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Allgemeine Zeitung, Nr. 4, 4. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] und zwar mit Rücksicht theils auf die Stimmung der Bevölkerung an und für sich,
theils auf die durch Gründung des Reichs gehobene und stark gewordene deutsch-
patriotische Strömung. Die ultramontane Partei selbst hat das Gefühl -- und hat
demselben in der Presse auch schon Ausdruck gegeben -- daß ihr dermaliges Verhalten
für die Volkskreise, die bisher in agitatorischer Erregung von ihr gehalten und zu
größeren Erwartungen berechtigt waren, einer Erklärung bedarf. Gegeben aber
wurde diese Erklärung bisher nicht. Wahrscheinlich ist, daß es der Curie uner-
wünscht wäre das Dogma von der Unfehlbarkeit fernerhin forcirt zu sehen; die Er-
fahrung daß sie ihre Autorität in Deutschland dadurch tief schädige, war gar zu
unläugbar.

Der Neujahrsempfang fand heute dem Programm
gemäß statt. In seiner huldvollen Antwort auf die Glückwünsche der Generale
und Staatsminister gedachte der Kaiser der letzten glorreichen Thaten der Armee
und der treuen Dienste seiner Räthe auf eine höchst schmeichelhafte Weise, zugleich
mit sehr berechtigter Zuversicht über die Zukunft des jungen Reiches sich aus-
sprechend. Die Stützen dieses felsenfesten Vertrauens findet der Kaiser mit seiner
Regierung zunächst in der eigenen Stärke des Deutschen Reiches, und sodann in
dem engen Freundschaftsverhältniß welches zwischen diesem Reich und den beiden
großen Nachbarländern Rußland und Oesterreich-Ungarn besteht. Zweifelsüchtige
Gemüther wollen freilich bereits in Bezug auf letzteres Reich eine Lockerung dieses
Verhältnisses in der allerdings etwas auffallenden Thatsache erblicken daß die
Rede mit welcher der Kaiser Franz Joseph den österreichischen Reichsrath vor
einigen Tagen eröffnet hat, die Freundlichkeiten nicht erwiedert mit denen der
Deutsche Kaiser in seiner Thronrede bei Eröffnung des Deutschen Reichstags die
österreichisch-ungarische Monarchie überschüttete; indessen erklärt sich diese Unter-
lassung vielleicht zutreffender durch den Umstand daß die Fragen der auswärtigen
Politik der Cognition der Vertretungen beider Reichshälften entzogen sind, und vor
das Forum der gemeinsamen Delegation gehören. Aus demselben Grunde wenig-
stens hat auch der König von Preußen, in der Rede mit welcher er den preußischen
Landtag eröffnete, das Gebiet der auswärtigen Politik nur sehr flüchtig berührt.
Läugnen läßt sich dagegen nicht daß man hier mit wachsender Besorgniß die Ent-
wicklung der Dinge in Frankreich verfolgt, und daß die äußerst friedliche Sprache
welche Hr. Thiers bei jeder Gelegenheit führt, das Mißtrauen nicht zu bannen
vermag welches die feindselige Haltung der Parteien, die racheschnaubende Sprache
der französischen Presse und die ungewöhnlichen militärischen Anstrengungen der
Regierung hier überall gegen die loyale Ausführung des Friedensvertrags von
Seiten Frankreichs wachgerufen haben. In dieser Hinsicht gibt auch eine angebliche
Londoner Correspondenz der "Köln. Ztg.," welche unsere regierungsfreundlichen
Blätter ihren Lesern "zur Orientirung" mittheilen, der hier herrschenden Stim-
mung einen prägnanten Ausdruck. Wenn jedoch Hr. Thiers dort geradezu ein
"unsicherer Kantonist" (?) genannt ist, der beim Fürsten Bismarck nur noch sehr
geringe Sympathien finde, so leidet diese Ausdrucksweise jedenfalls an starker
Uebertreibung, wie dieß schon die im ganzen für die gegenwärtige französische
Regierung doch sehr wohlwollende Instructionsdepesche des Fürsten Bismarck
vom 7 v. M. außer Zweifel stellt. Sehr mysteriös und unwahrscheinlich klingt
auch dasjenige was jener Correspondent von den Schritten erzählt welche eine
europäische Großmacht ersten Rangs bei verschiedenen Cabineten zu Gunsten der
Wiederherstellung der napoleonischen Dynastie aus Sorge für die öffentliche Ord-
nung und Wohlfahrt gethan haben soll, welche auch von verschiedenen europäischen
Regierungen theils aus nationalökonomischen, theils aus verwandtschaftlichen,
theils auch aus rein politischen Gründen günstig aufgenommen, jedoch an dem
unerschütterlichen Wunsche der deutschen Staatsmänner gescheitert seien, in ihrer
Sympathie völlig freie Hand zu behalten. Die Großmacht von welcher hier die
Rede ist, kann keine andere sein als Rußland, und doch ist es offenkundig genug
daß gerade Rußland unter allen europäischen Mächten das geringste Interesse an
der Wiederherstellung der napoleonischen Dynastie hat. Schritte der unterstellten
Art hätten außerdem bei der deutschen Reichsregierung nicht an dem angegebenen
Motiv, sondern an dem von ihr feierlich proclamirten Princip der Nichtintervention
scheitern müssen. So viel man in den hiesigen diplomatischen Kreisen weiß,
sind auch derartige Restaurationsversuche von keiner europäischen Regierung versucht
worden, und alles was der Londoner Correspondent der "Köln. Ztg." zur Orien-
tirung der Leser schreibt, läuft sonach auf eine vielleicht wohlgemeinte, aber nicht
sehr tactvolle, weil wirkungslose Einschüchterung der leitenden Kreise in Frankreich
hinaus. Gegen die Genauigkeit der Darstellung dieses Correspondenten spricht
überdieß das beachtenswerthe Moment daß er dem "Standard," einem Hauptorgan
der Tory-Partei, einen Platz unter den Blättern dritten Rangs anweist. -- Die
Officiere der brandenburgischen Landwehr-Cavallerie werden am 18 d. zur Erin-
nerung an die Entscheidungstage der Werder'schen Armee große Festlichkeiten ver-
anstalten.

