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Allgemeine Zeitung, Nr. 158, 6. Juni 1860.

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Beilage zu Nr. 158 der Allg. Zeitung.
Mittwoch 6 Junius 1860.


[Spaltenumbruch]
Uebersicht.
Deutschland und der zweite December.
-- Zum neuen Oesterreich.
(Schluß.)
-- Der Sturm an Pfingsten.
-- Der Kampf der Parteien in
Frankreich.
-- Deutschland. (München: Fortgang der Verhandlungen über
das deutsche Handelsrecht. Die Postconferenz in Frankfurt.)
-- Spanien.
(Zur letzten Monte nolinistischen Verschwörung. Sonderbare Gerüchte.
Kriegsschiffe nach Neapel.)
Neueste Posten.
München. (Die Gesetzgebungsausschüsse.)
--
Regensburg. (Geschenk Sr. M. des Königs für den Ausbau des Doms.)
-- Stuttgart. (Die Kaiserin-Mutter von Rußland.)
-- Berlin. (Tages-
bericht.)
-- Paris. (Inhalt der Tagesblätter.)
-- Marseille. (Der
Ausstand in Sicilien.)


Telegraphische Berichte.

Die Abendjournale widersprechen der
Wiederaufnahme des Bombardements von Palermo, der Waffenstill-
stand sey bis 12 d. verlängert, und man hoffe auf eine ehrenwerthe
Entscheidung.


Neapel, 2 Jun. Man versichert,
der König habe französische Vermittlung angenommen.


Seit dem Siege Garibaldi's befürchtet man
Demonstrationen.


Neapel, 3 Jun. Der König soll die
Annahme der Capitulation verweigert haben. Die Feindseligkeiten sollen
wieder beginnen. Ein, neapolitanischer General sey zu den Insurgen-
ten übergegangen.


Oesterr. 5proc. National-Anleihe 581/4 bez.;
5proc. Me all. 501/2; Bankactien 755; Lotterie-Anlehengloose von 1854 723/4; von
1858 93; von 1860 73; Ludwigshafen-Bexbacher E.-B.-A. 1221/2; bayer.
Ostbahn-Actien 100 7/8 ; voll eingezahlt 1013/4; österr. Credit-Mobilier-Actien 1651/2.
Wechselcurse: Paris 931/4 P.; London 1163/4; Wien 881/2.


Oesterr. 5proc. National-Anleihe 79.30; 5proc. Metall.
69.10; Lotterie-Anlehensl. von 1854 101; von 1858 105.50; von 1860 95.90; Bank-
actien 860; österr. Credit-Mobilieractien 186; Donaudampfschiffsahrtsactien 442;
Staatsbahnactien 268; Nordbahnactien 186.50. Wechseleurse: Angsburg 3 M.
113; London 131.75.


3proc. Consols 95.



Deutschland und der zweite December.

