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Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.

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[Spaltenumbruch] bewußt der Macht des Willens preisgegebenen, diese star-
ken, gesunden, von keinem Verfall berührten Naturen als
die wahrhaft glücklichen: die Herrenmenschen. Das heroische
Sein und Menschentum sind allein mit dem Leben einver-
standen, um in höchster Intensität des Lebensgefühls die
höchste Fruchtbarkeit aus dem Dasein zu ziehen. Freilich
hat die bisherige Menschheitskultur nur dazu geführt, die
Möglichkeit der Erschaffung des Herrenmenschen zu unter-
graben; sie hat auf steten Verfall hingearbeitet. Um diese
Dekadenz aufzuhalten, müssen alle Werte umgewertet wer-
den. Thomas Mann schloß sich dieser Anschauung an. Und
so offenbarte sich ihm das Leben scharf als eine große
Gegensätzlichkeit, wie er es persönlich täglich erfuhr. Auf-
steigenden Lebensprozessen standen untergehende gegen-
über, den dem Willen unterworfenen, praktischen, skrupel-
losen, brutalen Tatsachenmenschen zarte, empfindliche, lei-
dende, verfeinerte Künstlernaturen, der Schönheit die Häß-
lichkeit, der Gesundheit die Krankheit, der Jugend das
Alter, "den Blonden, Blauäugigen, hellen Lebendigen" die
einsamen Grübler und Träumer. Der ewige Dualismus
des Seins hatte seine Erklärung gefunden. Er aber wur-
zelte als Mensch in der einen Sphäre, als Künstler in der
anderen; ihn zerriß der ewige Dualismus täglich neu. Auf
der einen Seite macht ihn ruhelos die innerlich gebotege
Notwendigkeit des Schaffens: nach Wahrheit und Schönheit
zu streben in der Form des Kunstwerkes, das unpersönlich
wirken soll, in der Wesensart des Künstlertums, das "ge-
fühllos wie der Gott der Natur über den Dingen thronen"
und im Moment des Erlebens das Erleben sofort beob-
achten, kritisieren, verobjektivieren soll, nach dem Wort:
"Hellsehen noch durch den Tränenschleier des Gefühls hin-
durch, erkennen, merken, beobachten und das Beobachtete
lächelnd beiseitelegen müssen noch in Augenblicken, wo
Hände sich umschlingen, Lippen sich finden, wo des Men-
schen Blick, erblindet von Empfindung, sich bricht." -- Auf
der anderen Seite treibt seine Natur ihn, dies Hellsehen
und Ausnutzen des Erlebens infam, niederträchtig, em-
pörend zu finden und ewig die Sehnsucht in sich zu tragen:
"Ach einmal nur eine Nacht wie diese kein Künstler sein,
sondern ein Mensch! Einmal dem Fluche entfliehen ...
einmal in treuherzigem und schlichtem Gefühl leben, lieben
und loben! Einmal unter euch sein, in euch sein, ihr sein,
ihr Lebendigen!" Doch das Bewußtsein bleibt schwermut-
weckend: "Es gibt keine Annäherung, keine Verständigung,
keine Hoffnung!"