Oesterreichisch-ungarische Monarchie.

Der Adreß-Ausschuß des Abgeordneten-
hauses wird am 5 Januar zusammentreten, um den Entwurf des Referenten Dr.
Herbst zu prüfen. Das Subcomite hat nämlich nach eingehender Erörterung des
Stoffes beschlossen daß der Berichterstatter seinen Entwurf gleich dem Ausschuß
vorlege. Obwohl die Ausschußmitglieder unverbrüchliches Stillschweigen sich gegen-
seitig versprachen, so ist doch schon wieder bekannt daß in der Adresse die directen
Wahlen und die galizische Frage Hauptrollen spielen werden. Neben den Arbeiten
des Adreß-Ausschusses gehen die Vorarbeiten des Finanz-Ausschusses, und wenn
man künftige Woche die Plenarsitzungen aufnimmt, dürfte das Noth-Wahl-
gesetz eingebracht werden. Inzwischen will sich auch die parlamentarische Ver-
fassungspartei als Club constituiren, wobei die "N. Fr. Pr." dem Comite den Ge-
danken zur Erwägung empfiehlt auch Parteigenossen des Herrenhauses in den
Club aufzunehmen. -- Zur Thronrede macht ein officiöser Brief in ungarischen
Blättern, gewisse Bemerkungen anderer Zeitungen zurückweisend, die Glosse man
habe sich deßhalb auf eine allgemeine Phrase über die auswärtige Politik beschränkt
weil verfassungsgemäß diese Angelegenheit nicht vor den Reichsrath, sondern vor
die Delegationen gehöre. -- Die tschechischen Blätter bieten das möglichste an
Hetzereien und Schmeicheleien, mitunter auch Drohungen auf, um die Polen zu
einem parlamentarischen Strike zu bereden. Wie die nationale Hetze im allge-
meinen betrieben wird, davon mag folgende Stelle des Neujahrsartikels der
"Bohemia" einen ungefähren Begriff geben. "Wohin," so fragt dieses Blatt,
[Spaltenumbruch] "kann es schließlich führen wenn tschechische Journale dem gesammten deutschen
Volke die erbärmlichsten Gesinnungen vorwerfen, wenn sie, wie die "Narodni Listy"
dieser Tage thaten, unter ihre Leser hinausrufen: "daß in der ganzen deutschen
Nation nicht ein einziger zartfühlender Nerv existire," daß die "ganze Nation eine
Nation von Lügnern und Meuchelmördern" sei? Was für ein Uebermaß von Ver-
wilderung muß in jenen Kreisen herrschen aus denen derartige wahnwitzige Aus-
sprüche hervorgehen können! Man möchte sich versucht fühlen über solche Aus-
geburten des Partei-Fanatismus mitleidig zu lächeln, wenn die Gefahr nicht be-
stände daß sie, trotz ihrer Ungeheuerlichkeit, in den Kreisen unserer tschechischen
Landleute ihre verderbliche Wirkung üben."

