeinten Schauspieler (Max Weydner)
[Spaltenumbruch] konnte es nicht gelingen, das Publikum zu fesseln, das sich
zwar das Erscheinen des hergereisten Autors nach den letzten
beiden Akten wohl gefallen ließ, aber das Haus nicht ohne
Langeweile und Widerspruch verließ. Leider war diese
Premiere eine Wohltätigkeitsvorstellung zugunsten des öster-
reichisch-ungarischen Roten Kreuzes, das hoffentlich doch einen
pekuniären Vorteil von dem ziemlich gut besetzten Hause da-
vongetragen hat, dem wir aber einen würdigeren Anlaß,
d. h. ein ernsthafter zu nehmendes Stück gewünscht hätten.

Feuilleton
Ihre Entscheidung.

"Es steht dir jederzeit frei, nach England zurückzukehren.
Die Reise wird langweilig und umständlich sein, aber sie ist
möglich. Ich halte dich nicht, wenn dich hier nichts hält. Du
bist vollständig Herrin deiner Entschlüsse. Bleibst du aber,
dann erwarte ich von dir, daß du nichts anderes bist, als die
Frau deines Mannes -- eines deutschen Soldaten."

"Eines deutschen Soldaten?" wiederholte sie, um es be-
greifen zu können, "du mußt mit?" An diese Möglichkeit hatte
sie noch gar nicht gedacht. Nicht daß er kämpfen sollte, schreckte
sie, unerträglich war ihr der Gedanke, daß er die Waffen gegen
ihr Volk heben wollte. "Es kann nicht sein, du gegen England!
-- Und -- wenn George dir gegenüber steht?"

"So werden George und ich als ehrliche Soldaten ihre
Pflicht tun."

"Harry, du gegen meinen Bruder!"

"Bitte, Helene, nenne mich nicht mehr so, mir klingt es
wie Spott ins Ohr."

"Ich habe dich immer so genannt und es hat dir gefallen!
Ich heiße Ellen und nicht Helene. Ich -- sie war fertig mit
ihrer Kraft: "Warum seid ihr so grausam zu mir, ihr seid ganz
andere Menschen geworden, seit Krieg ist. Und nun schickst du
mich auch noch fort! -- Und das ist das beste: -- ich gehe!"

"Ellen," sagte er zärtlich, begütigend. Sie tat ihm un-
säglich leid, aber er konnte ihr nicht helfen, dieser Kampf
mußte durchgefochten werden, denn er war entscheidend für
seine Zukunft und für die Zukunft des Hardenkopschen Hauses.
Was dazu gehörte, mußte deutsch sein, sollte es nicht in die ge-
sunde, heimische Art einen Zersetzungskeim hineintragen.
"Komm, setz' dich zu mir!"

Sie schüttelte den Kopf, sie blieb an ihrem Fensterplatz
sitzen und ihre Finger begannen wieder die Goldfäden durch
ihre unnütze kleine Flitterarbeit zu ziehen, sie wollte das
Zittern ihrer Hände damit verbergen.

Er sah, wie es in ihr stürmte und freute sich über die
Haltung, die sie dabei bewahrte. Zucht und Rasse waren
in ihr, sie war ein Geschlechterkind des verwandten Stammes
überm Kanal. Er dachte daran, wie stolz sie alle gewesen, als
die vornehme, reiche Engländerin zu ihnen herübergekommen
war, wie seine Mutter, die Senatortochter und Senatorgattin,
diese Verbindung begünstigt hatte, wie sein Vater zu Onkel
Stanies von der jungen Braut immer als: our english girl
gesprochen, ein leiser Anflug von Ueberlegenheit hatte durch-
geklungen, der arme Stanies hatte ja nur deutsche Schwieger-
töchter! Schwester und Schwager, die ganze große Harden-
kopsche Sippe hatten sie verzogen; ihre Art, den Haushalt zu
führen, ihre Art sich zu kleiden, alles war entzückend und nach-
ahmenswert gewesen! Er selbst? -- Zwei Dinge hatten ihn
zur Anglomanie verführt: Der Sport den Knaben, den
Mann -- sie war ja auch zum Kopfverdrehen, seine kleine
Engländerin!