Der nie nachlassende Geistes- und Seelenkampf fand
Worte in den Werken. Sie sind Bekenntnisse Von Anfang
an. Der neunzehnjährige Mitarbeiter von M. G. Conrads
Münchener "Gesellschaft" schleß sich zwar noch an die Na-
turalisten an und die erste Novelle "Gefallen" folgte
für die Einkleidungsform Maupassant. Aber schon der
Dreiundzwanzigjährige fand mit den Novellen "Der
kleine Herr Friedemann
" zum Eigenausdruck
und zum Eigengehalt, zum Persönlichsten seines Wesens
und Lebens: der Bewußtheit seines Künstlertums. Darauf
war fortan seine gesamte Kraft eingestellt. Erkannt wurde
"die einzige Waffe, die der Reizbarkeit des Künstlers ge-
geben ist, um damit auf die Ereignisse und Erlehnisse zu
reagieren, sich ihrer damit auf schöne Art zu erwehren, ist
der Ausdruck, ist die Bezeichnung." Und "nicht die Gabe
der Erfindung, sondern die der Beseelung macht den Dich-
ter", Beobachtung, Realismus nur Mittel, nicht Zweck,
Symbolisierung des eigenen Innern -- nach Hebhels schö-
nem Worte -- das Wesen aller großen Kunst. Diese Er-
kenntnis von der Beseelung hob die Gefahr. die jenes
Wissen um den Wert des Wortes für alles künstlerische
Schaffen in sich barg, auf: die Gefahr absoluten Aestheten-
tums, snobistischen Gehabes. Die Wirklichkeitsnähe, die
Sehnsucht nach dem Glück des nicht reflektierenden Men-
schen führte dazu, nicht einseitigem Artistentum zu ver-
fallen, sondern die Hoheit der Liebe. den Wert aller Mensch-
lichkeit anzuerkennen. Damit war der Weg zur Reife ge-
geben. Auf diesem Wege lagen die Etappen der Entwick-
lung mit ihren Haltepunkten der Ironie, Satire und
Karikatur, denen der Dichter nicht immer auswich. Aber
[Spaltenumbruch] wem ist allseitige Gerechtigkeit von Jugend auf gegeben?
Soweit sie im Bereiche dieser Natur lag, ward sie gespendet.

Schon in den "Buddenbrooks". dem Meisterwerk
eines Sechsundzwanzigjährigen, der in dem "Verfall einer
Familie" die Geschichte seines eigenen Hauses einer Idee
unterwarf: der Idee, daß des Künstlers Lebensform un-
trennbar mit der Dekadenz verbunden und der Künstler
als Mensch zum Leben im Alltagssinne unbrauchbar ist.
Die "Buddenbrooks" wurden zu einer Entstehungsgeschichte
des Künstlers. Aus vier Generationen wuchs das Künstler-
tum heraus: als er geboren, freilich in so starkem indivi-
duellen Verfall, zweifelt man, ob man den Untergang des
reichen, gesunden Patriziergeschlechtes im heimatlichen
Lübeck mehr beklagen oder sich über das Werden einer
künstlerischen Kraft freuen soll? Sicheres Können bewäl-
tigte alle von dem Stoffe gebotenen Aufgaben mit starker
Fähigkeit, einen Charakter mit all seinen merkwürdigen
Ausstrahlungen, Reibungen, Komplikationen von innen
her zu erhellen mit großem Nuancenreichtum und einem
Vortrag, gemessen, ruhig, breit, fast chronikartig, doch voll
innerer Musik, voll eines geheimen Rhythmus und voll
feinster, geschmackvoll verwandter Kunstmittel, unter denen
besonders die Verwendung leitmotivischer Ausdrücke für
einzelne Figuren, Gesten, Bewegungen nach dem Vorgange
von Dickens und Otto Ludwig die Symbolik der Sprache,
des sicher treffenden Wortes auffielen. Seltene Freude an
der Prägnanz des Stils entzückte: es lag Weltmannsart
in dieser klaren, doch nirgends aufdringlichen Ausdrucks-
weise, hanseatisches Patriziertum, alte Familienkultur mit
all der Zurückhaltung nordischer Gotik, ohne jede roma-
nische Prachtentfaltung und ohne jede Sucht, mehr zu schei-
nen, als die Sache gibt. Bei aller Ironie und Satire, bei
aller im Blut liegenden Neigung zur Karikatur und Gro-
teske, die jedoch nie die Grenzen der Vornehmheit über-
schritt, wurde sachlich chorakterisiert und nur das Notwen-
dige gegeben, nicht um zu idealisieren, sondern um anschau-
lich und drastisch zu wirken. Kühle Reserve wohnte neben
heimlichem Behagen, spöttische Herzensneigung neben naiver
Jugendfreude, beseelte Männlichkeit neben tief durchemp-
fundener Menschlichkeit. An Th. Fontanes Art ward ge-
mahnt. Das kompositorische Talent ordnete mühelos detail-
reiche Gruppen, so daß ein Kulturgemälde erstand von der
lebendigen Kraft eines unzerstörbaren Organismus.

