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Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.

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[Spaltenumbruch] sichert und es erscheint auch durchaus glaubhaft, daß auf den
Finanzämtern "fieberhaft" gearbeitet werde, daß aber die gefor-
derten Leistungen über Menschenkräfte einfach gehen. Ist dem so,
so beweist das, daß der Erzbergersche Finanz- und Steuerplan
eben doch falsch war, daß man statt der Fülle von Steuergesetzen,
die auf Jahre hinaus toter Buchstabe bleiben und lediglich nur
als Drohung oder auch als Verführung wirken, ein einziges,
großes und ergiebiges Steuergesetz hätte machen müssen, das
innerhalb einiger Monate auszuführen gewesen wäre. Auf hun-
dert anderen Gebieten aber wird überhaupt nicht gearbeitet oder
jedenfalls entfernt nicht so viel, wie gearbeitet werden müßte.
Als der Kapp-Putsch wie ein Hagelwetter über uns hereinbrach,
wurde gesagt, gerade jetzt hätte der Genesungsprozeß begonnen;
es wäre z. B. Aussicht gewesen, daß die Beamten der Reichspost-
verwaltung zur Neunstundenarbeit sich entschlossen hätten. Liegen
die Dinge so, dann ist der Kapp-Putsch wirklich auch unter diesem
Gesichtspunkte ein namenloses Unglück gewesen. Aber es sind
Zweifel daran gestattet, ob diese Hoffnungen sich erfüllt hätten.
Denn warum sollen die Postbeamten allein eine Ausnahme
machen, so lange der Zug der Zeit ausgesprochenerweise dahin
geht, für ein möglichst geringes Maß von Arbeit sich eine Be-
zahlung zu erzwingen, die eine über den Friedensstand weit
hinausgehende Lebenshaltung gestattet. Und das ist doch die
Stgnatur unserer Tage. Wir müßten doppelt so viel arbeiten
als in Friedenszeiten und müßten uns mit der Hälfte des Lohnes
begnügen, wenn auch nur ein Anfang gemacht werden soll, mit
der Erfüllung der Friedensbedingungen. Statt dessen ist die
Arbeitsleistung durchschnittlich auf etwas weniger als die Hälfte
herabgesetzt, die Löhne aber sind zum mindesten verdoppelt, in
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der nur mit einer Katastrophe enden kann und nur wer diese
Katastrophe will, weil sie seinen größeren Zwecken dienlich er-
scheint, kann über diesen Zustand hinweggehen. Nun gibt es
allerdings auch Gebiete, auf denen nicht unmittelbar finanzielle
Leistungen in Frage kommen, wie z. B. das der Abrüstung und
Entwaffnung. Aber es gibt nur eine Regierungsautorität und
die staatliche Energie, die auf dem einen Gebiete versagt, kann
auf dem anderen Gebiete sich nicht bewähren. Und so mag es
schon richtig sein, daß unsere Feinde Grund zur Unzufriedenheit
haben, so lange sie eben nur die tatsächlichen Leistungen
an den ungeheueren Forderungen messen.

Betrachtet man die absoluten Zahlen und Fristen, so ist
selbstverständlich immerhin noch Gewaltiges geleistet worden.
Der neue Reichsfinanzminister hat am 26. April in der National-
versammlung darauf hingewiesen, daß schon im außerordentlichen
haushalt für 1919 rund 17 Milliarden Mark an Leistungen aus
dem Friedensvertrag eingestellt waren; im neuen Etat sind
5 Milliarden vorgesehen, man rechnet aber damit, daß diese
Summe nicht reicht. Hinter diesen Ziffern stehen die ungeheuren
Werte, die bezeits unserer Volkswirtschaft entzogen und in die
Hände der Entente gelangt sind, z. B. unsere Handelsflotte, das
liquidierte Privateigentum im Ausland, das zurückgelassene
Heeresgut u. a. m. Die Lieserungen an Kohlen, Kali, Maschinen,
Vieh, die der Fiskus an die Privaten hat bezahlen müssen. Dazu
kommen die Kosten für die Besatzungsarmee, für die wir bereits
etwa 3 Milliarden Mark aufzubringen hatten, und die Kosten
für die zahlreichen Kommissionen der alliierten und assoziierten
Mächte, die durchaus nicht zu unterschätzen sind, da beispiels-
weise ein Oberst zurzeit ein monatliches Mark-Einkommen von
10,000 Mark bezieht, ein einsacher Soldat von 2000 Mark.