Wir können unmöglich glauben daß der
Berichtigung welche die vom Prinz Regenten bei der Eröffnung der neuen
rheinischen Bahnen gesprochenen Worte erfahren haben, irgendwelche tenden-
tiöse Absicht zu Grunde liege. Wir sind um so mehr berechtigt jeden Ge-
danken dieser Art von uns zu weisen, als der Prinz-Regent, durch die Worte
welche er beim Schluß des Landtags sprach, auf die feierlichste Weise ver-
kündigt hat welche Gesinnungen seine Regierung den drohenden Verwicklun-
gen gegenüber leiten werden. Dürfte man jener Berichtigung wirklich eine
tendentiöse Bedeutung unterschieben, so wäre dieß um so bedauerlicher, als die
Organe des zweiten Decembers durch die preußische Sprödigkeit noch keines-
wegs entmuthigt sind, sondern noch immer fortfahren dem preußischen Staat
den Köder einer verrätherischen, auf die Beraubung der Bundesgenossen aus-
gehenden Politik vorzuhalten. Kein Mittel ist den Emissären des Bonapar-
tismus zu schlecht. Wir citiren einen Artikel der Genfer "Esperance" vom
30 Mai, welchen man, wir wissen nicht ob mit Recht, Karl Vogt zu-
schreibt. Nach diesem Artikel bedürfte es nur des allgemeinen Stimmrechts
um die Rheinprovinzen sogleich mit dem Kaiserreich zu vereinigen ....
"Les philosophes de Berlin oseraient-ils contester la valeur du suffrage
des habitants d'une province dans la question de savoir a quel centre
national ils veulent se rattacher? S'il est vrai que les notables sont
Allemands de corps et d'ame, il nous est affirme que les masses sont
francaises, et voteraient avec enthousiasme leur annexion a la grande
nation; on ne niera pas, du moins, que c'est un fait de guerre, et non
la libre expression de leur voeu, qui les a detaches de nous en 1814.
Si l'on met en doute leurs sentiments actuels, il y a un moyen bien
simple de trancher la question: le suffrage universel, applique aux
provinces de la rive gauche du Rhin, aura vite fait justice de toutes
les declamations teutoniques contre nous.
"
Für diese Aussicht des Ver-
lustes der Rheinprovinzen wird Preußen entschädigt durch die Aussicht auf
anderweitige Vergrößerung. Preußen sey noch keine Nation; es müsse an
die Spitze der deutschen Nation treten, und zu diesem Zweck die deutschen
Länder um sich gruppiren. "La Prusse ne peut etre grande que par la
reunion de toute l'Allemagne, et elle ne peut s'annexer tous les pays
allemands qu'a la condition de se separer, volontairement ou non
volontairement, des pays qui ne sont ni ne veulent etre allemands,
mais polonais et francais.
"

[Spaltenumbruch]

Solange notorische Organe des zweiten Decembers in dieser Weise
aggressive Politik treiben, scheint es uns zum mindesten sehr ungerechtfertigt
wenn das Blatt welches sich selbst zum "Wächter am Rhein" eingesetzt hat
(ein Mandat der Nation für diese Mission aufzuweisen möchte allerdings
der Koln. Ztg. schwer seyn), es für zeitgemäß hält vor blinder Aufregung und
übertriebenen Besorgnissen zu warnen und mit weiser Miene zu predigen daß
man auch das Mißtrauen übertreiben könne, da denn doch die nächste Zu-
kunft noch nicht bedroht erscheine. Es kann freilich dieser Beruhigungsartike
des rheinischen Blatts, welcher jedesmal auf einen Beruhigungsartikel des
Moniteur zu folgen pflegt, ebensowenig befremden als die Erzählung von dem
angeblichen österreichisch-französischen Einverständniß, das sichtlich aus fran-
zösischen Quellen in den Leitartikel des rheinischen Blatts übergeflossen ist,
und nur den einen Zweck haben kann: die sich endlich allmählich anbahnende
Verständigung zwischen Oesterreich und Preußen zu erschweren, und die Kluft
zwischen den deutschen Staaten, die sich eben zu schließen beginnt, wieder weiter
zu reißen. Die bewährte unerschütterliche Gesinnung der beiden Fürsten
welche an der Spitze der deutschen Großstaaten stehen, beruhigt uns vollkom-
men über solche Verdächtigungen wie sie nur zu Köln am Rhein vorkommen
können, aber am Rhein freilich am allerwenigsten vorkommen sollten. Es
wäre jedoch immerhin wünschenswerth gewesen daß die "Preuß. Ztg.," wenn
sie es überhaupt mit ihren Kräften riskirte dem bekannten Beruhigungsartikel
des Constitutionnel vom 27 v. M. entgegenzutreten, dieß mit größerer Entschie-
denheit und größerm Selbstvertrauen gethan hätte als ihr geftern möglich
gewesen. Die "Preußische Zeitung" wünscht lebhaft daß sich die "Beforg-
nisse der deutschen Presse ungegründet erweisen möchten, constatirt das auf-
richtige Verlangen Dentschlands mit allen seinen Nachbarn, und auch mit
Frankreich, in gutem Einvernehmen zu bleiben, stellt Frankreich gern das
Zeugniß aus daß es seit mehr als 40 Jahren ein correcter Nachbar gewesen,
und gibt den wohlmeinenden Rath: es wäre angemessener wenn man sich auf
beiden Seiten des Rheins jeder beleidigenden und aufregenden Sprache ent-
halten wollte.