Bekanntlich wurde auf der Londoner Conferenz auch
die Frage der freien Schifffahrt durch die Dardanellen und den Bosporus ange-
regt, schließlich aber, wesentlich mit Aufrechthaltung der betreffenden Festsetzungen
des Pariser Vertrags und also namentlich des Grundsatzes der Sperrung der
Meerengen, dahin erledigt daß die Pforte sich vorbehielt in Friedenszeiten den
Kriegsschiffen befreundeter Mächte zum Zweck der Sicherstellung des Inhalts des
vorliegenden Vertrags die Durchfahrt zu gestatten. Seitdem ist Rußland bemüht
gewesen weitere Begünstigungen zu erwirken; die Pforte hat sich nicht unbedingt
ablehnend verhalten, aber sie hat, und zwar immer mit Aufrechthaltung des Prin-
cips der Sperrung, die Gewährung weiterer Concessionen davon abhängig gemacht
daß diese Concessionen von sämmtlichen Vertragsmächten gewünscht und nachge-
sucht würden -- in der klugen Erwägung augenscheinlich, daß die Gesammtheit der
Mächte nichts fordern werde was von der einen oder der andern Macht zu ihrem
alleinigen Vortheil ausgebeutet werden könnte.

Großbritannien.

* Das Auge welches die Geschichte Englands während des abgelaufenen
Jahres überblickt, sindet kaum einen einzigen Ruhepunkt: wie eine öde Haide liegt
das ereignißlose Jahr hinter uns. Bald wird man sich bei Nennung der Zahl
1871 nur noch erinnern daß der Prinz v. Wales schwer krank war, und von der
Krankheit genas. In der That bildet diese Krankheit das wichtigste Er-
eigniß des Jahrs, wichtig nicht nur weil durch ihren glücklichen Verlauf dem Herr-
scherhaus ein empfindlicher Verlust und dem Lande für den Fall einer Throner-
ledigung mit der Minderjährigkeit des Thronfolgers zusammenhängende Schwierig-
keiten erspart blieben, sondern hauptsächlich weil bei dieser Gelegenheit offenbar
wurde welch tiefe Wurzeln die conservativen Elemente, die Anhänglichkeit an das
Herrscherhaus in allen Schichten der Gesellschaft geschlagen hat. Kurz vor Aus-
bruch der Krankheit hatten die oratorischen Rundreisen des Sir Charles Dilke bei-
nahe den Gedanken aufkommen lassen daß auch in England die Einrichtung einer
Commune nicht in den Bereich der Unmöglichkeiten gehöre. Die äußere Politik
Englands ließ das Jahr 1871 ohne irgendwelche hervorragende That verfließen,
das einzige bemerkenswerthe Ereigniß ist die Londoner Pontus-Conferenz, deren
Aufgabe, genau betrachtet, nur darin bestand die Riederlage Englands zu Protokoll
zu nehmen, die Frucht der eifrigsten Bemühungen Lord Palmerstons, die Neu-
tralität des Schwarzen Meers aufzugeben. Auch die innere Entwicklung des Lan-
des machte während des Jahrs keinen nennenswerthen Fortschritt, die Parlaments-
verhandlungen drehten sich meist um Dinge von wenig Interesse für uns. Als Ge-
sammtergebniß läßt sich anführen daß das Ministerium, wenn es auch von der Mehr-
heit des Parlaments unterstützt wird, doch bei jeder Gelegenheit in Conflict mit
demselben kommt, und daher keinen festen Boden unter sich fühlt. Die Seele des
Cabinets ist Hr. Gladstone, nach ihm vertritt Lowe, der Schatzkanzler, die Ideen des
Ministeriums, obwohl er durch die nothwendig gewordene Erhöhung der Einkom-
mensteuer fast seine ganze Popularität eingebüßt hat. Die längst verheißene und
dringend nothwendige Reform des gesammten Justizwesens hat keine Fortschritte