Wenn das bisher Geleistete alles an das Maß unserer for-
mellen Verpflichtungen und der Erwartungen unserer Feinde
nicht heranreicht, so hat das eine doppelte Ursache: Die eine ist
der schwere Krankheitszustand, in dem der Körper unseres Wirt-
schaftslebens sich befindet, die andere die Unerfüllbarkeit der
Bedingungen des Friedensvertrages. Solange diese Momente
nicht gewürdigt werden, ist an eine wirkliche Entspannung der
Lage nicht zu denken. Unsere Feinde werden immer die Mög-
lichkeit haben, über unseren bösen Willen zu klagen, während
wir in Wirklichkeit eben einfach nicht können. Wenn nicht
nur Herr Nitti, sondern auch Lloyd George eine Zeitlang Nei-
gung zeigte, einiges Verständnis für unsere Not und Zwangs-
lage im Ruhrgebiet aufzubringen, so konnte man die Hoff-
nung hegen, die tatsächlichen Zustände in Deutschland und ge-
wisse volkspsychologische Rücksichten und Erwägungen würden
[Spaltenumbruch] auch sonst in die Wagschale gelegt werden. Es ist nun einmal
Wahnsinn, von einem körperlich, seelisch und wirtschaftlich so
heruntergekommenen Volke, wie wir es heute sind, dieselben
Leistungen zu erwarten und zu verlangen, wie sie allenfalls ein
gesundes, kraftvolles und an Umfang und Bevölkerungszahl
unvermindertes Deutschland auf der Höhe seiner Friedensleistungs-
fähigkeit hätte aufbringen können. Aber diese Hoffnung ist nun
leider verschwunden. Nitti hat sich nicht durchzusetzen vermocht
und Lloyd George hat sich von Millerand "klein kriegen" lassen.
Der Franke wirft immer wieder seinen ehernen Degen in die
Wage der Gerechtigkeit: so steht es geschrieben im Vertrag von
Versailles, und so muß es erfüllt werden, wenn es aber nicht
gutwillig erfüllt wird, so werden wir es erzwingen!

Gewiß wäre es ein Fortschritt, wenn jetzt die Höhe der
Wiedergutmachungssumme überhaupt festgesetzt würde; und wenn
es Lloyd George gelungen wäre, dafür die Summe von 50 Milli-
arden Goldmark durchzusetzen, so hätte man einigermaßen auf-
atmen können; 90 Milliarden gehen schon weit über die Grenze
unserer Leistungsfähigkeit, auch bei sehr optimistischer Berech-
nung, hinaus. Gewiß ist es ferner ein Fortschritt, daß demnächst
in Spa direkte Verhandlungen zwischen den Regierungschefs ge-
pflogen werden sollen. Daß diese Verhandlungen in Spa nach Art
derer von Versailles geführt werden sollen, wonach die deutschen
Staatsmänner lediglich das Recht haben, formulierte Vorschläge
zu unterbreiten, um darauf das Ja oder Nein des Feindes ent-
gegenzunehmen, wird erfreulicherweise bestritten. Das ist
also eine getreue Fortsetzung der unfruchtbaren Sorte
von Verhandlungen, die man in Versailles gepflogen
hat. Unter allen Umständen aber werden wir weiterleben
müssen unter dem furchtbaren Druck der Drohungen, von
denen auch die Erklärung von San Remo wieder begleitet ist.
Diese Drohungen bedeuten im Grunde eine gröbliche Verletzung
der Zusicherungen, die bei der Unterzeichnung des Versailler
Schlußprotokolls gegeben worden sind, denn damals wurde aus-
drücklich festgestellt, daß, wenn der Friede einmal in Kraft ge-
treten wäre, militärische Maßregeln nicht mehr in Frage kommen
könnten. Unter diesem Gesichtspunkt war ja auch die Besetzung
der Mainstädte einfach ein Friedensbruch, eine Wiederaufnahme
des Kriegszustandes und offenbar hätte man es in Paris gar
nicht ungern gesehen, wenn die absichtsvolle Brutalität dieser
Besetzung von deutscher Seite so aufgefaßt worden wäre. Die
Herren in San Remo haben sich gehütet, das Kind beim rechten
Namen zu nennen; in Wirklichkeit aber wird nicht nur die Be-
setzung der Mainstädte nachträglich legalisiert, sondern es wird
mit der für spätere Fälle angedrohten Besetzung ein neues Recht
oder vielmehr ein neues Unrecht geschaffen, dem wir leider nichts
entgegenzusetzen haben, als den ganzen Ingrimm eines mißhan-
delten und wehrlosen Volkes.