Ein tiefes Rot stieg ihm bis zur Stirn hinauf. "Ich be-
greife dich, Ellen," sagte er mit der allen Hardenkops eigenen
strengen Sachlichkeit, die sich um keine Selbstkritik drückte.
"Du mußt dir plötzlich wie in ein Tollhaus versetzt vorkommen,
wir waren bis vor kurzem die Affen Englands, nan sind wir
seine Gegner und Richter. Ich kann nicht von dir verlangen,

1. Mai 1915. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] noch in der Walküre, wo ihn eben nach einem prächtigen
Anfang im erſten Akt dieſe fatale Indispoſition überfiel. Jene
Aufführung der Walküre war beſonders dadurch intereſſant,
daß Fräulein Morena zum erſten Male nach einer ſchweren
Operation wieder die Sieglinde ſang und zwar beſſer und
ſchöner als ſie ſie je vorher geſungen. Vor allem war eine
weit ruhigere Tongebung, eine größere Feſtigkeit des Tones
freudig anzuerkennen. Fräulein Krüger ſang an jenem Abend
zum erſten Male die Fricka und beſtätigte neuerdings unſer
oben ausgeſprochenes Urteil. Den Wotan ſang Herr Bender,
die Brünnhilde Frau Faßbender und den Hunding Herr Gill-
mann. Unangenehm iſt uns der offenbare Mangel einer vor-
hergehenden Verſtändigung in der Kampfſzene zwiſchen Sieg-
mund und Hunding aufgefallen. Die Sache ſah unglaubhaft
und lächerlich aus. Dagegen angenehm aufgefallen iſt das
wirklich prachtvoll geſpielte Cello-Solo im erſten Akt der
Walküre, das, wie ich höre, ein neues Mitglied unſeres Hof-
orcheſters, ein Belgier Duclés, ſpielte.



Die meiſten Neuheiten brachte natürlich das Schauſpiel,
und da haben wir vor allem eines hübſchen Molière-Abends
zu gedenken, der im Reſidenztheater ſtattfand, wo die beiden
Komödien „Spitzbubenſtreiche“ und „Der Arzt wider Willen“
nach längerer Zeit wieder einmal gegeben wurden. In beiden
Stücken war es namentlich Herr Schwannecke, der die Haupt-
koſten der Unterhaltung trug. Die beiden Stücke werden noch
in der Ueberſetzung von Georg Dröſcher und Auguſt Freſenius
aufgeführt. Die Regie hat jetzt Herr Lützenkirchen. Molière
wie Shakeſpeare gehörten zu jener klaſſiſchen Literatur unſerer
Feinde, die auch künftig auf unſeren deutſchen Bühnen nicht
fehlen darf, denn ihr Wert geht über das Nationale hinaus
in das allgemein Menſchliche; aber franzöſiſche Darſteller,
wie einſtmals die beiden Coquelins, werden wir freilich darin
nicht mehr zu ſehen bekommen, was aber auch weiter nichts
ſchadet, iſt doch gerade Coquelin mit dem Molièreſchen Text
höchſt rückſichtslos umgeſprungen. —