Nachdem das ministerielle Blatt so sich gehörig gedeckt und seine Objec-
tivität gewahrt, geht es dann allerdings den Sophismen seines französi-
schen Collegen gehörig zu Leibe. Bekanntlich hatte das französische Blatt
u. a. behauptet: Deutschland wie das übrige Europa müsse sich allmählich
an das legitime Uebergewicht gewöhnen welches Frankreich unter der Regie-
rung Louis Napoleons wieder gefunden, nachdem es dasselbe 1815 verloren.
Die Wiener Verträge seyen durch die beiden Kriege gegen Rußland und Oester-
reich thatsächlich aufgehoben. Die Preuß. Ztg. entgegnet hierauf: ".... Dieß
ist mit präcisen Worten die Theorie welche Europa aufregt und beunruhigt,
um so mehr als die allgemeine Lage durch ihre ungewöhnlichen Combinationen
stets neue Besorgnisse hervorrust, und die Unbefangenheit mit welcher der
französische Publicist, während er uns beruhigen will, uns solche Sätze vor-
trägt, beweist nur wie sehr die Selbstüberhebung schon zu einer unbewußten
Voraussetzung bei ihm geworden ist. Oder wäre diese Unbefangenheit viel-
leicht mehr bewußt als unbewußt? Um so nothwendiger würde es dann seyn
uns solchen Prätenstonen gegenüber auszusprechen. Frankreich hat sein
"legitimes Uebergewicht wiedergefunden?" Man kann nicht wiederfinden
was man nie besessen hat. Wir wissen wohl von einem factischen Ueberge-
wicht welches Frankreich während eines Theils der Regierung Ludwigs XIV
und unter dem ersten Napoleou befaß, aber wir wissen auch daß ein solches
factisches Uebergewicht jedesmal im Namen des politischen Gleichgewichts
eine Coalition der übrigen Mächte gegen sich in den Kampf gerufen hat, wie
eben dasselbe auch früher geschehen war als die spanische Macht ein Ueber-
gewicht in Europa an sich gerissen hatte. Ein legitimes Uebergewicht aber
hat nie eine Macht in Europa besessen. "Die Verträge von 1815 sind durch
die beiden Kriege welche Frankreich gegen Rußland und Oesterreich geführt
hat thatsächlich aufgehoben." Wir wissen wohl daß in einzelnen Fällen jene
Verträge durch die Macht der thatsächlichen Verhältnisse durchbrochen sind,
und daß solche Abweichungen, die ohne große und dauernde Erschütterungen
nicht rückgängig zu machen waren, die Anerkennung der europäischen Mächte
erlangt haben. Aber neu ist die Behauptung daß die Verträge von 1815,
durch welche der gegenwärtige europäische Besitzstand geordnet ist, aufgehoben
seyen. Wer eine solche Behauptung ausstellt, der darf sich nicht wundern
wenn er Aufregung und Mißtrauen hervorruft." Das Mißtrauen versteht
sich in der That so von selbst, daß es wahrhaft lächerlich ist wie die Kölnische
Zeitung darüber zu streiten in welchem Grad dieses Mißtrauen berech-
tigt sey. Es kann sich nur darum handeln den Krieg, der unvermeidlich,
auf die rechte Weise vorzubereiten. Und diese Vorbereitung ist eine doppelte:
einmal die materielle Ausrüstung der Heere und Instandsetzung sämmtlicher
Vertheidigungsmittel, fodann aber die unablässige Arbeit an der Einigung der
gesammten Nation.