(Schluß folgt.)

Feuilleton
Der Einsame.

"Che senza speme vivemo in disio."
[Dante, J. IV.]

I.
Ich habe meine Toten begraben -- lange schon,
So lang, so lang! -- die wenigen, die bei mir
In Liebe weilten. Nun bin ich
Wieder alleine und gehe schweigend
Den Weg durch fremde, feindliche Menschenmassen
Mit bösen Augen, ob nicht ein einzig Antlitz.
Nur eines, im Vorübergehen
Freundlich mich anschauen möchte -- eines! --
II.
Was ist geschehen? -- Ist's denn dieselbe Sonne.
Die freudlos eben noch über welke Blätter
Geschienen? Nicht dasselbe Vöglein,
Das im entlaubten Gebüsche frierend
Sein einsam Liedlein zirpte? Derselbe Windstoß
Nicht noch, der pfeifend über die kahlen Stoppeln
Dahinfuhr? Dasselbe. kalte Herbstgrau --?
Ist nicht der Lenz wie ein goldner Regen

Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920
[Spaltenumbruch] bewußt der Macht des Willens preisgegebenen, dieſe ſtar-
ken, geſunden, von keinem Verfall berührten Naturen als
die wahrhaft glücklichen: die Herrenmenſchen. Das heroiſche
Sein und Menſchentum ſind allein mit dem Leben einver-
ſtanden, um in höchſter Intenſität des Lebensgefühls die
höchſte Fruchtbarkeit aus dem Daſein zu ziehen. Freilich
hat die bisherige Menſchheitskultur nur dazu geführt, die
Möglichkeit der Erſchaffung des Herrenmenſchen zu unter-
graben; ſie hat auf ſteten Verfall hingearbeitet. Um dieſe
Dekadenz aufzuhalten, müſſen alle Werte umgewertet wer-
den. Thomas Mann ſchloß ſich dieſer Anſchauung an. Und
ſo offenbarte ſich ihm das Leben ſcharf als eine große
Gegenſätzlichkeit, wie er es perſönlich täglich erfuhr. Auf-
ſteigenden Lebensprozeſſen ſtanden untergehende gegen-
über, den dem Willen unterworfenen, praktiſchen, ſkrupel-
loſen, brutalen Tatſachenmenſchen zarte, empfindliche, lei-
dende, verfeinerte Künſtlernaturen, der Schönheit die Häß-
lichkeit, der Geſundheit die Krankheit, der Jugend das
Alter, „den Blonden, Blauäugigen, hellen Lebendigen“ die
einſamen Grübler und Träumer. Der ewige Dualismus
des Seins hatte ſeine Erklärung gefunden. Er aber wur-
zelte als Menſch in der einen Sphäre, als Künſtler in der
anderen; ihn zerriß der ewige Dualismus täglich neu. Auf
der einen Seite macht ihn ruhelos die innerlich gebotege
Notwendigkeit des Schaffens: nach Wahrheit und Schönheit
zu ſtreben in der Form des Kunſtwerkes, das unperſönlich
wirken ſoll, in der Weſensart des Künſtlertums, das „ge-
fühllos wie der Gott der Natur über den Dingen thronen“
und im Moment des Erlebens das Erleben ſofort beob-
achten, kritiſieren, verobjektivieren ſoll, nach dem Wort:
„Hellſehen noch durch den Tränenſchleier des Gefühls hin-
durch, erkennen, merken, beobachten und das Beobachtete
lächelnd beiſeitelegen müſſen noch in Augenblicken, wo
Hände ſich umſchlingen, Lippen ſich finden, wo des Men-
ſchen Blick, erblindet von Empfindung, ſich bricht.“ — Auf
der anderen Seite treibt ſeine Natur ihn, dies Hellſehen
und Ausnutzen des Erlebens infam, niederträchtig, em-
pörend zu finden und ewig die Sehnſucht in ſich zu tragen:
„Ach einmal nur eine Nacht wie dieſe kein Künſtler ſein,
ſondern ein Menſch! Einmal dem Fluche entfliehen ...
einmal in treuherzigem und ſchlichtem Gefühl leben, lieben
und loben! Einmal unter euch ſein, in euch ſein, ihr ſein,
ihr Lebendigen!“ Doch das Bewußtſein bleibt ſchwermut-
weckend: „Es gibt keine Annäherung, keine Verſtändigung,
keine Hoffnung!“