gemacht. Der Kriegsminister Hr. Cardwell ließ durch königliche Ordre die Ein-
richtung des Stellenkaufs in der Armee aufheben, und hat sich damit um die Armee
wahrhaft verdient gemacht, wenn auch die etwas unparlamentarische Art und
Weise des Vorgangs von den Conservativen scharf getadelt wurde. Die unter
den Augen des Deutschen Kronprinzen und des Strategen Blumenthal vorgenom-
menen großen Feldmanöver sollten die Tüchtigkeit der englischen Armee dar-
thun, und sie haben auch wohl bescheidene Forderungen befriedigt. Als erster
Lord der Admiralität folgte Hr. Göschen dem frühern Hrn. Childers, er war in
seinem neuen Amte nicht gerade glücklich. Zwei schöne Schiffe der Marine, der
"Agincourt" und die "Megära," giengen zu Grunde. Ein ansehnlicher Theil der
liberalen Partei hat den Ausschluß des Religionsunterrichts von der Werktags-
schule als Programm aufgestellt -- sie drangen nicht durch. Für diesen Mangel des
Unterrichtsgesetzes machen nun die Nonconformisten das liberale Ministerium verant-
wortlich. Die Versöhnung mit Irland wurde mehr gewünscht als erreicht, ein Mit-
glied der königl. Familie sollte die Versöhnung besiegeln, unglücklicherweise aber
brach zu gleicher Zeit einer jener Conflicte zwischen Polizei und Pöbel aus wie sie
dort an der Tagesordnung sind. In Canada entstanden durch eine Fenier-Expe-
dition, welche in das abgelegene Gebiet des Red River einfiel, Keime von Verwick-
lungen mit den Behörden der Ver. Staaten, die aber weiter keine Folgen hatten.
In Indien erregte die Ermordung des Attorney General durch einen fanatischen
Wahabiten die Besorgnisse vor neuen Gährungen in der mohanunedanischen Be-
völkerung Indiens; noch vor wenigen Tagen wurden derartige Befürchtungen in
einer Zuschrift an die "Times" ausgesprochen, in mehreren darauffolgenden Ent-
gegnungen aber als grundlos widerlegt. Die Finanzjahresbilanz ist in hohem
Grade günstig. Die Hoffnungen der englischen Industrie sind jedoch durch die
von Frankreich beabsichtigte Kündigung des englisch-französischen Handelsvertrags
getrübt. Wie die Neutralisirung des Schwarzen Meeres das Werk Palmerstons,
auf das er am meisten stolz zu sein pflegte, im abgelaufenen Jahre zu Grabe gieng,
so wird der Beginn des neuen Jahrs den Handelsvertrag, das Werk Cobdens, auf
das alle Liberalen Englands mit Recht stolz waren, der das Muster aller neueren
Handelsverträge gewesen ist, vernichten.

Der Tod hat im letzten Jahr unter den berühmten Namen Englands keine
sonderlich reiche Ernte gehalten. Es starben, sämmtlich auf dem Höhepunkte des
menschlichen Alters, der Historiker Hr. George Grote, der Astronom Sir John
Herschel, der General Sir John Burgoyne, der Naturforscher Sir Roderick Murchison,
der Mathematiker Hr. Babbage, Lord Ellenborough, weiland Gouverneur von In-
dien, Bischof Patteson siel als Opfer seiner Missionsthätigkeit. Von dem berühmten
Afrikareisenden Dr. Livingstone weiß man noch immer nicht ob er noch zu den Le-
benden zu zählen ist.

Generallieutenant John Campbell ist im Alter von 73 Jahren mit Tod ab-
gegangen. Er hatte am Feldzuge gegen den ersten Napoleon, am ersten birmani-
schen Krieg und an der Unterdrückung des canadischen Aufstands i. J. 1838 theil-
genommen.