Auch das Schauſpielhaus griff auf ein altes Stück zurück,
als es unerwartet Gerhart Hauptmanns einſt ſo viel be-
ſchrienes Märchendrama „Die verſunkene Glocke“ aus dem
Theaterarchiv hervorſuchte. Es iſt darin ziemlich ſtaubig ge-
worden und wird auf die Dauer wohl kaum mehr zum
Leben zu erwecken ſein. Damals verblüffte und imponierte der
Reflexionsballaſt, der an dem Stücke hängt. Seither hat man
eine etwas reinere und ſchlichtere Anſchauung von den Er-
forderniſſen eines deutſchen Märchens gewonnen. Die Auf-
führung ſelbſt war recht gut. Den Glockengießer ſpielte ein
Gaſt, Kurt Gerden, ſeine Frau Annie Roſar, den Pfarrer
vortrefflich Herr Eßlair. Die alte Wittichen Fräulein Glümer,
das Rautendelein Fräulein Selbing und den Nickelmann der
Leiter der Aufführung Herr Peppler. Noch weniger Glück
aber hatte das Schauſpielhaus mit einer ziemlich überflüſſigen
Neuheit, einer dreiaktigen Komödie des bekannten Shaw-
Ueberſetzers Siegfried Trebitſch. Wenn ihm auch als ſolchen
ſeinerzeit ſchwere Mißverſtändniſſe des engliſchen Dichters
nachgewieſen worden ſind, ſo iſt uns der Ueberſetzer doch noch
immer lieber als der Autor dieſes eigenen Stückes. „Gefähr-
liche Jahre“ iſt weder eine Komödie noch irgendwie amüſant,
ſondern gehört eigentlich der Gattung jener Kokottenſtücke
nach franzöſiſchem Muſter an, die jetzt für immer für uns ab-
getan ſein ſollten. Außer den Franzoſen iſt wohl noch Arthur
Schnitzler Vorbild für den Verfaſſer geweſen, der die gefähr-
lichen Jahre einen albernen Jungen durch deſſen Vater in der
Weiſe überſtehen laſſen will, daß dieſer ihm eine angehende
Schauſpielerin als Liebſchaft kontraktlich gewinnt, damit er
nicht aus unterdrücktem Lebenstrieb wie ſeine Geſchwiſter
Selbſtmord begeht. Die einzige vernünftige Perſon in dem
Stücke, die Mutter, verſchwindet leider mit dem erſten Akt,
und wir haben noch zwei weitere auszuhalten, in denen
wenig, vor allem nichts Heiteres vorgeht, aber furchtbar geiſt-
reich über die gewöhnlichſten Dinge geredet wird. Abermals
ein Gaſt, ein Fräulein Malva Rona, ſpielte die weibliche
Hauptrolle und führte ſich damit nicht übel ein. Den Jungen
in den gefährlichen Jahren hatte Herr Bauer, ſeinen leicht-
lebigen Vater Herr Hans Raabe zu geben. Auch einem ver-
mutlich komiſch gemeinten Schauſpieler (Max Weydner)
[Spaltenumbruch] konnte es nicht gelingen, das Publikum zu feſſeln, das ſich
zwar das Erſcheinen des hergereiſten Autors nach den letzten
beiden Akten wohl gefallen ließ, aber das Haus nicht ohne
Langeweile und Widerſpruch verließ. Leider war dieſe
Premiere eine Wohltätigkeitsvorſtellung zugunſten des öſter-
reichiſch-ungariſchen Roten Kreuzes, das hoffentlich doch einen
pekuniären Vorteil von dem ziemlich gut beſetzten Hauſe da-
vongetragen hat, dem wir aber einen würdigeren Anlaß,
d. h. ein ernſthafter zu nehmendes Stück gewünſcht hätten.

Feuilleton
Ihre Entſcheidung.

„Es ſteht dir jederzeit frei, nach England zurückzukehren.
Die Reiſe wird langweilig und umſtändlich ſein, aber ſie iſt
möglich. Ich halte dich nicht, wenn dich hier nichts hält. Du
biſt vollſtändig Herrin deiner Entſchlüſſe. Bleibſt du aber,
dann erwarte ich von dir, daß du nichts anderes biſt, als die
Frau deines Mannes — eines deutſchen Soldaten.“

„Eines deutſchen Soldaten?“ wiederholte ſie, um es be-
greifen zu können, „du mußt mit?“ An dieſe Möglichkeit hatte
ſie noch gar nicht gedacht. Nicht daß er kämpfen ſollte, ſchreckte
ſie, unerträglich war ihr der Gedanke, daß er die Waffen gegen
ihr Volk heben wollte. „Es kann nicht ſein, du gegen England!
— Und — wenn George dir gegenüber ſteht?“

„So werden George und ich als ehrliche Soldaten ihre
Pflicht tun.“

„Harry, du gegen meinen Bruder!“

„Bitte, Helene, nenne mich nicht mehr ſo, mir klingt es
wie Spott ins Ohr.“

„Ich habe dich immer ſo genannt und es hat dir gefallen!
Ich heiße Ellen und nicht Helene. Ich — ſie war fertig mit
ihrer Kraft: „Warum ſeid ihr ſo grauſam zu mir, ihr ſeid ganz
andere Menſchen geworden, ſeit Krieg iſt. Und nun ſchickſt du
mich auch noch fort! — Und das iſt das beſte: — ich gehe!“