So stellte sich die Erklärung dar, von der man uns glauben
machen will, in der Sache habe Nitti, in der Form Millerand
gesiegt. Es sieht leider ganz so aus, als ob es umgekehrt wäre,
als ob es der italienischen Politik gelungen wäre, die franzö-
sischen Rohheiten in eine etwas mildere Form zu kleiden, aber
nicht ihnen irgendeine ihrer Spitzen abzubrechen. Es ist mög-
lich, daß wir uns darin täuschen, und wir möchten von Herzen
wünschen, daß es der Fall wäre.



Dokumente zur Geschichte des Sozialis-
mus und der sozialen Revolution.
1847. Aus dem kommunistischen Manifest.
(Schluß.)

Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu
Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst.

Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet,
die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer erzeugt, die
diese Waffen führen werden -- die modernen Arbeiter, die
Proletarier.

In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h. das
Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Pro-
letariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange
leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden,
als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich
stückweis verkanfen müssen, sind eine Ware wie jeder andere

Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920
[Spaltenumbruch] ſichert und es erſcheint auch durchaus glaubhaft, daß auf den
Finanzämtern „fieberhaft“ gearbeitet werde, daß aber die gefor-
derten Leiſtungen über Menſchenkräfte einfach gehen. Iſt dem ſo,
ſo beweiſt das, daß der Erzbergerſche Finanz- und Steuerplan
eben doch falſch war, daß man ſtatt der Fülle von Steuergeſetzen,
die auf Jahre hinaus toter Buchſtabe bleiben und lediglich nur
als Drohung oder auch als Verführung wirken, ein einziges,
großes und ergiebiges Steuergeſetz hätte machen müſſen, das
innerhalb einiger Monate auszuführen geweſen wäre. Auf hun-
dert anderen Gebieten aber wird überhaupt nicht gearbeitet oder
jedenfalls entfernt nicht ſo viel, wie gearbeitet werden müßte.
Als der Kapp-Putſch wie ein Hagelwetter über uns hereinbrach,
wurde geſagt, gerade jetzt hätte der Geneſungsprozeß begonnen;
es wäre z. B. Ausſicht geweſen, daß die Beamten der Reichspoſt-
verwaltung zur Neunſtundenarbeit ſich entſchloſſen hätten. Liegen
die Dinge ſo, dann iſt der Kapp-Putſch wirklich auch unter dieſem
Geſichtspunkte ein namenloſes Unglück geweſen. Aber es ſind
Zweifel daran geſtattet, ob dieſe Hoffnungen ſich erfüllt hätten.
Denn warum ſollen die Poſtbeamten allein eine Ausnahme
machen, ſo lange der Zug der Zeit ausgeſprochenerweiſe dahin
geht, für ein möglichſt geringes Maß von Arbeit ſich eine Be-
zahlung zu erzwingen, die eine über den Friedensſtand weit
hinausgehende Lebenshaltung geſtattet. Und das iſt doch die
Stgnatur unſerer Tage. Wir müßten doppelt ſo viel arbeiten
als in Friedenszeiten und müßten uns mit der Hälfte des Lohnes
begnügen, wenn auch nur ein Anfang gemacht werden ſoll, mit
der Erfüllung der Friedensbedingungen. Statt deſſen iſt die
Arbeitsleiſtung durchſchnittlich auf etwas weniger als die Hälfte
herabgeſetzt, die Löhne aber ſind zum mindeſten verdoppelt, in
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der nur mit einer Kataſtrophe enden kann und nur wer dieſe
Kataſtrophe will, weil ſie ſeinen größeren Zwecken dienlich er-
ſcheint, kann über dieſen Zuſtand hinweggehen. Nun gibt es
allerdings auch Gebiete, auf denen nicht unmittelbar finanzielle
Leiſtungen in Frage kommen, wie z. B. das der Abrüſtung und
Entwaffnung. Aber es gibt nur eine Regierungsautorität und
die ſtaatliche Energie, die auf dem einen Gebiete verſagt, kann
auf dem anderen Gebiete ſich nicht bewähren. Und ſo mag es
ſchon richtig ſein, daß unſere Feinde Grund zur Unzufriedenheit
haben, ſo lange ſie eben nur die tatſächlichen Leiſtungen
an den ungeheueren Forderungen meſſen.