[Spaltenumbruch] und zwar mit Rückſicht theils auf die Stimmung der Bevölkerung an und für ſich,
theils auf die durch Gründung des Reichs gehobene und ſtark gewordene deutſch-
patriotiſche Strömung. Die ultramontane Partei ſelbſt hat das Gefühl — und hat
demſelben in der Preſſe auch ſchon Ausdruck gegeben — daß ihr dermaliges Verhalten
für die Volkskreiſe, die bisher in agitatoriſcher Erregung von ihr gehalten und zu
größeren Erwartungen berechtigt waren, einer Erklärung bedarf. Gegeben aber
wurde dieſe Erklärung bisher nicht. Wahrſcheinlich iſt, daß es der Curie uner-
wünſcht wäre das Dogma von der Unfehlbarkeit fernerhin forcirt zu ſehen; die Er-
fahrung daß ſie ihre Autorität in Deutſchland dadurch tief ſchädige, war gar zu
unläugbar.

Der Neujahrsempfang fand heute dem Programm
gemäß ſtatt. In ſeiner huldvollen Antwort auf die Glückwünſche der Generale
und Staatsminiſter gedachte der Kaiſer der letzten glorreichen Thaten der Armee
und der treuen Dienſte ſeiner Räthe auf eine höchſt ſchmeichelhafte Weiſe, zugleich
mit ſehr berechtigter Zuverſicht über die Zukunft des jungen Reiches ſich aus-
ſprechend. Die Stützen dieſes felſenfeſten Vertrauens findet der Kaiſer mit ſeiner
Regierung zunächſt in der eigenen Stärke des Deutſchen Reiches, und ſodann in
dem engen Freundſchaftsverhältniß welches zwiſchen dieſem Reich und den beiden
großen Nachbarländern Rußland und Oeſterreich-Ungarn beſteht. Zweifelſüchtige
Gemüther wollen freilich bereits in Bezug auf letzteres Reich eine Lockerung dieſes
Verhältniſſes in der allerdings etwas auffallenden Thatſache erblicken daß die
Rede mit welcher der Kaiſer Franz Joſeph den öſterreichiſchen Reichsrath vor
einigen Tagen eröffnet hat, die Freundlichkeiten nicht erwiedert mit denen der
Deutſche Kaiſer in ſeiner Thronrede bei Eröffnung des Deutſchen Reichstags die
öſterreichiſch-ungariſche Monarchie überſchüttete; indeſſen erklärt ſich dieſe Unter-
laſſung vielleicht zutreffender durch den Umſtand daß die Fragen der auswärtigen
Politik der Cognition der Vertretungen beider Reichshälften entzogen ſind, und vor
das Forum der gemeinſamen Delegation gehören. Aus demſelben Grunde wenig-
ſtens hat auch der König von Preußen, in der Rede mit welcher er den preußiſchen
Landtag eröffnete, das Gebiet der auswärtigen Politik nur ſehr flüchtig berührt.
Läugnen läßt ſich dagegen nicht daß man hier mit wachſender Beſorgniß die Ent-
wicklung der Dinge in Frankreich verfolgt, und daß die äußerſt friedliche Sprache
welche Hr. Thiers bei jeder Gelegenheit führt, das Mißtrauen nicht zu bannen
vermag welches die feindſelige Haltung der Parteien, die racheſchnaubende Sprache