*) Diese Depesche aus dem gestrigen Hauptblatt hier wiederholt.
Beilage zu Nr. 158 der Allg. Zeitung.
Mittwoch 6 Junius 1860.


[Spaltenumbruch]
Ueberſicht.
Deutſchland und der zweite December.
— Zum neuen Oeſterreich.
(Schluß.)
— Der Sturm an Pfingſten.
— Der Kampf der Parteien in
Frankreich.
— Deutſchland. (München: Fortgang der Verhandlungen über
das deutſche Handelsrecht. Die Poſtconferenz in Frankfurt.)
— Spanien.
(Zur letzten Monte noliniſtiſchen Verſchwörung. Sonderbare Gerüchte.
Kriegsſchiffe nach Neapel.)
Neueſte Poſten.
München. (Die Geſetzgebungsausſchüſſe.)

Regensburg. (Geſchenk Sr. M. des Königs für den Ausbau des Doms.)
Stuttgart. (Die Kaiſerin-Mutter von Rußland.)
Berlin. (Tages-
bericht.)
Paris. (Inhalt der Tagesblätter.)
Marſeille. (Der
Auſſtand in Sicilien.)


Telegraphiſche Berichte.

Die Abendjournale widerſprechen der
Wiederaufnahme des Bombardements von Palermo, der Waffenſtill-
ſtand ſey bis 12 d. verlängert, und man hoffe auf eine ehrenwerthe
Entſcheidung.


Neapel, 2 Jun. Man verſichert,
der König habe franzöſiſche Vermittlung angenommen.


Seit dem Siege Garibaldi’s befürchtet man
Demonſtrationen.


Neapel, 3 Jun. Der König ſoll die
Annahme der Capitulation verweigert haben. Die Feindſeligkeiten ſollen
wieder beginnen. Ein, neapolitaniſcher General ſey zu den Inſurgen-
ten übergegangen.


Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 58¼ bez.;
5proc. Me all. 50½; Bankactien 755; Lotterie-Anlehenglooſe von 1854 72¾; von
1858 93; von 1860 73; Ludwigshafen-Bexbacher E.-B.-A. 122½; bayer.
Oſtbahn-Actien 100⅞; voll eingezahlt 101¾; öſterr. Credit-Mobilier-Actien 165½.
Wechſelcurſe: Paris 93¼ P.; London 116¾; Wien 88½.


Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 79.30; 5proc. Metall.
69.10; Lotterie-Anlehensl. von 1854 101; von 1858 105.50; von 1860 95.90; Bank-
actien 860; öſterr. Credit-Mobilieractien 186; Donaudampfſchiffſahrtsactien 442;
Staatsbahnactien 268; Nordbahnactien 186.50. Wechſeleurſe: Angsburg 3 M.
113; London 131.75.


3proc. Conſols 95.



Deutſchland und der zweite December.