Der nie nachlaſſende Geiſtes- und Seelenkampf fand
Worte in den Werken. Sie ſind Bekenntniſſe Von Anfang
an. Der neunzehnjährige Mitarbeiter von M. G. Conrads
Münchener „Geſellſchaft“ ſchleß ſich zwar noch an die Na-
turaliſten an und die erſte Novelle „Gefallen“ folgte
für die Einkleidungsform Maupaſſant. Aber ſchon der
Dreiundzwanzigjährige fand mit den Novellen „Der
kleine Herr Friedemann
“ zum Eigenausdruck
und zum Eigengehalt, zum Perſönlichſten ſeines Weſens
und Lebens: der Bewußtheit ſeines Künſtlertums. Darauf
war fortan ſeine geſamte Kraft eingeſtellt. Erkannt wurde
„die einzige Waffe, die der Reizbarkeit des Künſtlers ge-
geben iſt, um damit auf die Ereigniſſe und Erlehniſſe zu
reagieren, ſich ihrer damit auf ſchöne Art zu erwehren, iſt
der Ausdruck, iſt die Bezeichnung.“ Und „nicht die Gabe
der Erfindung, ſondern die der Beſeelung macht den Dich-
ter“, Beobachtung, Realismus nur Mittel, nicht Zweck,
Symboliſierung des eigenen Innern — nach Hebhels ſchö-
nem Worte — das Weſen aller großen Kunſt. Dieſe Er-
kenntnis von der Beſeelung hob die Gefahr. die jenes
Wiſſen um den Wert des Wortes für alles künſtleriſche
Schaffen in ſich barg, auf: die Gefahr abſoluten Aeſtheten-
tums, ſnobiſtiſchen Gehabes. Die Wirklichkeitsnähe, die
Sehnſucht nach dem Glück des nicht reflektierenden Men-
ſchen führte dazu, nicht einſeitigem Artiſtentum zu ver-
fallen, ſondern die Hoheit der Liebe. den Wert aller Menſch-
lichkeit anzuerkennen. Damit war der Weg zur Reife ge-
geben. Auf dieſem Wege lagen die Etappen der Entwick-
lung mit ihren Haltepunkten der Ironie, Satire und
Karikatur, denen der Dichter nicht immer auswich. Aber
[Spaltenumbruch] wem iſt allſeitige Gerechtigkeit von Jugend auf gegeben?
Soweit ſie im Bereiche dieſer Natur lag, ward ſie geſpendet.

