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Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 12. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] ausgegeben werden. Er hat gestern schon für einige Stunden das Zimmer verlassen,
und man hat es nicht für nöthig befunden auch den Dr. Gull noch länger zurück-
zuhalten, der nach London gereist ist, um am Sonnabend zurückzukehren, wo das
erste Wochenbulletin gegeben wird. Heute ist der achte Geburtstag des Prinzen
Albert Victor von Wales, mit dem die Königin heut eine Spazierfahrt machte.
Dieselbe wird morgen nach Osborne gehen, während die Prinzessin von Hessen nach
Deutschland reist.

In einem Leitartikel bespricht die "Times" die russische Politik in einem
Sinne der nicht allzu rosig erscheint. Wenn die Mittheilungen die sich in der
"Amtszeitung" und in dem officiösen "Journal de St. Petersbourg" so rasch auf-
einander folgten die friedliche Politik des gegenwärtigen Czaren bezeugen, meint sie,
so legen sie ebenso Zeugniß ab davon daß die Garantien für die Aufrechterhaltung
dieses Friedens selbst noch bei Lebzeiten des Czaren auf sehr schwachen Füßen stehen.
Allenthalben an den Gränzen des Reichs liegt ungeheurer Zündstoff aufgehäuft,
und in ihm selbst finden sich die stärksten Einflüsse friedensfeindlicher Natur. Leute
allerhöchster Stellung, und Parteien von einer politischen Stärke wie sie in Ruß-
land nur immer möglich ist, suchen die anscheinende Lässigkeit des Czaren bei den
vielen Gelegenheiten die sich ihm zum Handeln bieten anzustacheln, und der Kaiser
sieht sich genöthigt sich selbst vor seinen Beurtheilern dadurch zu rechtfertigen daß
er ihnen nachweist: die Ziele die sie beabsichtigen seien leichter auf seinem Wege
zu erreichen als auf dem des Kriegs. Das Schauspiel das man vom Sommer
1866 bis zum Sommer 1870 in Paris erlebte, sagt das leitende Blatt, er-
leben wir heute in St. Petersburg. Von Sadowa abwärts hat Napoleon III
angekämpft die militärische Eifersucht der verschiedenen politischen Parteien nie-
derzuhalten, und er eilte längst auf sein Verderben los, da er angesichts
der wachsenden Unzufriedenheit aller die sich erleuchtet und gebildet nann-
ten Mißtrauen setzte in die Treue der Landbevölkerung. Alexander II hat
einen ähnlichen Kampf gegen die altmoskowitischen Elemente, sowie gegen die
panslavistische Partei auszustehen. Er steht auf gesicherterem Boden als Napoleon,
aber er zeigt allzu offenbar das Bedürfniß sich vor dem Volke zu rechtfertigen, und
es wäre nicht das erstemal daß ein Czar seine Ideen zu Gunsten des Volkes quit-
tiren müßte. England freilich habe zunächst nichts zu thun mit irgendeiner Stö-
rung, doch würde wohl der ganze Welttheil davon ergriffen werden. Der Grund
liegt in den deutschen Siegen im Westen, die einen allgemeinen Krieg doch hervor-
rufen würden. Solche Kriege pflegen allenthalben wunde Flecken aufzurühren und
die Opposition zu entflammen. Rußland ist der natürliche Hort der Slaven, und
die Freundschaft des Czaren mit dem Deutschen Kaiser hindert nicht die größte
Feindschaft zwischen den Unterthanen. Es herrscht in Deutschland eine Agitation
für die deutschen Bewohner der baltischen Provinzen, wie sie eben früher zu Gunsten
der Elsäßer bestand. Freilich muß man Alexander II nachsagen daß er seit dem
Beginn seines Regiments für die Civilisation Rußlands sich bemüht, und daß
er den gränzerweiternden Tendenzen seiner Familie Widerstand geleistet hat. Wün-
schen wir daß er fähig ist seine Friedensneigungen der späteren Generation einzu-
pflanzen. Aber großes Vertrauen kann man nicht dazu haben. Der mächtigste
der Czaren ist nicht im Stande sich von den historischen Traditionen seiner Stellung
freizumachen.

In einer Zuschrift an die "Times" fügt ein anonymer Correspondent dem
gestrigen Artikel noch einige Bemerkungen über die freundliche Haltung Englands
während des Bürgerkrieges bei, wo bekanntlich der Herzog von Argyll, Hr. Gibson
und Hr. Villiers, die Mitglieder des Palmerston'schen Cabinets, sowie Palmerston
selbst, sich der Regierung von Washington ungemein geneigt gezeigt haben.

Die Rede des Ministers für Irland, Marquis v. Hartington, findet, in den
Stellen namentlich welche sich gegen die neue Partei der Agitatoren für ein irisches
Parlament richten, die entschiedenste Billigung der englischen Blätter aller Parteien,
während naturgemäß diejenigen unter den irischen Organen welche für das neue
Parteiprogramm predigen, sich eben so entschieden absprechend vernehmen lassen.
Das bedeutendste unter diesen letzteren Journalen ist das "Freman's Journal," und
es genügt um die Taktik der sämmtlichen Blätter gleicher Farbe zu kennzeichnen,
die wesentlichen Bemerkungen dieses leitenden Organs zu erwähnen. Zunächst
wird mit einiger Bitterkeit erklärt: das Verlangen nach einer irischen Volksvertre-
tung zur Erledigung rein irischer Angelegenheiten könne nicht durch spitze Redens-
arten erstickt werden, und es sei ein großer Irrthum die Bewegung für das windige
Ergebniß eitlen Geschwätzes zu halten. Wenn überhaupt irgend etwas die Entwick-
lung der Bewegung zu einer großen und allgemeinen nationalen Erhebung be-
schleunigen könne, so seien es derartige Aeußerungen im Mund eines Cabinets-
mitgliedes wie Lord Hartington. Der Ausdruck "Festigkeit," welchen der
Minister für Irland verschiedentlich im Zusammenhang mit der Regierungs-
politik gebraucht, mißfällt dem "Freman's Journal" ganz besonders, wie
es hinter demselben allerlei Zwangsmaßregeln wittert. Die Erklärung daß
die Schulangelegenheiten nicht ausschließlich unter die Gewalt der Priester
fallen sollen, wird ebenfalls sehr ungnädig aufgenommen, sowohl der Sache
selbst wegen als mit Rücksicht auf den Ausdruck "Priester." Was den letzteren
Punkt anbelangt, so muß allerdings bemerkt werden daß sonst vom "katholischen
Klerus" gesprochen wird wenn die Regierung der Geistlichkeit einen Namen gibt,
indessen ist es doch wohl fraglich ob der Marquis v. Hartington den Ausdruck
"Priester" gebraucht hat um die Irländer zu verletzen. Im Gegentheil liegt die
Annahme näher daß er das Wort wählte das für seine Wähler in Wales am
leichtesten verständlich schien. Die nationalen Blätter sind augenblicklich vollständig
in ihrem Element, da es wiederum gilt für zwei bevorstehende Neuwahlen zu
wühlen. In Kerry und in Galway wird demnächst die Frage des irischen Parla-
ments, oder, wie die Irländer es ausdrücken, des Home Rule, praktisch auf dem
Wahlplatz erörtert werden. In Kerry ist Hr. Blennerhasset, in Galway Capitän
Nolan als Candidat der Nationalisten aufgetreten, und es wird jedes Mittel auf-
geboten diese beiden Stimmen für das neue Programm zu sichern.