Wir können unmöglich glauben daß der
Berichtigung welche die vom Prinz Regenten bei der Eröffnung der neuen
rheiniſchen Bahnen geſprochenen Worte erfahren haben, irgendwelche tenden-
tiöſe Abſicht zu Grunde liege. Wir ſind um ſo mehr berechtigt jeden Ge-
danken dieſer Art von uns zu weiſen, als der Prinz-Regent, durch die Worte
welche er beim Schluß des Landtags ſprach, auf die feierlichſte Weiſe ver-
kündigt hat welche Geſinnungen ſeine Regierung den drohenden Verwicklun-
gen gegenüber leiten werden. Dürfte man jener Berichtigung wirklich eine
tendentiöſe Bedeutung unterſchieben, ſo wäre dieß um ſo bedauerlicher, als die
Organe des zweiten Decembers durch die preußiſche Sprödigkeit noch keines-
wegs entmuthigt ſind, ſondern noch immer fortfahren dem preußiſchen Staat
den Köder einer verrätheriſchen, auf die Beraubung der Bundesgenoſſen aus-
gehenden Politik vorzuhalten. Kein Mittel iſt den Emiſſären des Bonapar-
tismus zu ſchlecht. Wir citiren einen Artikel der Genfer „Eſpérance“ vom
30 Mai, welchen man, wir wiſſen nicht ob mit Recht, Karl Vogt zu-
ſchreibt. Nach dieſem Artikel bedürfte es nur des allgemeinen Stimmrechts
um die Rheinprovinzen ſogleich mit dem Kaiſerreich zu vereinigen ....
Les philosophes de Berlin oseraient-ils contester la valeur du suffrage
des habitants d’une province dans la question de savoir à quel centre
national ils veulent se rattacher? S’il est vrai que les notables sont
Allemands de corps et d’âme, il nous est affirmé que les masses sont
françaises, et voteraient avec enthousiasme leur annexion à la grande
nation; on ne niera pas, du moins, que c’est un fait de guerre, et non
la libre expression de leur vœu, qui les a détachés de nous en 1814.
Si l’on met en doute leurs sentiments actuels, il y a un moyen bien
simple de trancher la question: le suffrage universel, appliqué aux
provinces de la rive gauche du Rhin, aura vite fait justice de toutes
les déclamations teutoniques contre nous.
Für dieſe Ausſicht des Ver-
luſtes der Rheinprovinzen wird Preußen entſchädigt durch die Ausſicht auf
anderweitige Vergrößerung. Preußen ſey noch keine Nation; es müſſe an
die Spitze der deutſchen Nation treten, und zu dieſem Zweck die deutſchen
Länder um ſich gruppiren. „La Prusse ne peut être grande que par la
réunion de toute l’Allemagne, et elle ne peut s’annexer tous les pays
allemands qu’à la condition de se séparer, volontairement ou non
volontairement, des pays qui ne sont ni ne veulent être allemands,
mais polonais et français.

[Spaltenumbruch]

Solange notoriſche Organe des zweiten Decembers in dieſer Weiſe
aggreſſive Politik treiben, ſcheint es uns zum mindeſten ſehr ungerechtfertigt
wenn das Blatt welches ſich ſelbſt zum „Wächter am Rhein“ eingeſetzt hat
(ein Mandat der Nation für dieſe Miſſion aufzuweiſen möchte allerdings
der Koln. Ztg. ſchwer ſeyn), es für zeitgemäß hält vor blinder Aufregung und
übertriebenen Beſorgniſſen zu warnen und mit weiſer Miene zu predigen daß
man auch das Mißtrauen übertreiben könne, da denn doch die nächſte Zu-
kunft noch nicht bedroht erſcheine. Es kann freilich dieſer Beruhigungsartike
des rheiniſchen Blatts, welcher jedesmal auf einen Beruhigungsartikel des
Moniteur zu folgen pflegt, ebenſowenig befremden als die Erzählung von dem
angeblichen öſterreichiſch-franzöſiſchen Einverſtändniß, das ſichtlich aus fran-
zöſiſchen Quellen in den Leitartikel des rheiniſchen Blatts übergefloſſen iſt,
und nur den einen Zweck haben kann: die ſich endlich allmählich anbahnende
Verſtändigung zwiſchen Oeſterreich und Preußen zu erſchweren, und die Kluft
zwiſchen den deutſchen Staaten, die ſich eben zu ſchließen beginnt, wieder weiter
zu reißen. Die bewährte unerſchütterliche Geſinnung der beiden Fürſten
welche an der Spitze der deutſchen Großſtaaten ſtehen, beruhigt uns vollkom-
men über ſolche Verdächtigungen wie ſie nur zu Köln am Rhein vorkommen
können, aber am Rhein freilich am allerwenigſten vorkommen ſollten. Es
wäre jedoch immerhin wünſchenswerth geweſen daß die „Preuß. Ztg.,“ wenn
ſie es überhaupt mit ihren Kräften riskirte dem bekannten Beruhigungsartikel
des Conſtitutionnel vom 27 v. M. entgegenzutreten, dieß mit größerer Entſchie-
denheit und größerm Selbſtvertrauen gethan hätte als ihr geftern möglich
geweſen. Die „Preußiſche Zeitung“ wünſcht lebhaft daß ſich die „Beforg-
niſſe der deutſchen Preſſe ungegründet erweiſen möchten, conſtatirt das auf-
richtige Verlangen Dentſchlands mit allen ſeinen Nachbarn, und auch mit
Frankreich, in gutem Einvernehmen zu bleiben, ſtellt Frankreich gern das
Zeugniß aus daß es ſeit mehr als 40 Jahren ein correcter Nachbar geweſen,
und gibt den wohlmeinenden Rath: es wäre angemeſſener wenn man ſich auf
beiden Seiten des Rheins jeder beleidigenden und aufregenden Sprache ent-
halten wollte.