der franzöſiſchen Preſſe und die ungewöhnlichen militäriſchen Anſtrengungen der
Regierung hier überall gegen die loyale Ausführung des Friedensvertrags von
Seiten Frankreichs wachgerufen haben. In dieſer Hinſicht gibt auch eine angebliche
Londoner Correſpondenz der „Köln. Ztg.,“ welche unſere regierungsfreundlichen
Blätter ihren Leſern „zur Orientirung“ mittheilen, der hier herrſchenden Stim-
mung einen prägnanten Ausdruck. Wenn jedoch Hr. Thiers dort geradezu ein
„unſicherer Kantoniſt“ (?) genannt iſt, der beim Fürſten Bismarck nur noch ſehr
geringe Sympathien finde, ſo leidet dieſe Ausdrucksweiſe jedenfalls an ſtarker
Uebertreibung, wie dieß ſchon die im ganzen für die gegenwärtige franzöſiſche
Regierung doch ſehr wohlwollende Inſtructionsdepeſche des Fürſten Bismarck
vom 7 v. M. außer Zweifel ſtellt. Sehr myſteriös und unwahrſcheinlich klingt
auch dasjenige was jener Correſpondent von den Schritten erzählt welche eine
europäiſche Großmacht erſten Rangs bei verſchiedenen Cabineten zu Gunſten der
Wiederherſtellung der napoleoniſchen Dynaſtie aus Sorge für die öffentliche Ord-
nung und Wohlfahrt gethan haben ſoll, welche auch von verſchiedenen europäiſchen
Regierungen theils aus nationalökonomiſchen, theils aus verwandtſchaftlichen,
theils auch aus rein politiſchen Gründen günſtig aufgenommen, jedoch an dem
unerſchütterlichen Wunſche der deutſchen Staatsmänner geſcheitert ſeien, in ihrer
Sympathie völlig freie Hand zu behalten. Die Großmacht von welcher hier die
Rede iſt, kann keine andere ſein als Rußland, und doch iſt es offenkundig genug
daß gerade Rußland unter allen europäiſchen Mächten das geringſte Intereſſe an
der Wiederherſtellung der napoleoniſchen Dynaſtie hat. Schritte der unterſtellten
Art hätten außerdem bei der deutſchen Reichsregierung nicht an dem angegebenen
Motiv, ſondern an dem von ihr feierlich proclamirten Princip der Nichtintervention
ſcheitern müſſen. So viel man in den hieſigen diplomatiſchen Kreiſen weiß,
ſind auch derartige Reſtaurationsverſuche von keiner europäiſchen Regierung verſucht
worden, und alles was der Londoner Correſpondent der „Köln. Ztg.“ zur Orien-
tirung der Leſer ſchreibt, läuft ſonach auf eine vielleicht wohlgemeinte, aber nicht
ſehr tactvolle, weil wirkungsloſe Einſchüchterung der leitenden Kreiſe in Frankreich
hinaus. Gegen die Genauigkeit der Darſtellung dieſes Correſpondenten ſpricht
überdieß das beachtenswerthe Moment daß er dem „Standard,“ einem Hauptorgan
der Tory-Partei, einen Platz unter den Blättern dritten Rangs anweist. — Die
Officiere der brandenburgiſchen Landwehr-Cavallerie werden am 18 d. zur Erin-
nerung an die Entſcheidungstage der Werder’ſchen Armee große Feſtlichkeiten ver-
anſtalten.