Die Armeereorganisation macht ohne sonderlichen Lärm auf manchen Ge-
bieten beachtenswerthe Fortschritte. Einige Hauptfragen von Bedeutung werden
in der kommenden Session von dem Parlament zum Austrag kommen. Mittler-
weile geschieht alles mögliche um die neuen Verhältnisse im Officiercorps zu regeln.
Ein langer Erlaß des Kriegsministeriums regelt die Besoldung der Subalternoffi-
ciere in der Weise daß, ohne Beeinträchtigung des bestehenden Tarifs im Großen
und Ganzen, die in Folge der Veränderungen der letzten zwei Jahre sonst unver-
meidlichen Ungleichheiten in den Gehalten der Officiere von gleichem Dienstalter
gehoben werden. Ein weiterer Erlaß in dieser Beziehung für die Specialwaffen,
welche durch eine bedeutende Stockung in der Beförderung momentan gegen In-
fanterie und Cavallerie sehr benachtheiligt sind, steht unmittelbar bevor. Aus
dem Erlaß hinsichtlich der Cavallerie ist nur etwa hervorzuheben daß für die neuen
Unterlieutenants, welche, falls ein weiteres Examen von ihnen nicht befriedigend
[Spaltenumbruch] bestanden wird, entlassen werden können, Pferde gestellt werden. Mit der defini-
tiven Anstellung, welche durch das Examen bedingt wird, fällt diese Begünstigung
weg, und es ist somit keine Aussicht vorhanden daß die neue Bestimmung den Dienst
in der Cavallerie weniger kostspielig machen dürfte. Letzteres wird auch durchaus
nicht bezweckt, vielmehr zielt die Verfügung dahin: dem Officier die Kosten für
seine Pferde erst dann aufzubürden wenn er endgültig der Reiterei zugetheilt wird.

Ein Comite hat sich gebildet um Warwick Castle, als ein Denkmal engli-
schen Lebens und englischer Geschichte, zu restauriren.

Die überraschenden Ansprüche der Herren Yankees
auf der Alabama-Conferenz, sowie die keineswegs verwandtschaftlich liebevolle
Art in welcher sie vorgebracht werden, haben John Bulls Friedensschwärmereien
ein wenig unsanft unterbrochen, und ihm wiederum die Nothwendigkeit gezeigt
nach seinem Pulver zu sehen. Der Lärm über den Triumph der Humanität im
Washingtoner Vertrage war etwas voreilig, und wenn auch zur Zeit und selbst
für die Zukunft, soweit gewichtige Gründe annehmen lassen, keine directe Gefahr
eines amerikanischen Krieges vorliegt, so ist es doch ärgerlich daran erinnert zu
werden daß internationale Beziehungen und diplomatische Verhandlungen auch
nach der Zeit Spinoza's nicht durch die private Moral, sondern die beiderseitige
Fähigkeit kriegerischer Machtentwickelung bestimmt werden. Schon der ältere
Pitt mußte in einer seiner letzten Parlamentsreden seine Landsleute an den weisen
Ausspruch Sir William Temple's erinnern: "daß es weder klug noch würdevoll
sei Verträge abzuschließen deren Erfüllung zu erzwingen man nicht den Willen
und die Macht habe." Schon jetzt erklärt die englische Presse daß England sich
nicht fügen könne, wenn das Gericht der Unparteiischen wider Erwarten die amerikani-
schen Forderungen anerkennen sollte, und was hätte es durch den Washingtoner
Vertrag erreicht wenn Grants Cabinet und der Senat der Union ihrerseits sich
weigerten eine Ablehnung derselben anzunehmen, und nach wie vor Englands
Schuld an der Verlängerung des Bürgerkrieges und seine Verpflichtung dafür hoch
zu büßen behaupteten? Es ist nicht zu fürchten daß selbst eine offene Auflehnung
einer der Parteien gegen das Urtheil den Krieg für die nächste Gegenwart zur
Folge hat. Amerika hat die Folgen seines inneren Zwistes in den Südstaaten
noch zu wenig überwunden, und braucht vorläufig noch zu sehr brittische Einwan-
derer und brittisches Capital, um sich schon in einen neuen erschöpfenden Kampf
einzulassen, während England, mit einer Masse innerer Schwierigkeiten beladen,
nicht eher dazu gerüstet ist als bis es drängenden Reformen gerecht
geworden und sein Heer und -- seine Flotte neugestaltet hat. Aber
im günstigsten Falle, dem eines losen Compromisses, bleibt zwischen den beiden
"stammverwandten, eine Sprache redenden" Nationen, die trotz allem sehr verschie-
dene politische Instincte und Interessen haben, genug Zündstoff um die Bedeutung
des Washingtoner Vertrages mehr als die eines Palliativ-, denn als eines Radi-
calheilmittels erscheinen zu lassen. Da ist die für Amerika lebenswichtige Frage
des Isthmuscanals und dicht bei ihr die über den Besitz der großen Antillen, von
denen das brittische Jamaica gewissermaßen das Schleußenthor des Canals ist, an
welchem Englands Titel als erste Seemacht der Welt hängt. Ist er dort sicher,
wenn die Yankees auf Cuba und Sto. Domingo Fuß gefaßt haben? Der Besitz dieser
Inseln bildet die Camera obscura, auf deren Bildfläche sich die Alabama-Ansprüche
im weitesten Sinn abspiegeln. Inzwischen denkt Hr. Cardwell, obwohl er neu-
lich bei einem Bankett in Oxford wieder einmal auf die gewaltige Flotte hinwies
und die Unnahbarkeit Englands für seine Feinde mit der der alten Inselgriechen
verglich, die Crösus vergeblich bedroht habe (er vergaß dabei das Beispiel von Rom
und Carthago) -- doch ernstlich daran ein zahlreicheres und schlagfertigeres Land-
heer zu schaffen. Was über seine nächsten Plane verlautet, nachdem der Stellen-
kauf glücklich beseitigt ist und Miliz- und Freiwilligen-Officiere nun sämmtlich
Queen's Officers sind, d. h. von der Königin ernannt werden, bestätigt die Andeu-
tungen und Vermuthungen welche ich Ihnen schon im vorigen Sommer aussprach.
Es sind drei hochwichtige Organisationspunkte die zur Ausführung kommen wer-
den: einmal die Localisation der Linienregimenter, indem man ihnen bestimmte
Städte und Grafschaften als Werbebezirke gibt und in denselben ein fixes Depot
stationirt. Bei den Regimentern die zwei Bataillone haben, Nro. 1 bis 25, wird
man das zweite derselben als solches fest stationiren. Ob für die übrigen (25 bis
109, mit Ansnahme von Nr. 60, das vier Bataillone hat) ein zweites Bataillon
neu geschaffen werden wird, ist noch ungewiß. Mit der Localisation der Regimen-
ter wird eine territoriale Organisation höherer taktischer Verbände und Stäbe
verknüpft sein. Uebereinstimmend damit wird zweitens eine innigere Verbindung
der Miliz mit der Linie stattfinden, so zwar daß jede Grafschaft ihre Linien- und
Milizbataillone zusammen in bestimmten Garnisonen vereint sehen wird, was für
Ausbildung, Bekleidung, Bewaffnung und Listenwesen der Truppen von großer
Bedeutung ist. Die Stabsquartiere der Volunteer-Corps werden sich ebenfalls an
diesen Orten befinden. Drittens endlich wird die jetzt schon auf 6 Jahre verkürzte
Dienstzeit der angeworbenen Mannschaft in der Linie wahrscheinlich noch weiter,
auf 3--4 Jahre, herabgesetzt werden, um schneller eine größere Zahl von Reserven
heranzubilden. Während sich die Presse (so namentlich "Saturday Review" und
"Pall Mall") nach gelegentlichen Aeußerungen neuerdings mehr und mehr mit
dem Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertraut gemacht hat, und Lord Elcho,
das militärische enfant terrible der Tories, vor seinen Wählern neulich offen für
dieselbe eintrat, als das einzige Mittel um schnell und sicher die Lücken der Armee
zu füllen, ist es kaum anzunehmen daß die Regierung sich mit einem solchen Plan
je befreunden sollte. Sie bedarf eines solchen Gesetzes auch gar nicht, sobald sie
nur die bestehende Verpflichtung jedes Waffenfähigen zum Dienst in der Miliz
wirklich in Kraft setzt. Freilich ist die letztere nur zum Dienst im Lande selbst ver-
wendbar, soweit das Gesetz geht. Bestehen aber einmal stark und zahlreich organi-
sirte Milizcorps, von Linienofficieren geführt, auf gleichem Fuß wie die Linie aus-
gerüstet und bewaffnet und in denselben Garnisonen wie die gleichnamigen Linien-
regimenter versammelt, so unterliegt es keinem Zweifel daß dieselben im Kriegsfall
eine Reserve für die Feldtruppen liefern, und selbst in fertigen Bataillonen sich
freiwillig für jede Art der Verwendung anbieten werden, wie alte Präcedenzfälle
dieß oft gezeigt haben. Aehnlich wurden ja auch 1866 und 1870 in Preußen aus
der zahlreichen Landwehr neue Marschbataillone gebildet. Die sehr zahlreichen
Cadres der Miliz erleichtern überdieß der Regierung ihre Aufgabe zahlreiche Re-