Nachdem das miniſterielle Blatt ſo ſich gehörig gedeckt und ſeine Objec-
tivität gewahrt, geht es dann allerdings den Sophismen ſeines franzöſi-
ſchen Collegen gehörig zu Leibe. Bekanntlich hatte das franzöſiſche Blatt
u. a. behauptet: Deutſchland wie das übrige Europa müſſe ſich allmählich
an das legitime Uebergewicht gewöhnen welches Frankreich unter der Regie-
rung Louis Napoleons wieder gefunden, nachdem es dasſelbe 1815 verloren.
Die Wiener Verträge ſeyen durch die beiden Kriege gegen Rußland und Oeſter-
reich thatſächlich aufgehoben. Die Preuß. Ztg. entgegnet hierauf: „.... Dieß
iſt mit präciſen Worten die Theorie welche Europa aufregt und beunruhigt,
um ſo mehr als die allgemeine Lage durch ihre ungewöhnlichen Combinationen
ſtets neue Beſorgniſſe hervorruſt, und die Unbefangenheit mit welcher der
franzöſiſche Publiciſt, während er uns beruhigen will, uns ſolche Sätze vor-
trägt, beweist nur wie ſehr die Selbſtüberhebung ſchon zu einer unbewußten
Vorausſetzung bei ihm geworden iſt. Oder wäre dieſe Unbefangenheit viel-
leicht mehr bewußt als unbewußt? Um ſo nothwendiger würde es dann ſeyn
uns ſolchen Prätenſtonen gegenüber auszuſprechen. Frankreich hat ſein
„legitimes Uebergewicht wiedergefunden?“ Man kann nicht wiederfinden
was man nie beſeſſen hat. Wir wiſſen wohl von einem factiſchen Ueberge-
wicht welches Frankreich während eines Theils der Regierung Ludwigs XIV
und unter dem erſten Napoleou befaß, aber wir wiſſen auch daß ein ſolches
factiſches Uebergewicht jedesmal im Namen des politiſchen Gleichgewichts
eine Coalition der übrigen Mächte gegen ſich in den Kampf gerufen hat, wie
eben dasſelbe auch früher geſchehen war als die ſpaniſche Macht ein Ueber-
gewicht in Europa an ſich geriſſen hatte. Ein legitimes Uebergewicht aber
hat nie eine Macht in Europa beſeſſen. „Die Verträge von 1815 ſind durch
die beiden Kriege welche Frankreich gegen Rußland und Oeſterreich geführt
hat thatſächlich aufgehoben.“ Wir wiſſen wohl daß in einzelnen Fällen jene
Verträge durch die Macht der thatſächlichen Verhältniſſe durchbrochen ſind,
und daß ſolche Abweichungen, die ohne große und dauernde Erſchütterungen
nicht rückgängig zu machen waren, die Anerkennung der europäiſchen Mächte
erlangt haben. Aber neu iſt die Behauptung daß die Verträge von 1815,
durch welche der gegenwärtige europäiſche Beſitzſtand geordnet iſt, aufgehoben
ſeyen. Wer eine ſolche Behauptung auſſtellt, der darf ſich nicht wundern
wenn er Aufregung und Mißtrauen hervorruft.“ Das Mißtrauen verſteht
ſich in der That ſo von ſelbſt, daß es wahrhaft lächerlich iſt wie die Kölniſche
Zeitung darüber zu ſtreiten in welchem Grad dieſes Mißtrauen berech-
tigt ſey. Es kann ſich nur darum handeln den Krieg, der unvermeidlich,
auf die rechte Weiſe vorzubereiten. Und dieſe Vorbereitung iſt eine doppelte:
einmal die materielle Ausrüſtung der Heere und Inſtandſetzung ſämmtlicher
Vertheidigungsmittel, fodann aber die unabläſſige Arbeit an der Einigung der
geſammten Nation.