Betrachtet man die abſoluten Zahlen und Friſten, ſo iſt
ſelbſtverſtändlich immerhin noch Gewaltiges geleiſtet worden.
Der neue Reichsfinanzminiſter hat am 26. April in der National-
verſammlung darauf hingewieſen, daß ſchon im außerordentlichen
haushalt für 1919 rund 17 Milliarden Mark an Leiſtungen aus
dem Friedensvertrag eingeſtellt waren; im neuen Etat ſind
5 Milliarden vorgeſehen, man rechnet aber damit, daß dieſe
Summe nicht reicht. Hinter dieſen Ziffern ſtehen die ungeheuren
Werte, die bezeits unſerer Volkswirtſchaft entzogen und in die
Hände der Entente gelangt ſind, z. B. unſere Handelsflotte, das
liquidierte Privateigentum im Ausland, das zurückgelaſſene
Heeresgut u. a. m. Die Lieſerungen an Kohlen, Kali, Maſchinen,
Vieh, die der Fiskus an die Privaten hat bezahlen müſſen. Dazu
kommen die Koſten für die Beſatzungsarmee, für die wir bereits
etwa 3 Milliarden Mark aufzubringen hatten, und die Koſten
für die zahlreichen Kommiſſionen der alliierten und aſſoziierten
Mächte, die durchaus nicht zu unterſchätzen ſind, da beiſpiels-
weiſe ein Oberſt zurzeit ein monatliches Mark-Einkommen von
10,000 Mark bezieht, ein einſacher Soldat von 2000 Mark.

Wenn das bisher Geleiſtete alles an das Maß unſerer for-
mellen Verpflichtungen und der Erwartungen unſerer Feinde
nicht heranreicht, ſo hat das eine doppelte Urſache: Die eine iſt
der ſchwere Krankheitszuſtand, in dem der Körper unſeres Wirt-
ſchaftslebens ſich befindet, die andere die Unerfüllbarkeit der
Bedingungen des Friedensvertrages. Solange dieſe Momente
nicht gewürdigt werden, iſt an eine wirkliche Entſpannung der
Lage nicht zu denken. Unſere Feinde werden immer die Mög-
lichkeit haben, über unſeren böſen Willen zu klagen, während
wir in Wirklichkeit eben einfach nicht können. Wenn nicht
nur Herr Nitti, ſondern auch Lloyd George eine Zeitlang Nei-
gung zeigte, einiges Verſtändnis für unſere Not und Zwangs-
lage im Ruhrgebiet aufzubringen, ſo konnte man die Hoff-
nung hegen, die tatſächlichen Zuſtände in Deutſchland und ge-
wiſſe volkspſychologiſche Rückſichten und Erwägungen würden
[Spaltenumbruch] auch ſonſt in die Wagſchale gelegt werden. Es iſt nun einmal
Wahnſinn, von einem körperlich, ſeeliſch und wirtſchaftlich ſo
heruntergekommenen Volke, wie wir es heute ſind, dieſelben
Leiſtungen zu erwarten und zu verlangen, wie ſie allenfalls ein
geſundes, kraftvolles und an Umfang und Bevölkerungszahl
unvermindertes Deutſchland auf der Höhe ſeiner Friedensleiſtungs-
fähigkeit hätte aufbringen können. Aber dieſe Hoffnung iſt nun
leider verſchwunden. Nitti hat ſich nicht durchzuſetzen vermocht
und Lloyd George hat ſich von Millerand „klein kriegen“ laſſen.
Der Franke wirft immer wieder ſeinen ehernen Degen in die
Wage der Gerechtigkeit: ſo ſteht es geſchrieben im Vertrag von
Verſailles, und ſo muß es erfüllt werden, wenn es aber nicht
gutwillig erfüllt wird, ſo werden wir es erzwingen!