Schon in den „Buddenbrooks“. dem Meiſterwerk
eines Sechsundzwanzigjährigen, der in dem „Verfall einer
Familie“ die Geſchichte ſeines eigenen Hauſes einer Idee
unterwarf: der Idee, daß des Künſtlers Lebensform un-
trennbar mit der Dekadenz verbunden und der Künſtler
als Menſch zum Leben im Alltagsſinne unbrauchbar iſt.
Die „Buddenbrooks“ wurden zu einer Entſtehungsgeſchichte
des Künſtlers. Aus vier Generationen wuchs das Künſtler-
tum heraus: als er geboren, freilich in ſo ſtarkem indivi-
duellen Verfall, zweifelt man, ob man den Untergang des
reichen, geſunden Patriziergeſchlechtes im heimatlichen
Lübeck mehr beklagen oder ſich über das Werden einer
künſtleriſchen Kraft freuen ſoll? Sicheres Können bewäl-
tigte alle von dem Stoffe gebotenen Aufgaben mit ſtarker
Fähigkeit, einen Charakter mit all ſeinen merkwürdigen
Ausſtrahlungen, Reibungen, Komplikationen von innen
her zu erhellen mit großem Nuancenreichtum und einem
Vortrag, gemeſſen, ruhig, breit, faſt chronikartig, doch voll
innerer Muſik, voll eines geheimen Rhythmus und voll
feinſter, geſchmackvoll verwandter Kunſtmittel, unter denen
beſonders die Verwendung leitmotiviſcher Ausdrücke für
einzelne Figuren, Geſten, Bewegungen nach dem Vorgange
von Dickens und Otto Ludwig die Symbolik der Sprache,
des ſicher treffenden Wortes auffielen. Seltene Freude an
der Prägnanz des Stils entzückte: es lag Weltmannsart
in dieſer klaren, doch nirgends aufdringlichen Ausdrucks-
weiſe, hanſeatiſches Patriziertum, alte Familienkultur mit
all der Zurückhaltung nordiſcher Gotik, ohne jede roma-
niſche Prachtentfaltung und ohne jede Sucht, mehr zu ſchei-
nen, als die Sache gibt. Bei aller Ironie und Satire, bei
aller im Blut liegenden Neigung zur Karikatur und Gro-
teske, die jedoch nie die Grenzen der Vornehmheit über-
ſchritt, wurde ſachlich chorakteriſiert und nur das Notwen-
dige gegeben, nicht um zu idealiſieren, ſondern um anſchau-
lich und draſtiſch zu wirken. Kühle Reſerve wohnte neben
heimlichem Behagen, ſpöttiſche Herzensneigung neben naiver
Jugendfreude, beſeelte Männlichkeit neben tief durchemp-
fundener Menſchlichkeit. An Th. Fontanes Art ward ge-
mahnt. Das kompoſitoriſche Talent ordnete mühelos detail-
reiche Gruppen, ſo daß ein Kulturgemälde erſtand von der
lebendigen Kraft eines unzerſtörbaren Organismus.

(Schluß folgt.)

Feuilleton
Der Einſame.

„Che senza speme vivemo in disio.“
[Dante, J. IV.]