[Spaltenumbruch] ausgegeben werden. Er hat geſtern ſchon für einige Stunden das Zimmer verlaſſen,
und man hat es nicht für nöthig befunden auch den Dr. Gull noch länger zurück-
zuhalten, der nach London gereist iſt, um am Sonnabend zurückzukehren, wo das
erſte Wochenbulletin gegeben wird. Heute iſt der achte Geburtstag des Prinzen
Albert Victor von Wales, mit dem die Königin heut eine Spazierfahrt machte.
Dieſelbe wird morgen nach Osborne gehen, während die Prinzeſſin von Heſſen nach
Deutſchland reist.

In einem Leitartikel beſpricht die „Times“ die ruſſiſche Politik in einem
Sinne der nicht allzu roſig erſcheint. Wenn die Mittheilungen die ſich in der
„Amtszeitung“ und in dem officiöſen „Journal de St. Pétersbourg“ ſo raſch auf-
einander folgten die friedliche Politik des gegenwärtigen Czaren bezeugen, meint ſie,
ſo legen ſie ebenſo Zeugniß ab davon daß die Garantien für die Aufrechterhaltung
dieſes Friedens ſelbſt noch bei Lebzeiten des Czaren auf ſehr ſchwachen Füßen ſtehen.
Allenthalben an den Gränzen des Reichs liegt ungeheurer Zündſtoff aufgehäuft,
und in ihm ſelbſt finden ſich die ſtärkſten Einflüſſe friedensfeindlicher Natur. Leute
allerhöchſter Stellung, und Parteien von einer politiſchen Stärke wie ſie in Ruß-
land nur immer möglich iſt, ſuchen die anſcheinende Läſſigkeit des Czaren bei den
vielen Gelegenheiten die ſich ihm zum Handeln bieten anzuſtacheln, und der Kaiſer
ſieht ſich genöthigt ſich ſelbſt vor ſeinen Beurtheilern dadurch zu rechtfertigen daß
er ihnen nachweist: die Ziele die ſie beabſichtigen ſeien leichter auf ſeinem Wege
zu erreichen als auf dem des Kriegs. Das Schauſpiel das man vom Sommer
1866 bis zum Sommer 1870 in Paris erlebte, ſagt das leitende Blatt, er-
leben wir heute in St. Petersburg. Von Sadowa abwärts hat Napoleon III
angekämpft die militäriſche Eiferſucht der verſchiedenen politiſchen Parteien nie-
derzuhalten, und er eilte längſt auf ſein Verderben los, da er angeſichts
der wachſenden Unzufriedenheit aller die ſich erleuchtet und gebildet nann-
ten Mißtrauen ſetzte in die Treue der Landbevölkerung. Alexander II hat
einen ähnlichen Kampf gegen die altmoskowitiſchen Elemente, ſowie gegen die
panſlaviſtiſche Partei auszuſtehen. Er ſteht auf geſicherterem Boden als Napoleon,
aber er zeigt allzu offenbar das Bedürfniß ſich vor dem Volke zu rechtfertigen, und
es wäre nicht das erſtemal daß ein Czar ſeine Ideen zu Gunſten des Volkes quit-
tiren müßte. England freilich habe zunächſt nichts zu thun mit irgendeiner Stö-
rung, doch würde wohl der ganze Welttheil davon ergriffen werden. Der Grund
liegt in den deutſchen Siegen im Weſten, die einen allgemeinen Krieg doch hervor-
rufen würden. Solche Kriege pflegen allenthalben wunde Flecken aufzurühren und
die Oppoſition zu entflammen. Rußland iſt der natürliche Hort der Slaven, und
die Freundſchaft des Czaren mit dem Deutſchen Kaiſer hindert nicht die größte
Feindſchaft zwiſchen den Unterthanen. Es herrſcht in Deutſchland eine Agitation
für die deutſchen Bewohner der baltiſchen Provinzen, wie ſie eben früher zu Gunſten
der Elſäßer beſtand. Freilich muß man Alexander II nachſagen daß er ſeit dem
Beginn ſeines Regiments für die Civiliſation Rußlands ſich bemüht, und daß
er den gränzerweiternden Tendenzen ſeiner Familie Widerſtand geleiſtet hat. Wün-
ſchen wir daß er fähig iſt ſeine Friedensneigungen der ſpäteren Generation einzu-
pflanzen. Aber großes Vertrauen kann man nicht dazu haben. Der mächtigſte
der Czaren iſt nicht im Stande ſich von den hiſtoriſchen Traditionen ſeiner Stellung
freizumachen.