Gewiß wäre es ein Fortſchritt, wenn jetzt die Höhe der
Wiedergutmachungsſumme überhaupt feſtgeſetzt würde; und wenn
es Lloyd George gelungen wäre, dafür die Summe von 50 Milli-
arden Goldmark durchzuſetzen, ſo hätte man einigermaßen auf-
atmen können; 90 Milliarden gehen ſchon weit über die Grenze
unſerer Leiſtungsfähigkeit, auch bei ſehr optimiſtiſcher Berech-
nung, hinaus. Gewiß iſt es ferner ein Fortſchritt, daß demnächſt
in Spa direkte Verhandlungen zwiſchen den Regierungschefs ge-
pflogen werden ſollen. Daß dieſe Verhandlungen in Spa nach Art
derer von Verſailles geführt werden ſollen, wonach die deutſchen
Staatsmänner lediglich das Recht haben, formulierte Vorſchläge
zu unterbreiten, um darauf das Ja oder Nein des Feindes ent-
gegenzunehmen, wird erfreulicherweiſe beſtritten. Das iſt
alſo eine getreue Fortſetzung der unfruchtbaren Sorte
von Verhandlungen, die man in Verſailles gepflogen
hat. Unter allen Umſtänden aber werden wir weiterleben
müſſen unter dem furchtbaren Druck der Drohungen, von
denen auch die Erklärung von San Remo wieder begleitet iſt.
Dieſe Drohungen bedeuten im Grunde eine gröbliche Verletzung
der Zuſicherungen, die bei der Unterzeichnung des Verſailler
Schlußprotokolls gegeben worden ſind, denn damals wurde aus-
drücklich feſtgeſtellt, daß, wenn der Friede einmal in Kraft ge-
treten wäre, militäriſche Maßregeln nicht mehr in Frage kommen
könnten. Unter dieſem Geſichtspunkt war ja auch die Beſetzung
der Mainſtädte einfach ein Friedensbruch, eine Wiederaufnahme
des Kriegszuſtandes und offenbar hätte man es in Paris gar
nicht ungern geſehen, wenn die abſichtsvolle Brutalität dieſer
Beſetzung von deutſcher Seite ſo aufgefaßt worden wäre. Die
Herren in San Remo haben ſich gehütet, das Kind beim rechten
Namen zu nennen; in Wirklichkeit aber wird nicht nur die Be-
ſetzung der Mainſtädte nachträglich legaliſiert, ſondern es wird
mit der für ſpätere Fälle angedrohten Beſetzung ein neues Recht
oder vielmehr ein neues Unrecht geſchaffen, dem wir leider nichts
entgegenzuſetzen haben, als den ganzen Ingrimm eines mißhan-
delten und wehrloſen Volkes.

So ſtellte ſich die Erklärung dar, von der man uns glauben
machen will, in der Sache habe Nitti, in der Form Millerand
geſiegt. Es ſieht leider ganz ſo aus, als ob es umgekehrt wäre,
als ob es der italieniſchen Politik gelungen wäre, die franzö-
ſiſchen Rohheiten in eine etwas mildere Form zu kleiden, aber
nicht ihnen irgendeine ihrer Spitzen abzubrechen. Es iſt mög-
lich, daß wir uns darin täuſchen, und wir möchten von Herzen
wünſchen, daß es der Fall wäre.