„Ellen,“ ſagte er zärtlich, begütigend. Sie tat ihm un-
ſäglich leid, aber er konnte ihr nicht helfen, dieſer Kampf
mußte durchgefochten werden, denn er war entſcheidend für
ſeine Zukunft und für die Zukunft des Hardenkopſchen Hauſes.
Was dazu gehörte, mußte deutſch ſein, ſollte es nicht in die ge-
ſunde, heimiſche Art einen Zerſetzungskeim hineintragen.
„Komm, ſetz’ dich zu mir!“

Sie ſchüttelte den Kopf, ſie blieb an ihrem Fenſterplatz
ſitzen und ihre Finger begannen wieder die Goldfäden durch
ihre unnütze kleine Flitterarbeit zu ziehen, ſie wollte das
Zittern ihrer Hände damit verbergen.

Er ſah, wie es in ihr ſtürmte und freute ſich über die
Haltung, die ſie dabei bewahrte. Zucht und Raſſe waren
in ihr, ſie war ein Geſchlechterkind des verwandten Stammes
überm Kanal. Er dachte daran, wie ſtolz ſie alle geweſen, als
die vornehme, reiche Engländerin zu ihnen herübergekommen
war, wie ſeine Mutter, die Senatortochter und Senatorgattin,
dieſe Verbindung begünſtigt hatte, wie ſein Vater zu Onkel
Stanies von der jungen Braut immer als: our english girl
geſprochen, ein leiſer Anflug von Ueberlegenheit hatte durch-
geklungen, der arme Stanies hatte ja nur deutſche Schwieger-
töchter! Schweſter und Schwager, die ganze große Harden-
kopſche Sippe hatten ſie verzogen; ihre Art, den Haushalt zu
führen, ihre Art ſich zu kleiden, alles war entzückend und nach-
ahmenswert geweſen! Er ſelbſt? — Zwei Dinge hatten ihn
zur Anglomanie verführt: Der Sport den Knaben, den
Mann — ſie war ja auch zum Kopfverdrehen, ſeine kleine
Engländerin!

Ein tiefes Rot ſtieg ihm bis zur Stirn hinauf. „Ich be-
greife dich, Ellen,“ ſagte er mit der allen Hardenkops eigenen
ſtrengen Sachlichkeit, die ſich um keine Selbſtkritik drückte.
„Du mußt dir plötzlich wie in ein Tollhaus verſetzt vorkommen,
wir waren bis vor kurzem die Affen Englands, nan ſind wir
ſeine Gegner und Richter. Ich kann nicht von dir verlangen,