In einer Zuſchrift an die „Times“ fügt ein anonymer Correſpondent dem
geſtrigen Artikel noch einige Bemerkungen über die freundliche Haltung Englands
während des Bürgerkrieges bei, wo bekanntlich der Herzog von Argyll, Hr. Gibſon
und Hr. Villiers, die Mitglieder des Palmerſton’ſchen Cabinets, ſowie Palmerſton
ſelbſt, ſich der Regierung von Waſhington ungemein geneigt gezeigt haben.

Die Rede des Miniſters für Irland, Marquis v. Hartington, findet, in den
Stellen namentlich welche ſich gegen die neue Partei der Agitatoren für ein iriſches
Parlament richten, die entſchiedenſte Billigung der engliſchen Blätter aller Parteien,
während naturgemäß diejenigen unter den iriſchen Organen welche für das neue
Parteiprogramm predigen, ſich eben ſo entſchieden abſprechend vernehmen laſſen.
Das bedeutendſte unter dieſen letzteren Journalen iſt das „Freman’s Journal,“ und
es genügt um die Taktik der ſämmtlichen Blätter gleicher Farbe zu kennzeichnen,
die weſentlichen Bemerkungen dieſes leitenden Organs zu erwähnen. Zunächſt
wird mit einiger Bitterkeit erklärt: das Verlangen nach einer iriſchen Volksvertre-
tung zur Erledigung rein iriſcher Angelegenheiten könne nicht durch ſpitze Redens-
arten erſtickt werden, und es ſei ein großer Irrthum die Bewegung für das windige
Ergebniß eitlen Geſchwätzes zu halten. Wenn überhaupt irgend etwas die Entwick-
lung der Bewegung zu einer großen und allgemeinen nationalen Erhebung be-
ſchleunigen könne, ſo ſeien es derartige Aeußerungen im Mund eines Cabinets-
mitgliedes wie Lord Hartington. Der Ausdruck „Feſtigkeit,“ welchen der
Miniſter für Irland verſchiedentlich im Zuſammenhang mit der Regierungs-
politik gebraucht, mißfällt dem „Freman’s Journal“ ganz beſonders, wie
es hinter demſelben allerlei Zwangsmaßregeln wittert. Die Erklärung daß
die Schulangelegenheiten nicht ausſchließlich unter die Gewalt der Prieſter
fallen ſollen, wird ebenfalls ſehr ungnädig aufgenommen, ſowohl der Sache
ſelbſt wegen als mit Rückſicht auf den Ausdruck „Prieſter.“ Was den letzteren
Punkt anbelangt, ſo muß allerdings bemerkt werden daß ſonſt vom „katholiſchen
Klerus“ geſprochen wird wenn die Regierung der Geiſtlichkeit einen Namen gibt,
indeſſen iſt es doch wohl fraglich ob der Marquis v. Hartington den Ausdruck
„Prieſter“ gebraucht hat um die Irländer zu verletzen. Im Gegentheil liegt die
Annahme näher daß er das Wort wählte das für ſeine Wähler in Wales am
leichteſten verſtändlich ſchien. Die nationalen Blätter ſind augenblicklich vollſtändig
in ihrem Element, da es wiederum gilt für zwei bevorſtehende Neuwahlen zu
wühlen. In Kerry und in Galway wird demnächſt die Frage des iriſchen Parla-
ments, oder, wie die Irländer es ausdrücken, des Home Rule, praktiſch auf dem
Wahlplatz erörtert werden. In Kerry iſt Hr. Blennerhaſſet, in Galway Capitän
Nolan als Candidat der Nationaliſten aufgetreten, und es wird jedes Mittel auf-
geboten dieſe beiden Stimmen für das neue Programm zu ſichern.

Die Armeereorganiſation macht ohne ſonderlichen Lärm auf manchen Ge-
bieten beachtenswerthe Fortſchritte. Einige Hauptfragen von Bedeutung werden
in der kommenden Seſſion von dem Parlament zum Austrag kommen. Mittler-
weile geſchieht alles mögliche um die neuen Verhältniſſe im Officiercorps zu regeln.
Ein langer Erlaß des Kriegsminiſteriums regelt die Beſoldung der Subalternoffi-
ciere in der Weiſe daß, ohne Beeinträchtigung des beſtehenden Tarifs im Großen
und Ganzen, die in Folge der Veränderungen der letzten zwei Jahre ſonſt unver-
meidlichen Ungleichheiten in den Gehalten der Officiere von gleichem Dienſtalter
gehoben werden. Ein weiterer Erlaß in dieſer Beziehung für die Specialwaffen,
welche durch eine bedeutende Stockung in der Beförderung momentan gegen In-
fanterie und Cavallerie ſehr benachtheiligt ſind, ſteht unmittelbar bevor. Aus
dem Erlaß hinſichtlich der Cavallerie iſt nur etwa hervorzuheben daß für die neuen
Unterlieutenants, welche, falls ein weiteres Examen von ihnen nicht befriedigend
[Spaltenumbruch] beſtanden wird, entlaſſen werden können, Pferde geſtellt werden. Mit der defini-
tiven Anſtellung, welche durch das Examen bedingt wird, fällt dieſe Begünſtigung
weg, und es iſt ſomit keine Ausſicht vorhanden daß die neue Beſtimmung den Dienſt
in der Cavallerie weniger koſtſpielig machen dürfte. Letzteres wird auch durchaus
nicht bezweckt, vielmehr zielt die Verfügung dahin: dem Officier die Koſten für
ſeine Pferde erſt dann aufzubürden wenn er endgültig der Reiterei zugetheilt wird.