*) Dieſe Depeſche aus dem geſtrigen Hauptblatt hier wiederholt.
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[0009] Beilage zu Nr. 158 der Allg. Zeitung.Mittwoch 6 Junius 1860. Ueberſicht. Deutſchland und der zweite December. — Zum neuen Oeſterreich. (Schluß.) — Der Sturm an Pfingſten. — Der Kampf der Parteien in Frankreich. — Deutſchland. (München: Fortgang der Verhandlungen über das deutſche Handelsrecht. Die Poſtconferenz in Frankfurt.) — Spanien. (Zur letzten Monte noliniſtiſchen Verſchwörung. Sonderbare Gerüchte. Kriegsſchiffe nach Neapel.) Neueſte Poſten. München. (Die Geſetzgebungsausſchüſſe.) — Regensburg. (Geſchenk Sr. M. des Königs für den Ausbau des Doms.) — Stuttgart. (Die Kaiſerin-Mutter von Rußland.) — Berlin. (Tages- bericht.) — Paris. (Inhalt der Tagesblätter.) — Marſeille. (Der Auſſtand in Sicilien.) Telegraphiſche Berichte. &#xfffc; Paris, 5 Jun. Die Abendjournale widerſprechen der Wiederaufnahme des Bombardements von Palermo, der Waffenſtill- ſtand ſey bis 12 d. verlängert, und man hoffe auf eine ehrenwerthe Entſcheidung. &#xfffc; Marſeille, 5 Jun. Neapel, 2 Jun. Man verſichert, der König habe franzöſiſche Vermittlung angenommen. &#xfffc; Rom, 2 Jun. Seit dem Siege Garibaldi’s befürchtet man Demonſtrationen. &#xfffc; Turin, 4 Jun. *) Neapel, 3 Jun. Der König ſoll die Annahme der Capitulation verweigert haben. Die Feindſeligkeiten ſollen wieder beginnen. Ein, neapolitaniſcher General ſey zu den Inſurgen- ten übergegangen. * Frankfurt a. M., 5 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 58¼ bez.; 5proc. Me all. 50½; Bankactien 755; Lotterie-Anlehenglooſe von 1854 72¾; von 1858 93; von 1860 73; Ludwigshafen-Bexbacher E.-B.-A. 122½; bayer. Oſtbahn-Actien 100⅞; voll eingezahlt 101¾; öſterr. Credit-Mobilier-Actien 165½. Wechſelcurſe: Paris 93¼ P.; London 116¾; Wien 88½. * Wien, 5 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 79.30; 5proc. Metall. 69.10; Lotterie-Anlehensl. von 1854 101; von 1858 105.50; von 1860 95.90; Bank- actien 860; öſterr. Credit-Mobilieractien 186; Donaudampfſchiffſahrtsactien 442; Staatsbahnactien 268; Nordbahnactien 186.50. Wechſeleurſe: Angsburg 3 M. 113; London 131.75. * London, 4 Jun. 3proc. Conſols 95. Deutſchland und der zweite December. *** Berlin, 3 Jun. Wir können unmöglich glauben daß der Berichtigung welche die vom Prinz Regenten bei der Eröffnung der neuen rheiniſchen Bahnen geſprochenen Worte erfahren haben, irgendwelche tenden- tiöſe Abſicht zu Grunde liege. Wir ſind um ſo mehr berechtigt jeden Ge- danken dieſer Art von uns zu weiſen, als der Prinz-Regent, durch die Worte welche er beim Schluß des Landtags ſprach, auf die feierlichſte Weiſe ver- kündigt hat welche Geſinnungen ſeine Regierung den drohenden Verwicklun- gen gegenüber leiten werden. Dürfte man jener