I.
Ich habe meine Toten begraben — lange ſchon,
So lang, ſo lang! — die wenigen, die bei mir
In Liebe weilten. Nun bin ich
Wieder alleine und gehe ſchweigend
Den Weg durch fremde, feindliche Menſchenmaſſen
Mit böſen Augen, ob nicht ein einzig Antlitz.
Nur eines, im Vorübergehen
Freundlich mich anſchauen möchte — eines! —
II.
Was iſt geſchehen? — Iſt’s denn dieſelbe Sonne.
Die freudlos eben noch über welke Blätter
Geſchienen? Nicht dasſelbe Vöglein,
Das im entlaubten Gebüſche frierend
Sein einſam Liedlein zirpte? Derſelbe Windſtoß
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Iſt nicht der Lenz wie ein goldner Regen
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[Seite 168[168]/0010] Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920 bewußt der Macht des Willens preisgegebenen, dieſe ſtar- ken, geſunden, von keinem Verfall berührten Naturen als die wahrhaft glücklichen: die Herrenmenſchen. Das heroiſche Sein und Menſchentum ſind allein mit dem Leben einver- ſtanden, um in höchſter Intenſität des Lebensgefühls die höchſte Fruchtbarkeit aus dem Daſein zu ziehen. Freilich hat die bisherige Menſchheitskultur nur dazu geführt, die Möglichkeit der Erſchaffung des Herrenmenſchen zu unter- graben; ſie hat auf ſteten Verfall hingearbeitet. Um dieſe Dekadenz aufzuhalten, müſſen alle Werte umgewertet wer- den. Thomas Mann ſchloß ſich dieſer Anſchauung an. Und ſo offenbarte ſich ihm das Leben ſcharf als eine große Gegenſätzlichkeit, wie er es perſönlich täglich erfuhr. Auf- ſteigenden Lebensprozeſſen ſtanden untergehende gegen- über, den dem Willen unterworfenen, praktiſchen, ſkrupel- loſen, brutalen Tatſachenmenſchen zarte, empfindliche, lei- dende, verfeinerte Künſtlernaturen, der Schönheit die Häß- lichkeit, der Geſundheit die Krankheit, der Jugend das Alter, „den Blonden, Blauäugigen, hellen Lebendigen“ die einſamen Grübler und Träumer. Der ewige Dualismus des Seins hatte ſeine Erklärung gefunden. Er aber wur- zelte als Menſch in der einen Sphäre, als Künſtler in der anderen; ihn zerriß der ewige Dualismus täglich neu. Auf der einen Seite macht ihn ruhelos die innerlich gebotege Notwendigkeit des Schaffens: nach Wahrheit und Schönheit zu ſtreben in der Form des Kunſtwerkes, das unperſönlich wirken ſoll, in der Weſensart des Künſtlertums, das „ge- fühllos wie der Gott der Natur über den Dingen thronen“ und im Moment des Erlebens das Erleben ſofort beob- achten, kritiſieren, verobjektivieren ſoll, nach dem Wort: „Hellſehen noch durch den Tränenſchleier des Gefühls hin- durch, erkennen, merken, beobachten und das Beobachtete lächelnd beiſeitelegen müſſen noch in Augenblicken, wo Hände ſich umſchlingen, Lippen ſich finden, wo des Men- ſchen Blick, erblindet von Empfindung, ſich bricht.“ — Auf der anderen Seite treibt ſeine Natur ihn, dies Hellſehen und Ausnutzen des Erlebens infam, niederträchtig, em- pörend zu finden und ewig die Sehnſucht in ſich zu tragen: „Ach einmal nur eine Nacht wie dieſe kein Künſtler ſein, ſondern ein Menſch! Einmal dem Fluche entfliehen ... einmal in treuherzigem und ſchlichtem Gefühl leben, lieben und loben! Einmal unter euch ſein, in euch ſein, ihr ſein, ihr Lebendigen!“ Doch das Bewußtſein bleibt ſchwermut- weckend: „Es gibt keine Annäherung, keine Verſtändigung, keine Hoffnung!“ Der nie nachlaſſende Geiſtes- und Seelenkampf fand Worte in den Werken. Sie ſind Bekenntniſſe Von Anfang an. Der neunzehnjährige Mitarbeiter von M. G. Conrads Münchener „Geſellſchaft“ ſchleß ſich zwar noch an die Na- turaliſten an und die erſte Novelle „Gefallen“ folgte für die Einkleidungsform Maupaſſant. Aber ſchon der Dreiundzwanzigjährige fand mit den Novellen „Der kleine Herr Friedemann“ zum Eigenausdruck und zum Eigengehalt, zum Perſönlichſten ſeines Weſens und Lebens: der Bewußtheit ſeines Künſtlertums. Darauf war fortan ſeine geſamte Kraft eingeſtellt. Erkannt wurde „die einzige Waffe, die der Reizbarkeit des Künſtlers ge- geben iſt, um damit auf die Ereigniſſe und Erlehniſſe zu reagieren, ſich ihrer damit auf ſchöne Art zu erwehren, iſt der Ausdruck, iſt die Bezeichnung.