Dokumente zur Geſchichte des Sozialis-
mus und der ſozialen Revolution.
1847. Aus dem kommuniſtiſchen Manifeſt.
(Schluß.)

Die Waffen, womit die Bourgeoiſie den Feudalismus zu
Boden geſchlagen hat, richten ſich jetzt gegen die Bourgeoiſie ſelbſt.

Aber die Bourgeoiſie hat nicht nur die Waffen geſchmiedet,
die ihr den Tod bringen; ſie hat auch die Männer erzeugt, die
dieſe Waffen führen werden — die modernen Arbeiter, die
Proletarier.

In demſelben Maße, worin ſich die Bourgeoiſie, d. h. das
Kapital, entwickelt, in demſelben Maße entwickelt ſich das Pro-
letariat, die Klaſſe der modernen Arbeiter, die nur ſo lange
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[Seite 162[162]/0004] Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920 ſichert und es erſcheint auch durchaus glaubhaft, daß auf den Finanzämtern „fieberhaft“ gearbeitet werde, daß aber die gefor- derten Leiſtungen über Menſchenkräfte einfach gehen. Iſt dem ſo, ſo beweiſt das, daß der Erzbergerſche Finanz- und Steuerplan eben doch falſch war, daß man ſtatt der Fülle von Steuergeſetzen, die auf Jahre hinaus toter Buchſtabe bleiben und lediglich nur als Drohung oder auch als Verführung wirken, ein einziges, großes und ergiebiges Steuergeſetz hätte machen müſſen, das innerhalb einiger Monate auszuführen geweſen wäre. Auf hun- dert anderen Gebieten aber wird überhaupt nicht gearbeitet oder jedenfalls entfernt nicht ſo viel, wie gearbeitet werden müßte. Als der Kapp-Putſch wie ein Hagelwetter über uns hereinbrach, wurde geſagt, gerade jetzt hätte der Geneſungsprozeß begonnen; es wäre z. B. Ausſicht geweſen, daß die Beamten der Reichspoſt- verwaltung zur Neunſtundenarbeit ſich entſchloſſen hätten. Liegen die Dinge ſo, dann iſt der Kapp-Putſch wirklich auch unter dieſem Geſichtspunkte ein namenloſes Unglück geweſen. Aber es ſind Zweifel daran geſtattet, ob dieſe Hoffnungen ſich erfüllt hätten. Denn warum ſollen die Poſtbeamten allein eine Ausnahme machen, ſo lange der Zug der Zeit ausgeſprochenerweiſe dahin geht, für ein möglichſt geringes Maß von Arbeit ſich eine Be- zahlung zu erzwingen, die eine über den Friedensſtand weit hinausgehende Lebenshaltung geſtattet. Und das iſt doch die Stgnatur unſerer Tage. Wir müßten doppelt ſo viel arbeiten als in Friedenszeiten und müßten uns mit der Hälfte des Lohnes begnügen, wenn auch nur ein Anfang gemacht werden ſoll, mit der Erfüllung der Friedensbedingungen. Statt deſſen iſt die Arbeitsleiſtung durchſchnittlich auf etwas weniger als die Hälfte herabgeſetzt, die Löhne aber ſind zum mindeſten verdoppelt, in vielen Fällen verdrei- ja ſogar verſünffacht. Das iſt ein Zuſtand, der nur mit einer Kataſtrophe enden kann und nur wer dieſe Kataſtrophe will, weil ſie ſeinen größeren Zwecken dienlich er- ſcheint, kann über dieſen Zuſtand hinweggehen. Nun gibt es allerdings auch Gebiete, auf denen nicht unmittelbar finanzielle Leiſtungen in Frage kommen, wie z. B. das der Abrüſtung und Entwaffnung. Aber es gibt nur eine Regierungsautorität und die ſtaatliche Energie, die auf dem einen Gebiete verſagt, kann auf dem anderen Gebiete ſich nicht bewähren. Und ſo mag es ſchon richtig ſein, daß unſere Feinde Grund zur Unzufriedenheit haben, ſo lange ſie eben nur die tatſächlichen