Ein Comité hat ſich gebildet um Warwick Caſtle, als ein Denkmal engli-
ſchen Lebens und engliſcher Geſchichte, zu reſtauriren.

Die überraſchenden Anſprüche der Herren Yankees
auf der Alabama-Conferenz, ſowie die keineswegs verwandtſchaftlich liebevolle
Art in welcher ſie vorgebracht werden, haben John Bulls Friedensſchwärmereien
ein wenig unſanft unterbrochen, und ihm wiederum die Nothwendigkeit gezeigt
nach ſeinem Pulver zu ſehen. Der Lärm über den Triumph der Humanität im
Waſhingtoner Vertrage war etwas voreilig, und wenn auch zur Zeit und ſelbſt
für die Zukunft, ſoweit gewichtige Gründe annehmen laſſen, keine directe Gefahr
eines amerikaniſchen Krieges vorliegt, ſo iſt es doch ärgerlich daran erinnert zu
werden daß internationale Beziehungen und diplomatiſche Verhandlungen auch
nach der Zeit Spinoza’s nicht durch die private Moral, ſondern die beiderſeitige
Fähigkeit kriegeriſcher Machtentwickelung beſtimmt werden. Schon der ältere
Pitt mußte in einer ſeiner letzten Parlamentsreden ſeine Landsleute an den weiſen
Ausſpruch Sir William Temple’s erinnern: „daß es weder klug noch würdevoll
ſei Verträge abzuſchließen deren Erfüllung zu erzwingen man nicht den Willen
und die Macht habe.“ Schon jetzt erklärt die engliſche Preſſe daß England ſich
nicht fügen könne, wenn das Gericht der Unparteiiſchen wider Erwarten die amerikani-
ſchen Forderungen anerkennen ſollte, und was hätte es durch den Waſhingtoner
Vertrag erreicht wenn Grants Cabinet und der Senat der Union ihrerſeits ſich
weigerten eine Ablehnung derſelben anzunehmen, und nach wie vor Englands
Schuld an der Verlängerung des Bürgerkrieges und ſeine Verpflichtung dafür hoch
zu büßen behaupteten? Es iſt nicht zu fürchten daß ſelbſt eine offene Auflehnung
einer der Parteien gegen das Urtheil den Krieg für die nächſte Gegenwart zur
Folge hat. Amerika hat die Folgen ſeines inneren Zwiſtes in den Südſtaaten
noch zu wenig überwunden, und braucht vorläufig noch zu ſehr brittiſche Einwan-
derer und brittiſches Capital, um ſich ſchon in einen neuen erſchöpfenden Kampf
einzulaſſen, während England, mit einer Maſſe innerer Schwierigkeiten beladen,
nicht eher dazu gerüſtet iſt als bis es drängenden Reformen gerecht
geworden und ſein Heer und — ſeine Flotte neugeſtaltet hat. Aber
im günſtigſten Falle, dem eines loſen Compromiſſes, bleibt zwiſchen den beiden
„ſtammverwandten, eine Sprache redenden“ Nationen, die trotz allem ſehr verſchie-
dene politiſche Inſtincte und Intereſſen haben, genug Zündſtoff um die Bedeutung
des Waſhingtoner Vertrages mehr als die eines Palliativ-, denn als eines Radi-
calheilmittels erſcheinen zu laſſen. Da iſt die für Amerika lebenswichtige Frage
des Iſthmuscanals und dicht bei ihr die über den Beſitz der großen Antillen, von
denen das brittiſche Jamaica gewiſſermaßen das Schleußenthor des Canals iſt, an
welchem Englands Titel als erſte Seemacht der Welt hängt. Iſt er dort ſicher,
wenn die Yankees auf Cuba und Sto. Domingo Fuß gefaßt haben? Der Beſitz dieſer
Inſeln bildet die Camera obscura, auf deren Bildfläche ſich die Alabama-Anſprüche
im weiteſten Sinn abſpiegeln. Inzwiſchen denkt Hr. Cardwell, obwohl er neu-
lich bei einem Bankett in Oxford wieder einmal auf die gewaltige Flotte hinwies
und die Unnahbarkeit Englands für ſeine Feinde mit der der alten Inſelgriechen
verglich, die Cröſus vergeblich bedroht habe (er vergaß dabei das Beiſpiel von Rom
und Carthago) — doch ernſtlich daran ein zahlreicheres und ſchlagfertigeres Land-
heer zu ſchaffen. Was über ſeine nächſten Plane verlautet, nachdem der Stellen-
kauf glücklich beſeitigt iſt und Miliz- und Freiwilligen-Officiere nun ſämmtlich
Queen’s Officers ſind, d. h. von der Königin ernannt werden, beſtätigt die Andeu-
tungen und Vermuthungen welche ich Ihnen ſchon im vorigen Sommer ausſprach.
Es ſind drei hochwichtige Organiſationspunkte die zur Ausführung kommen wer-
den: einmal die Localiſation der Linienregimenter, indem man ihnen beſtimmte
Städte und Grafſchaften als Werbebezirke gibt und in denſelben ein fixes Depot
ſtationirt. Bei den Regimentern die zwei Bataillone haben, Nro. 1 bis 25, wird
man das zweite derſelben als ſolches feſt ſtationiren. Ob für die übrigen (25 bis
109, mit Ansnahme von Nr. 60, das vier Bataillone hat) ein zweites Bataillon
neu geſchaffen werden wird, iſt noch ungewiß. Mit der Localiſation der Regimen-
ter wird eine territoriale Organiſation höherer taktiſcher Verbände und Stäbe
verknüpft ſein. Uebereinſtimmend damit wird zweitens eine innigere Verbindung
der Miliz mit der Linie ſtattfinden, ſo zwar daß jede Grafſchaft ihre Linien- und
Milizbataillone zuſammen in beſtimmten Garniſonen vereint ſehen wird, was für
Ausbildung, Bekleidung, Bewaffnung und Liſtenweſen der Truppen von großer
Bedeutung iſt. Die Stabsquartiere der Volunteer-Corps werden ſich ebenfalls an
dieſen Orten befinden. Drittens endlich wird die jetzt ſchon auf 6 Jahre verkürzte
Dienſtzeit der angeworbenen Mannſchaft in der Linie wahrſcheinlich noch weiter,
auf 3—4 Jahre, herabgeſetzt werden, um ſchneller eine größere Zahl von Reſerven
heranzubilden. Während ſich die Preſſe (ſo namentlich „Saturday Review“ und
„Pall Mall“) nach gelegentlichen Aeußerungen neuerdings mehr und mehr mit
dem Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertraut gemacht hat, und Lord Elcho,
das militäriſche enfant terrible der Tories, vor ſeinen Wählern neulich offen für
dieſelbe eintrat, als das einzige Mittel um ſchnell und ſicher die Lücken der Armee
zu füllen, iſt es kaum anzunehmen daß die Regierung ſich mit einem ſolchen Plan
je befreunden ſollte. Sie bedarf eines ſolchen Geſetzes auch gar nicht, ſobald ſie
nur die beſtehende Verpflichtung jedes Waffenfähigen zum Dienſt in der Miliz
wirklich in Kraft ſetzt. Freilich iſt die letztere nur zum Dienſt im Lande ſelbſt ver-
wendbar, ſoweit das Geſetz geht. Beſtehen aber einmal ſtark und zahlreich organi-
ſirte Milizcorps, von Linienofficieren geführt, auf gleichem Fuß wie die Linie aus-
gerüſtet und bewaffnet und in denſelben Garniſonen wie die gleichnamigen Linien-
regimenter verſammelt, ſo unterliegt es keinem Zweifel daß dieſelben im Kriegsfall
eine Reſerve für die Feldtruppen liefern, und ſelbſt in fertigen Bataillonen ſich
freiwillig für jede Art der Verwendung anbieten werden, wie alte Präcedenzfälle
dieß oft gezeigt haben. Aehnlich wurden ja auch 1866 und 1870 in Preußen aus
der zahlreichen Landwehr neue Marſchbataillone gebildet. Die ſehr zahlreichen
Cadres der Miliz erleichtern überdieß der Regierung ihre Aufgabe zahlreiche Re-