Berichtigung wirklich eine tendentiöſe Bedeutung unterſchieben, ſo wäre dieß um ſo bedauerlicher, als die Organe des zweiten Decembers durch die preußiſche Sprödigkeit noch keines- wegs entmuthigt ſind, ſondern noch immer fortfahren dem preußiſchen Staat den Köder einer verrätheriſchen, auf die Beraubung der Bundesgenoſſen aus- gehenden Politik vorzuhalten. Kein Mittel iſt den Emiſſären des Bonapar- tismus zu ſchlecht. Wir citiren einen Artikel der Genfer „Eſpérance“ vom 30 Mai, welchen man, wir wiſſen nicht ob mit Recht, Karl Vogt zu- ſchreibt. Nach dieſem Artikel bedürfte es nur des allgemeinen Stimmrechts um die Rheinprovinzen ſogleich mit dem Kaiſerreich zu vereinigen .... „Les philosophes de Berlin oseraient-ils contester la valeur du suffrage des habitants d’une province dans la question de savoir à quel centre national ils veulent se rattacher? S’il est vrai que les notables sont Allemands de corps et d’âme, il nous est affirmé que les masses sont françaises, et voteraient avec enthousiasme leur annexion à la grande nation; on ne niera pas, du moins, que c’est un fait de guerre, et non la libre expression de leur vœu, qui les a détachés de nous en 1814. Si l’on met en doute leurs sentiments actuels, il y a un moyen bien simple de trancher la question: le suffrage universel, appliqué aux provinces de la rive gauche du Rhin, aura vite fait justice de toutes les déclamations teutoniques contre nous.“ Für dieſe Ausſicht des Ver- luſtes der Rheinprovinzen wird Preußen entſchädigt durch die Ausſicht auf anderweitige Vergrößerung. Preußen ſey noch keine Nation; es müſſe an die Spitze der deutſchen Nation treten, und zu dieſem Zweck die deutſchen Länder um ſich gruppiren. „La Prusse ne peut être grande que par la réunion de toute l’Allemagne, et elle ne peut s’annexer tous les pays allemands qu’à la condition de se séparer, volontairement ou non volontairement, des pays qui ne sont ni ne veulent être allemands, mais polonais et français.“ Solange notoriſche Organe des zweiten Decembers in dieſer Weiſe aggreſſive Politik treiben, ſcheint es uns zum mindeſten ſehr ungerechtfertigt wenn das Blatt welches ſich ſelbſt zum „Wächter am Rhein“ eingeſetzt hat (ein Mandat der Nation für dieſe Miſſion aufzuweiſen möchte allerdings der Koln. Ztg. ſchwer ſeyn), es für zeitgemäß hält vor blinder Aufregung und übertriebenen Beſorgniſſen zu warnen und mit weiſer Miene zu predigen daß man auch das Mißtrauen übertreiben könne, da denn doch die nächſte Zu- kunft noch nicht bedroht erſcheine. 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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2021-11-18T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 158, 6. Juni 1860, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine158_1860/9>, abgerufen am 03.12.2024.