Leiſtungen an den ungeheueren Forderungen meſſen. Betrachtet man die abſoluten Zahlen und Friſten, ſo iſt ſelbſtverſtändlich immerhin noch Gewaltiges geleiſtet worden. Der neue Reichsfinanzminiſter hat am 26. April in der National- verſammlung darauf hingewieſen, daß ſchon im außerordentlichen haushalt für 1919 rund 17 Milliarden Mark an Leiſtungen aus dem Friedensvertrag eingeſtellt waren; im neuen Etat ſind 5 Milliarden vorgeſehen, man rechnet aber damit, daß dieſe Summe nicht reicht. Hinter dieſen Ziffern ſtehen die ungeheuren Werte, die bezeits unſerer Volkswirtſchaft entzogen und in die Hände der Entente gelangt ſind, z. B. unſere Handelsflotte, das liquidierte Privateigentum im Ausland, das zurückgelaſſene Heeresgut u. a. m. Die Lieſerungen an Kohlen, Kali, Maſchinen, Vieh, die der Fiskus an die Privaten hat bezahlen müſſen. Dazu kommen die Koſten für die Beſatzungsarmee, für die wir bereits etwa 3 Milliarden Mark aufzubringen hatten, und die Koſten für die zahlreichen Kommiſſionen der alliierten und aſſoziierten Mächte, die durchaus nicht zu unterſchätzen ſind, da beiſpiels- weiſe ein Oberſt zurzeit ein monatliches Mark-Einkommen von 10,000 Mark bezieht, ein einſacher Soldat von 2000 Mark. Wenn das bisher Geleiſtete alles an das Maß unſerer for- mellen Verpflichtungen und der Erwartungen unſerer Feinde nicht heranreicht, ſo hat das eine doppelte Urſache: Die eine iſt der ſchwere Krankheitszuſtand, in dem der Körper unſeres Wirt- ſchaftslebens ſich befindet, die andere die Unerfüllbarkeit der Bedingungen des Friedensvertrages. Solange dieſe Momente nicht gewürdigt werden, iſt an eine wirkliche Entſpannung der Lage nicht zu denken. Unſere Feinde werden immer die Mög- lichkeit haben, über unſeren böſen Willen zu klagen, während wir in Wirklichkeit eben einfach nicht können. Wenn nicht nur Herr Nitti, ſondern auch Lloyd George eine Zeitlang Nei- gung zeigte, einiges Verſtändnis für unſere Not und Zwangs- lage im Ruhrgebiet aufzubringen, ſo konnte man die Hoff- nung hegen, die tatſächlichen Zuſtände in Deutſchland und ge- wiſſe volkspſychologiſche Rückſichten und Erwägungen würden auch ſonſt in die Wagſchale gelegt werden. Es iſt nun einmal Wahnſinn, von einem körperlich, ſeeliſch und wirtſchaftlich ſo heruntergekommenen Volke, wie wir es heute ſind, dieſelben Leiſtungen zu erwarten und zu verlangen, wie ſie allenfalls ein geſundes, kraftvolles und an Umfang und Bevölkerungszahl unvermindertes Deutſchland auf der Höhe ſeiner Friedensleiſtungs- fähigkeit hätte aufbringen können. Aber dieſe Hoffnung iſt nun leider verſchwunden. Nitti hat ſich nicht durchzuſetzen vermocht und Lloyd George hat ſich von Millerand „klein kriegen“ laſſen. Der Franke wirft immer wieder ſeinen ehernen Degen in die Wage der Gerechtigkeit: ſo ſteht es geſchrieben im Vertrag von Verſailles, und ſo muß es erfüllt werden, wenn es aber nicht gutwillig erfüllt wird, ſo werden wir es erzwingen! Gewiß wäre es ein Fortſchritt, wenn jetzt die Höhe der Wiedergutmachungsſumme überhaupt feſtgeſetzt würde; und wenn es Lloyd George gelungen wäre, dafür die Summe von 50 Milli- arden Goldmark durchzuſetzen, ſo hätte man einigermaßen auf- atmen können; 90 Milliarden gehen ſchon weit über die Grenze unſerer