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[165/0005] ausgegeben werden. Er hat geſtern ſchon für einige Stunden das Zimmer verlaſſen, und man hat es nicht für nöthig befunden auch den Dr. Gull noch länger zurück- zuhalten, der nach London gereist iſt, um am Sonnabend zurückzukehren, wo das erſte Wochenbulletin gegeben wird. Heute iſt der achte Geburtstag des Prinzen Albert Victor von Wales, mit dem die Königin heut eine Spazierfahrt machte. Dieſelbe wird morgen nach Osborne gehen, während die Prinzeſſin von Heſſen nach Deutſchland reist. In einem Leitartikel beſpricht die „Times“ die ruſſiſche Politik in einem Sinne der nicht allzu roſig erſcheint. Wenn die Mittheilungen die ſich in der „Amtszeitung“ und in dem officiöſen „Journal de St. Pétersbourg“ ſo raſch auf- einander folgten die friedliche Politik des gegenwärtigen Czaren bezeugen, meint ſie, ſo legen ſie ebenſo Zeugniß ab davon daß die Garantien für die Aufrechterhaltung dieſes Friedens ſelbſt noch bei Lebzeiten des Czaren auf ſehr ſchwachen Füßen ſtehen. Allenthalben an den Gränzen des Reichs liegt ungeheurer Zündſtoff aufgehäuft, und in ihm ſelbſt finden ſich die ſtärkſten Einflüſſe friedensfeindlicher Natur. Leute allerhöchſter Stellung, und Parteien von einer politiſchen Stärke wie ſie in Ruß- land nur immer möglich iſt, ſuchen die anſcheinende Läſſigkeit des Czaren bei den vielen Gelegenheiten die ſich ihm zum Handeln bieten anzuſtacheln, und der Kaiſer ſieht ſich genöthigt ſich ſelbſt vor ſeinen Beurtheilern dadurch zu rechtfertigen daß er ihnen nachweist: die Ziele die ſie beabſichtigen ſeien leichter auf ſeinem Wege zu erreichen als auf dem des Kriegs. Das Schauſpiel das man vom Sommer 1866 bis zum Sommer 1870 in Paris erlebte, ſagt das leitende Blatt, er- leben wir heute in St. Petersburg. Von Sadowa abwärts hat Napoleon III angekämpft die militäriſche Eiferſucht der verſchiedenen politiſchen Parteien nie- derzuhalten, und er eilte längſt auf ſein Verderben los, da er angeſichts der wachſenden Unzufriedenheit aller die ſich erleuchtet und gebildet nann- ten Mißtrauen ſetzte in die Treue der Landbevölkerung. Alexander II hat einen ähnlichen Kampf gegen die altmoskowitiſchen Elemente, ſowie gegen die panſlaviſtiſche Partei auszuſtehen. Er ſteht auf geſicherterem Boden als Napoleon, aber er zeigt allzu offenbar das Bedürfniß ſich vor dem Volke zu rechtfertigen, und es wäre nicht das erſtemal daß ein Czar ſeine Ideen zu Gunſten des Volkes quit- tiren müßte. England freilich habe zunächſt nichts zu thun mit irgendeiner Stö- rung, doch würde wohl der ganze Welttheil davon ergriffen werden. Der Grund liegt in den deutſchen Siegen im Weſten, die einen allgemeinen Krieg doch hervor- rufen würden. Solche Kriege pflegen allenthalben wunde Flecken aufzurühren und die Oppoſition zu entflammen. Rußland iſt der natürliche Hort der Slaven, und die Freundſchaft des Czaren mit dem Deutſchen Kaiſer hindert nicht die größte Feindſchaft zwiſchen den Unterthanen. Es herrſcht in Deutſchland eine Agitation für die deutſchen Bewohner der baltiſchen Provinzen, wie ſie eben früher zu Gunſten der Elſäßer beſtand. Freilich muß man Alexander II nachſagen daß er ſeit dem Beginn ſeines Regiments für die Civiliſation Rußlands ſich bemüht, und daß er den gränzerweiternden Tendenzen ſeiner Familie Widerſtand geleiſtet hat. Wün- ſchen wir daß er fähig iſt ſeine Friedensneigungen der ſpäteren Generation einzu- pflanzen. Aber großes Vertrauen kann man nicht dazu haben. Der mächtigſte der Czaren iſt nicht im Stande ſich von den hiſtoriſchen Traditionen ſeiner Stellung freizumachen. In einer Zuſchrift an die „Times“ fügt ein anonymer Correſpondent dem geſtrigen Artikel noch einige Bemerkungen über die freundliche Haltung Englands während des Bürgerkrieges bei, wo bekanntlich der Herzog von Argyll, Hr. Gibſon und Hr. Villiers, die Mitglieder des Palmerſton’ſchen Cabinets, ſowie Palmerſton ſelbſt, ſich der Regierung von Waſhington ungemein geneigt gezeigt haben. Die Rede des Miniſters für Irland, Marquis v. Hartington, findet, in den Stellen namentlich welche ſich gegen die neue Partei der Agitatoren für ein iriſches Parlament richten, die entſchiedenſte Billigung der engliſchen Blätter aller Parteien, während naturgemäß diejenigen unter den iriſchen Organen welche für das neue Parteiprogramm predigen, ſich eben ſo entſchieden abſprechend vernehmen laſſen. Das bedeutendſte unter dieſen letzteren Journalen iſt das „Freman’s Journal,“ und es genügt um die Taktik der ſämmtlichen Blätter gleicher Farbe zu kennzeichnen, die weſentlichen Bemerkungen dieſes leitenden Organs zu erwähnen. Zunächſt wird mit einiger Bitterkeit erklärt: das Verlangen nach einer iriſchen Volksvertre- tung zur Erledigung rein iriſcher Angelegenheiten könne nicht durch ſpitze Redens- arten erſtickt werden, und es ſei ein großer Irrthum die Bewegung für das windige Ergebniß eitlen Geſchwätzes zu halten. Wenn überhaupt irgend etwas die Entwick- lung der Bewegung zu einer großen und allgemeinen nationalen Erhebung be- ſchleunigen könne, ſo ſeien es derartige Aeußerungen im Mund eines Cabinets- mitgliedes wie Lord Hartington. Der Ausdruck „Feſtigkeit,“ welchen der Miniſter für Irland verſchiedentlich im Zuſammenhang mit der Regierungs- politik gebraucht, mißfällt dem „Freman’s Journal“ ganz beſonders, wie es hinter demſelben allerlei Zwangsmaßregeln wittert. Die Erklärung daß die Schulangelegenheiten nicht ausſchließlich unter die Gewalt der Prieſter fallen ſollen, wird ebenfalls ſehr ungnädig aufgenommen, ſowohl der Sache ſelbſt wegen als mit Rückſicht auf den Ausdruck „Prieſter.