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[Seite 271.[271]/0009] 1. Mai 1915. Allgemeine Zeitung noch in der Walküre, wo ihn eben nach einem prächtigen Anfang im erſten Akt dieſe fatale Indispoſition überfiel. Jene Aufführung der Walküre war beſonders dadurch intereſſant, daß Fräulein Morena zum erſten Male nach einer ſchweren Operation wieder die Sieglinde ſang und zwar beſſer und ſchöner als ſie ſie je vorher geſungen. Vor allem war eine weit ruhigere Tongebung, eine größere Feſtigkeit des Tones freudig anzuerkennen. Fräulein Krüger ſang an jenem Abend zum erſten Male die Fricka und beſtätigte neuerdings unſer oben ausgeſprochenes Urteil. Den Wotan ſang Herr Bender, die Brünnhilde Frau Faßbender und den Hunding Herr Gill- mann. Unangenehm iſt uns der offenbare Mangel einer vor- hergehenden Verſtändigung in der Kampfſzene zwiſchen Sieg- mund und Hunding aufgefallen. Die Sache ſah unglaubhaft und lächerlich aus. Dagegen angenehm aufgefallen iſt das wirklich prachtvoll geſpielte Cello-Solo im erſten Akt der Walküre, das, wie ich höre, ein neues Mitglied unſeres Hof- orcheſters, ein Belgier Duclés, ſpielte. Die meiſten Neuheiten brachte natürlich das Schauſpiel, und da haben wir vor allem eines hübſchen Molière-Abends zu gedenken, der im Reſidenztheater ſtattfand, wo die beiden Komödien „Spitzbubenſtreiche“ und „Der Arzt wider Willen“ nach längerer Zeit wieder einmal gegeben wurden. In beiden Stücken war es namentlich Herr Schwannecke, der die Haupt- koſten der Unterhaltung trug. Die beiden Stücke werden noch in der Ueberſetzung von Georg Dröſcher und Auguſt Freſenius aufgeführt. Die Regie hat jetzt Herr Lützenkirchen. Molière wie Shakeſpeare gehörten zu jener klaſſiſchen Literatur unſerer Feinde, die auch künftig auf unſeren deutſchen Bühnen nicht fehlen darf, denn ihr Wert geht über das Nationale hinaus in das allgemein Menſchliche; aber franzöſiſche Darſteller, wie einſtmals die beiden Coquelins, werden wir freilich darin nicht mehr zu ſehen bekommen, was aber auch weiter nichts ſchadet, iſt doch gerade Coquelin mit dem Molièreſchen Text höchſt rückſichtslos umgeſprungen. — Auch das Schauſpielhaus griff auf ein altes Stück zurück, als es unerwartet Gerhart Hauptmanns einſt ſo viel be- ſchrienes Märchendrama „Die verſunkene Glocke“ aus dem Theaterarchiv hervorſuchte. Es iſt darin ziemlich ſtaubig ge- worden und wird auf die Dauer wohl kaum mehr zum Leben zu erwecken ſein. Damals verblüffte und imponierte der Reflexionsballaſt, der an dem Stücke hängt. Seither hat man eine etwas reinere und ſchlichtere Anſchauung von den Er- forderniſſen eines deutſchen Märchens gewonnen. Die Auf- führung ſelbſt war recht gut. Den Glockengießer ſpielte ein Gaſt, Kurt Gerden, ſeine Frau Annie Roſar, den Pfarrer vortrefflich Herr Eßlair. Die alte Wittichen Fräulein Glümer, das Rautendelein Fräulein Selbing und den Nickelmann der Leiter der Aufführung Herr Peppler. Noch weniger Glück aber hatte das Schauſpielhaus mit einer ziemlich überflüſſigen Neuheit, einer dreiaktigen Komödie des bekannten Shaw- Ueberſetzers Siegfried Trebitſch. Wenn ihm auch als ſolchen ſeinerzeit ſchwere Mißverſtändniſſe des engliſchen Dichters nachgewieſen worden ſind, ſo iſt uns der Ueberſetzer doch noch immer lieber als der Autor dieſes eigenen Stückes. „Gefähr- liche Jahre“ iſt weder eine Komödie noch irgendwie amüſant, ſondern gehört eigentlich der Gattung jener Kokottenſtücke nach franzöſiſchem Muſter an, die jetzt für immer für uns ab- getan ſein ſollten. Außer den Franzoſen iſt wohl noch Arthur Schnitzler Vorbild für den Verfaſſer geweſen, der die gefähr- lichen Jahre einen albernen Jungen durch deſſen Vater in der Weiſe überſtehen laſſen will, daß dieſer ihm eine angehende Schauſpielerin als Liebſchaft kontraktlich gewinnt, damit er nicht aus unterdrücktem Lebenstrieb wie ſeine Geſchwiſter Selbſtmord begeht. Die einzige vernünftige Perſon in dem Stücke, die Mutter, verſchwindet leider mit dem erſten Akt, und wir haben noch zwei weitere auszuhalten, in denen wenig, vor allem nichts Heiteres vorgeht, aber furchtbar geiſt- reich über die gewöhnlichſten Dinge geredet wird. Abermals ein Gaſt, ein