“ Und „nicht die Gabe der Erfindung, ſondern die der Beſeelung macht den Dich- ter“, Beobachtung, Realismus nur Mittel, nicht Zweck, Symboliſierung des eigenen Innern — nach Hebhels ſchö- nem Worte — das Weſen aller großen Kunſt. Dieſe Er- kenntnis von der Beſeelung hob die Gefahr. die jenes Wiſſen um den Wert des Wortes für alles künſtleriſche Schaffen in ſich barg, auf: die Gefahr abſoluten Aeſtheten- tums, ſnobiſtiſchen Gehabes. Die Wirklichkeitsnähe, die Sehnſucht nach dem Glück des nicht reflektierenden Men- ſchen führte dazu, nicht einſeitigem Artiſtentum zu ver- fallen, ſondern die Hoheit der Liebe. den Wert aller Menſch- lichkeit anzuerkennen. Damit war der Weg zur Reife ge- geben. Auf dieſem Wege lagen die Etappen der Entwick- lung mit ihren Haltepunkten der Ironie, Satire und Karikatur, denen der Dichter nicht immer auswich. Aber wem iſt allſeitige Gerechtigkeit von Jugend auf gegeben? Soweit ſie im Bereiche dieſer Natur lag, ward ſie geſpendet. Schon in den „Buddenbrooks“. dem Meiſterwerk eines Sechsundzwanzigjährigen, der in dem „Verfall einer Familie“ die Geſchichte ſeines eigenen Hauſes einer Idee unterwarf: der Idee, daß des Künſtlers Lebensform un- trennbar mit der Dekadenz verbunden und der Künſtler als Menſch zum Leben im Alltagsſinne unbrauchbar iſt. Die „Buddenbrooks“ wurden zu einer Entſtehungsgeſchichte des Künſtlers. Aus vier Generationen wuchs das Künſtler- tum heraus: als er geboren, freilich in ſo ſtarkem indivi- duellen Verfall, zweifelt man, ob man den Untergang des reichen, geſunden Patriziergeſchlechtes im heimatlichen Lübeck mehr beklagen oder ſich über das Werden einer künſtleriſchen Kraft freuen ſoll? Sicheres Können bewäl- tigte alle von dem Stoffe gebotenen Aufgaben mit ſtarker Fähigkeit, einen Charakter mit all ſeinen merkwürdigen Ausſtrahlungen, Reibungen, Komplikationen von innen her zu erhellen mit großem Nuancenreichtum und einem Vortrag, gemeſſen, ruhig, breit, faſt chronikartig, doch voll innerer Muſik, voll eines geheimen Rhythmus und voll feinſter, geſchmackvoll verwandter Kunſtmittel, unter denen beſonders die Verwendung leitmotiviſcher Ausdrücke für einzelne Figuren, Geſten, Bewegungen nach dem Vorgange von Dickens und Otto Ludwig die Symbolik der Sprache, des ſicher treffenden Wortes auffielen. Seltene Freude an der Prägnanz des Stils entzückte: es lag Weltmannsart in dieſer klaren, doch nirgends aufdringlichen Ausdrucks- weiſe, hanſeatiſches Patriziertum, alte Familienkultur mit all der Zurückhaltung nordiſcher Gotik, ohne jede roma- niſche Prachtentfaltung und ohne jede Sucht, mehr zu ſchei- nen, als die Sache gibt. Bei aller Ironie und Satire, bei aller im Blut liegenden Neigung zur Karikatur und Gro- teske, die jedoch nie die Grenzen der Vornehmheit über- ſchritt, wurde ſachlich chorakteriſiert und nur das Notwen- dige gegeben, nicht um zu idealiſieren, ſondern um anſchau- lich und draſtiſch zu wirken. Kühle Reſerve wohnte neben heimlichem Behagen, ſpöttiſche Herzensneigung neben naiver Jugendfreude, beſeelte Männlichkeit neben tief durchemp- fundener Menſchlichkeit. An Th. Fontanes Art ward ge- mahnt. Das kompoſitoriſche Talent ordnete mühelos detail- reiche Gruppen, ſo daß ein Kulturgemälde erſtand von der lebendigen Kraft eines unzerſtörbaren Organismus. (Schluß folgt.) Feuilleton Der Einſame. Von Heinz W. L. Doering. „Che senza speme vivemo in disio.“ [Dante, J. IV.] I. Ich habe meine Toten begraben — lange ſchon, So lang, ſo lang! — die wenigen, die bei mir In Liebe weilten. Nun bin ich Wieder alleine und gehe ſchweigend Den Weg durch fremde, feindliche Menſchenmaſſen Mit böſen Augen, ob nicht ein einzig Antlitz. Nur eines, im Vorübergehen Freundlich mich anſchauen möchte — eines! — II. Was iſt geſchehen? — Iſt’s denn dieſelbe Sonne. Die freudlos eben noch über welke Blätter Geſchienen? Nicht dasſelbe Vöglein, Das im entlaubten Gebüſche frierend Sein einſam Liedlein zirpte? Derſelbe Windſtoß Nicht noch, der pfeifend über die kahlen Stoppeln Dahinfuhr? Dasſelbe. kalte Herbſtgrau —? Iſt nicht der Lenz wie ein goldner Regen

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2020-10-02T09:49:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920, S. Seite 168[168]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920/10>, abgerufen am 21.11.2024.