“ Was den letzteren Punkt anbelangt, ſo muß allerdings bemerkt werden daß ſonſt vom „katholiſchen Klerus“ geſprochen wird wenn die Regierung der Geiſtlichkeit einen Namen gibt, indeſſen iſt es doch wohl fraglich ob der Marquis v. Hartington den Ausdruck „Prieſter“ gebraucht hat um die Irländer zu verletzen. Im Gegentheil liegt die Annahme näher daß er das Wort wählte das für ſeine Wähler in Wales am leichteſten verſtändlich ſchien. Die nationalen Blätter ſind augenblicklich vollſtändig in ihrem Element, da es wiederum gilt für zwei bevorſtehende Neuwahlen zu wühlen. In Kerry und in Galway wird demnächſt die Frage des iriſchen Parla- ments, oder, wie die Irländer es ausdrücken, des Home Rule, praktiſch auf dem Wahlplatz erörtert werden. In Kerry iſt Hr. Blennerhaſſet, in Galway Capitän Nolan als Candidat der Nationaliſten aufgetreten, und es wird jedes Mittel auf- geboten dieſe beiden Stimmen für das neue Programm zu ſichern. Die Armeereorganiſation macht ohne ſonderlichen Lärm auf manchen Ge- bieten beachtenswerthe Fortſchritte. Einige Hauptfragen von Bedeutung werden in der kommenden Seſſion von dem Parlament zum Austrag kommen. Mittler- weile geſchieht alles mögliche um die neuen Verhältniſſe im Officiercorps zu regeln. Ein langer Erlaß des Kriegsminiſteriums regelt die Beſoldung der Subalternoffi- ciere in der Weiſe daß, ohne Beeinträchtigung des beſtehenden Tarifs im Großen und Ganzen, die in Folge der Veränderungen der letzten zwei Jahre ſonſt unver- meidlichen Ungleichheiten in den Gehalten der Officiere von gleichem Dienſtalter gehoben werden. Ein weiterer Erlaß in dieſer Beziehung für die Specialwaffen, welche durch eine bedeutende Stockung in der Beförderung momentan gegen In- fanterie und Cavallerie ſehr benachtheiligt ſind, ſteht unmittelbar bevor. Aus dem Erlaß hinſichtlich der Cavallerie iſt nur etwa hervorzuheben daß für die neuen Unterlieutenants, welche, falls ein weiteres Examen von ihnen nicht befriedigend beſtanden wird, entlaſſen werden können, Pferde geſtellt werden. Mit der defini- tiven Anſtellung, welche durch das Examen bedingt wird, fällt dieſe Begünſtigung weg, und es iſt ſomit keine Ausſicht vorhanden daß die neue Beſtimmung den Dienſt in der Cavallerie weniger koſtſpielig machen dürfte. Letzteres wird auch durchaus nicht bezweckt, vielmehr zielt die Verfügung dahin: dem Officier die Koſten für ſeine Pferde erſt dann aufzubürden wenn er endgültig der Reiterei zugetheilt wird. Ein Comité hat ſich gebildet um Warwick Caſtle, als ein Denkmal engli- ſchen Lebens und engliſcher Geſchichte, zu reſtauriren. §§ London, 8 Jan. Die überraſchenden Anſprüche der Herren Yankees auf der Alabama-Conferenz, ſowie die keineswegs verwandtſchaftlich liebevolle Art in welcher ſie vorgebracht werden, haben John Bulls Friedensſchwärmereien ein wenig unſanft unterbrochen, und ihm wiederum die Nothwendigkeit gezeigt nach ſeinem Pulver zu ſehen. Der Lärm über den Triumph der Humanität im Waſhingtoner Vertrage war etwas voreilig, und wenn auch zur Zeit und ſelbſt für die Zukunft, ſoweit gewichtige Gründe annehmen laſſen, keine directe Gefahr eines amerikaniſchen Krieges vorliegt, ſo iſt es doch ärgerlich daran erinnert zu werden daß internationale Beziehungen und diplomatiſche Verhandlungen auch nach der Zeit Spinoza’s nicht durch die private Moral, ſondern die beiderſeitige Fähigkeit kriegeriſcher Machtentwickelung beſtimmt werden. Schon der ältere Pitt mußte in einer ſeiner letzten Parlamentsreden ſeine Landsleute an den weiſen Ausſpruch Sir William Temple’s erinnern: „daß es weder klug noch würdevoll ſei Verträge abzuſchließen deren Erfüllung zu erzwingen man nicht den Willen und die Macht habe.