Fräulein Malva Rona, ſpielte die weibliche Hauptrolle und führte ſich damit nicht übel ein. Den Jungen in den gefährlichen Jahren hatte Herr Bauer, ſeinen leicht- lebigen Vater Herr Hans Raabe zu geben. Auch einem ver- mutlich komiſch gemeinten Schauſpieler (Max Weydner) konnte es nicht gelingen, das Publikum zu feſſeln, das ſich zwar das Erſcheinen des hergereiſten Autors nach den letzten beiden Akten wohl gefallen ließ, aber das Haus nicht ohne Langeweile und Widerſpruch verließ. Leider war dieſe Premiere eine Wohltätigkeitsvorſtellung zugunſten des öſter- reichiſch-ungariſchen Roten Kreuzes, das hoffentlich doch einen pekuniären Vorteil von dem ziemlich gut beſetzten Hauſe da- vongetragen hat, dem wir aber einen würdigeren Anlaß, d. h. ein ernſthafter zu nehmendes Stück gewünſcht hätten. Alfred Frhr. v. Menſi. Feuilleton Ihre Entſcheidung. Von Anna Hilaria von Ekhel. „Es ſteht dir jederzeit frei, nach England zurückzukehren. Die Reiſe wird langweilig und umſtändlich ſein, aber ſie iſt möglich. Ich halte dich nicht, wenn dich hier nichts hält. Du biſt vollſtändig Herrin deiner Entſchlüſſe. Bleibſt du aber, dann erwarte ich von dir, daß du nichts anderes biſt, als die Frau deines Mannes — eines deutſchen Soldaten.“ „Eines deutſchen Soldaten?“ wiederholte ſie, um es be- greifen zu können, „du mußt mit?“ An dieſe Möglichkeit hatte ſie noch gar nicht gedacht. Nicht daß er kämpfen ſollte, ſchreckte ſie, unerträglich war ihr der Gedanke, daß er die Waffen gegen ihr Volk heben wollte. „Es kann nicht ſein, du gegen England! — Und — wenn George dir gegenüber ſteht?“ „So werden George und ich als ehrliche Soldaten ihre Pflicht tun.“ „Harry, du gegen meinen Bruder!“ „Bitte, Helene, nenne mich nicht mehr ſo, mir klingt es wie Spott ins Ohr.“ „Ich habe dich immer ſo genannt und es hat dir gefallen! Ich heiße Ellen und nicht Helene. Ich — ſie war fertig mit ihrer Kraft: „Warum ſeid ihr ſo grauſam zu mir, ihr ſeid ganz andere Menſchen geworden, ſeit Krieg iſt. Und nun ſchickſt du mich auch noch fort! — Und das iſt das beſte: — ich gehe!“ „Ellen,“ ſagte er zärtlich, begütigend. Sie tat ihm un- ſäglich leid, aber er konnte ihr nicht helfen, dieſer Kampf mußte durchgefochten werden, denn er war entſcheidend für ſeine Zukunft und für die Zukunft des Hardenkopſchen Hauſes. Was dazu gehörte, mußte deutſch ſein, ſollte es nicht in die ge- ſunde, heimiſche Art einen Zerſetzungskeim hineintragen. „Komm, ſetz’ dich zu mir!“ Sie ſchüttelte den Kopf, ſie blieb an ihrem Fenſterplatz ſitzen und ihre Finger begannen wieder die Goldfäden durch ihre unnütze kleine Flitterarbeit zu ziehen, ſie wollte das Zittern ihrer Hände damit verbergen. Er ſah, wie es in ihr ſtürmte und freute ſich über die Haltung, die ſie dabei bewahrte. Zucht und Raſſe waren in ihr, ſie war ein Geſchlechterkind des verwandten Stammes überm Kanal. Er dachte daran, wie ſtolz ſie alle geweſen, als die vornehme, reiche Engländerin zu ihnen herübergekommen war, wie ſeine Mutter, die Senatortochter und Senatorgattin, dieſe Verbindung begünſtigt hatte, wie ſein Vater zu Onkel Stanies von der jungen Braut immer als: our english girl geſprochen, ein leiſer Anflug von Ueberlegenheit hatte durch- geklungen, der arme Stanies hatte ja nur deutſche Schwieger- töchter! Schweſter und Schwager, die ganze große Harden- kopſche Sippe hatten ſie verzogen; ihre Art, den Haushalt zu führen, ihre Art ſich zu kleiden, alles war entzückend und nach- ahmenswert geweſen! Er ſelbſt? — Zwei Dinge hatten ihn zur Anglomanie verführt: Der Sport den Knaben, den Mann — ſie war ja auch zum Kopfverdrehen, ſeine kleine Engländerin! Ein tiefes Rot ſtieg ihm bis zur Stirn hinauf. „Ich be- greife dich, Ellen,“ ſagte er mit der allen Hardenkops eigenen ſtrengen Sachlichkeit, die ſich um keine Selbſtkritik drückte. „Du mußt dir plötzlich wie in ein Tollhaus verſetzt vorkommen, wir waren bis vor kurzem die Affen Englands, nan ſind wir ſeine Gegner und Richter. Ich kann nicht von dir verlangen,

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 1. Mai 1915, S. Seite 271.[271]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1915/9>, abgerufen am 28.11.2024.