Leiſtungsfähigkeit, auch bei ſehr optimiſtiſcher Berech- nung, hinaus. Gewiß iſt es ferner ein Fortſchritt, daß demnächſt in Spa direkte Verhandlungen zwiſchen den Regierungschefs ge- pflogen werden ſollen. Daß dieſe Verhandlungen in Spa nach Art derer von Verſailles geführt werden ſollen, wonach die deutſchen Staatsmänner lediglich das Recht haben, formulierte Vorſchläge zu unterbreiten, um darauf das Ja oder Nein des Feindes ent- gegenzunehmen, wird erfreulicherweiſe beſtritten. Das iſt alſo eine getreue Fortſetzung der unfruchtbaren Sorte von Verhandlungen, die man in Verſailles gepflogen hat. Unter allen Umſtänden aber werden wir weiterleben müſſen unter dem furchtbaren Druck der Drohungen, von denen auch die Erklärung von San Remo wieder begleitet iſt. Dieſe Drohungen bedeuten im Grunde eine gröbliche Verletzung der Zuſicherungen, die bei der Unterzeichnung des Verſailler Schlußprotokolls gegeben worden ſind, denn damals wurde aus- drücklich feſtgeſtellt, daß, wenn der Friede einmal in Kraft ge- treten wäre, militäriſche Maßregeln nicht mehr in Frage kommen könnten. Unter dieſem Geſichtspunkt war ja auch die Beſetzung der Mainſtädte einfach ein Friedensbruch, eine Wiederaufnahme des Kriegszuſtandes und offenbar hätte man es in Paris gar nicht ungern geſehen, wenn die abſichtsvolle Brutalität dieſer Beſetzung von deutſcher Seite ſo aufgefaßt worden wäre. Die Herren in San Remo haben ſich gehütet, das Kind beim rechten Namen zu nennen; in Wirklichkeit aber wird nicht nur die Be- ſetzung der Mainſtädte nachträglich legaliſiert, ſondern es wird mit der für ſpätere Fälle angedrohten Beſetzung ein neues Recht oder vielmehr ein neues Unrecht geſchaffen, dem wir leider nichts entgegenzuſetzen haben, als den ganzen Ingrimm eines mißhan- delten und wehrloſen Volkes. So ſtellte ſich die Erklärung dar, von der man uns glauben machen will, in der Sache habe Nitti, in der Form Millerand geſiegt. Es ſieht leider ganz ſo aus, als ob es umgekehrt wäre, als ob es der italieniſchen Politik gelungen wäre, die franzö- ſiſchen Rohheiten in eine etwas mildere Form zu kleiden, aber nicht ihnen irgendeine ihrer Spitzen abzubrechen. Es iſt mög- lich, daß wir uns darin täuſchen, und wir möchten von Herzen wünſchen, daß es der Fall wäre. HD. Dokumente zur Geſchichte des Sozialis- mus und der ſozialen Revolution. 1847. Aus dem kommuniſtiſchen Manifeſt. (Schluß.) Die Waffen, womit die Bourgeoiſie den Feudalismus zu Boden geſchlagen hat, richten ſich jetzt gegen die Bourgeoiſie ſelbſt. Aber die Bourgeoiſie hat nicht nur die Waffen geſchmiedet, die ihr den Tod bringen; ſie hat auch die Männer erzeugt, die dieſe Waffen führen werden — die modernen Arbeiter, die Proletarier. In demſelben Maße, worin ſich die Bourgeoiſie, d. h. das Kapital, entwickelt, in demſelben Maße entwickelt ſich das Pro- letariat, die Klaſſe der modernen Arbeiter, die nur ſo lange leben, als ſie Arbeit finden, und die nur ſo lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Dieſe Arbeiter, die ſich ſtückweis verkanfen müſſen, ſind eine Ware wie jeder andere

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920, S. Seite 162[162]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920/4>, abgerufen am 23.11.2024.