“ Schon jetzt erklärt die engliſche Preſſe daß England ſich nicht fügen könne, wenn das Gericht der Unparteiiſchen wider Erwarten die amerikani- ſchen Forderungen anerkennen ſollte, und was hätte es durch den Waſhingtoner Vertrag erreicht wenn Grants Cabinet und der Senat der Union ihrerſeits ſich weigerten eine Ablehnung derſelben anzunehmen, und nach wie vor Englands Schuld an der Verlängerung des Bürgerkrieges und ſeine Verpflichtung dafür hoch zu büßen behaupteten? Es iſt nicht zu fürchten daß ſelbſt eine offene Auflehnung einer der Parteien gegen das Urtheil den Krieg für die nächſte Gegenwart zur Folge hat. Amerika hat die Folgen ſeines inneren Zwiſtes in den Südſtaaten noch zu wenig überwunden, und braucht vorläufig noch zu ſehr brittiſche Einwan- derer und brittiſches Capital, um ſich ſchon in einen neuen erſchöpfenden Kampf einzulaſſen, während England, mit einer Maſſe innerer Schwierigkeiten beladen, nicht eher dazu gerüſtet iſt als bis es drängenden Reformen gerecht geworden und ſein Heer und — ſeine Flotte neugeſtaltet hat. Aber im günſtigſten Falle, dem eines loſen Compromiſſes, bleibt zwiſchen den beiden „ſtammverwandten, eine Sprache redenden“ Nationen, die trotz allem ſehr verſchie- dene politiſche Inſtincte und Intereſſen haben, genug Zündſtoff um die Bedeutung des Waſhingtoner Vertrages mehr als die eines Palliativ-, denn als eines Radi- calheilmittels erſcheinen zu laſſen. Da iſt die für Amerika lebenswichtige Frage des Iſthmuscanals und dicht bei ihr die über den Beſitz der großen Antillen, von denen das brittiſche Jamaica gewiſſermaßen das Schleußenthor des Canals iſt, an welchem Englands Titel als erſte Seemacht der Welt hängt. Iſt er dort ſicher, wenn die Yankees auf Cuba und Sto. Domingo Fuß gefaßt haben? Der Beſitz dieſer Inſeln bildet die Camera obscura, auf deren Bildfläche ſich die Alabama-Anſprüche im weiteſten Sinn abſpiegeln. Inzwiſchen denkt Hr. Cardwell, obwohl er neu- lich bei einem Bankett in Oxford wieder einmal auf die gewaltige Flotte hinwies und die Unnahbarkeit Englands für ſeine Feinde mit der der alten Inſelgriechen verglich, die Cröſus vergeblich bedroht habe (er vergaß dabei das Beiſpiel von Rom und Carthago) — doch ernſtlich daran ein zahlreicheres und ſchlagfertigeres Land- heer zu ſchaffen. Was über ſeine nächſten Plane verlautet, nachdem der Stellen- kauf glücklich beſeitigt iſt und Miliz- und Freiwilligen-Officiere nun ſämmtlich Queen’s Officers ſind, d. h. von der Königin ernannt werden, beſtätigt die Andeu- tungen und Vermuthungen welche ich Ihnen ſchon im vorigen Sommer ausſprach. Es ſind drei hochwichtige Organiſationspunkte die zur Ausführung kommen wer- den: einmal die Localiſation der Linienregimenter, indem man ihnen beſtimmte Städte und Grafſchaften als Werbebezirke gibt und in denſelben ein fixes Depot ſtationirt. Bei den Regimentern die zwei Bataillone haben, Nro. 1 bis 25, wird man das zweite derſelben als ſolches feſt ſtationiren. Ob für die übrigen (25 bis 109, mit Ansnahme von Nr. 60, das vier Bataillone hat) ein zweites Bataillon neu geſchaffen werden wird, iſt noch ungewiß. Mit der Localiſation der Regimen- ter wird eine territoriale Organiſation höherer taktiſcher Verbände und Stäbe verknüpft ſein. Uebereinſtimmend damit wird zweitens eine innigere Verbindung der Miliz mit der Linie ſtattfinden, ſo zwar daß jede Grafſchaft ihre Linien- und Milizbataillone zuſammen in beſtimmten Garniſonen vereint ſehen wird, was für Ausbildung, Bekleidung, Bewaffnung und Liſtenweſen der Truppen von großer Bedeutung iſt. Die Stabsquartiere der Volunteer-Corps werden ſich ebenfalls an dieſen Orten befinden. Drittens endlich wird die jetzt ſchon auf 6 Jahre verkürzte Dienſtzeit der angeworbenen Mannſchaft in der Linie wahrſcheinlich noch weiter, auf 3—4 Jahre, herabgeſetzt werden, um ſchneller eine größere Zahl von Reſerven heranzubilden. Während ſich die Preſſe (ſo namentlich „Saturday Review“ und „Pall Mall“) nach gelegentlichen Aeußerungen neuerdings mehr und mehr mit dem Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertraut gemacht hat, und Lord Elcho, das militäriſche enfant terrible der Tories, vor ſeinen Wählern neulich offen für dieſelbe eintrat, als das einzige Mittel um ſchnell und ſicher die Lücken der Armee zu füllen, iſt es kaum anzunehmen daß die Regierung ſich mit einem ſolchen Plan je befreunden ſollte. Sie bedarf eines ſolchen Geſetzes auch gar nicht, ſobald ſie nur die beſtehende Verpflichtung jedes Waffenfähigen zum Dienſt in der Miliz wirklich in Kraft ſetzt. Freilich iſt die letztere nur zum Dienſt im Lande ſelbſt ver- wendbar, ſoweit das Geſetz geht. Beſtehen aber einmal ſtark und zahlreich organi- ſirte Milizcorps, von Linienofficieren geführt, auf gleichem Fuß wie die Linie aus- gerüſtet und bewaffnet und in denſelben Garniſonen wie die gleichnamigen Linien- regimenter verſammelt, ſo unterliegt es keinem Zweifel daß dieſelben im Kriegsfall eine Reſerve für die Feldtruppen liefern, und ſelbſt in fertigen Bataillonen ſich freiwillig für jede Art der Verwendung anbieten werden, wie alte Präcedenzfälle dieß oft gezeigt haben. Aehnlich wurden ja auch 1866 und 1870 in Preußen aus der zahlreichen Landwehr neue Marſchbataillone gebildet. Die ſehr zahlreichen Cadres der Miliz erleichtern überdieß der Regierung ihre Aufgabe zahlreiche Re-

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 12. Januar 1872, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine12_1872/5>, abgerufen am 21.11.2024.