Oeſterreichiſch-ungariſche Monarchie.

Der Adreß-Ausſchuß des Abgeordneten-
hauſes wird am 5 Januar zuſammentreten, um den Entwurf des Referenten Dr.
Herbſt zu prüfen. Das Subcomité hat nämlich nach eingehender Erörterung des
Stoffes beſchloſſen daß der Berichterſtatter ſeinen Entwurf gleich dem Ausſchuß
vorlege. Obwohl die Ausſchußmitglieder unverbrüchliches Stillſchweigen ſich gegen-
ſeitig verſprachen, ſo iſt doch ſchon wieder bekannt daß in der Adreſſe die directen
Wahlen und die galiziſche Frage Hauptrollen ſpielen werden. Neben den Arbeiten
des Adreß-Ausſchuſſes gehen die Vorarbeiten des Finanz-Ausſchuſſes, und wenn
man künftige Woche die Plenarſitzungen aufnimmt, dürfte das Noth-Wahl-
geſetz eingebracht werden. Inzwiſchen will ſich auch die parlamentariſche Ver-
faſſungspartei als Club conſtituiren, wobei die „N. Fr. Pr.“ dem Comité den Ge-
danken zur Erwägung empfiehlt auch Parteigenoſſen des Herrenhauſes in den
Club aufzunehmen. — Zur Thronrede macht ein officiöſer Brief in ungariſchen
Blättern, gewiſſe Bemerkungen anderer Zeitungen zurückweiſend, die Gloſſe man
habe ſich deßhalb auf eine allgemeine Phraſe über die auswärtige Politik beſchränkt
weil verfaſſungsgemäß dieſe Angelegenheit nicht vor den Reichsrath, ſondern vor
die Delegationen gehöre. — Die tſchechiſchen Blätter bieten das möglichſte an
Hetzereien und Schmeicheleien, mitunter auch Drohungen auf, um die Polen zu
einem parlamentariſchen Strike zu bereden. Wie die nationale Hetze im allge-
meinen betrieben wird, davon mag folgende Stelle des Neujahrsartikels der
„Bohemia“ einen ungefähren Begriff geben. „Wohin,“ ſo fragt dieſes Blatt,
[Spaltenumbruch] „kann es ſchließlich führen wenn tſchechiſche Journale dem geſammten deutſchen
Volke die erbärmlichſten Geſinnungen vorwerfen, wenn ſie, wie die „Narodni Liſty“
dieſer Tage thaten, unter ihre Leſer hinausrufen: „daß in der ganzen deutſchen
Nation nicht ein einziger zartfühlender Nerv exiſtire,“ daß die „ganze Nation eine
Nation von Lügnern und Meuchelmördern“ ſei? Was für ein Uebermaß von Ver-
wilderung muß in jenen Kreiſen herrſchen aus denen derartige wahnwitzige Aus-
ſprüche hervorgehen können! Man möchte ſich verſucht fühlen über ſolche Aus-
geburten des Partei-Fanatismus mitleidig zu lächeln, wenn die Gefahr nicht be-
ſtände daß ſie, trotz ihrer Ungeheuerlichkeit, in den Kreiſen unſerer tſchechiſchen
Landleute ihre verderbliche Wirkung üben.“

Bekanntlich wurde auf der Londoner Conferenz auch
die Frage der freien Schifffahrt durch die Dardanellen und den Bosporus ange-
regt, ſchließlich aber, weſentlich mit Aufrechthaltung der betreffenden Feſtſetzungen
des Pariſer Vertrags und alſo namentlich des Grundſatzes der Sperrung der
Meerengen, dahin erledigt daß die Pforte ſich vorbehielt in Friedenszeiten den
Kriegsſchiffen befreundeter Mächte zum Zweck der Sicherſtellung des Inhalts des
vorliegenden Vertrags die Durchfahrt zu geſtatten. Seitdem iſt Rußland bemüht
geweſen weitere Begünſtigungen zu erwirken; die Pforte hat ſich nicht unbedingt
ablehnend verhalten, aber ſie hat, und zwar immer mit Aufrechthaltung des Prin-
cips der Sperrung, die Gewährung weiterer Conceſſionen davon abhängig gemacht
daß dieſe Conceſſionen von ſämmtlichen Vertragsmächten gewünſcht und nachge-
ſucht würden — in der klugen Erwägung augenſcheinlich, daß die Geſammtheit der
Mächte nichts fordern werde was von der einen oder der andern Macht zu ihrem
alleinigen Vortheil ausgebeutet werden könnte.

Großbritannien.

* Das Auge welches die Geſchichte Englands während des abgelaufenen
Jahres überblickt, ſindet kaum einen einzigen Ruhepunkt: wie eine öde Haide liegt
das ereignißloſe Jahr hinter uns. Bald wird man ſich bei Nennung der Zahl
1871 nur noch erinnern daß der Prinz v. Wales ſchwer krank war, und von der
Krankheit genas. In der That bildet dieſe Krankheit das wichtigſte Er-
eigniß des Jahrs, wichtig nicht nur weil durch ihren glücklichen Verlauf dem Herr-
ſcherhaus ein empfindlicher Verluſt und dem Lande für den Fall einer Throner-
ledigung mit der Minderjährigkeit des Thronfolgers zuſammenhängende Schwierig-
keiten erſpart blieben, ſondern hauptſächlich weil bei dieſer Gelegenheit offenbar
wurde welch tiefe Wurzeln die conſervativen Elemente, die Anhänglichkeit an das
Herrſcherhaus in allen Schichten der Geſellſchaft geſchlagen hat. Kurz vor Aus-
bruch der Krankheit hatten die oratoriſchen Rundreiſen des Sir Charles Dilke bei-
nahe den Gedanken aufkommen laſſen daß auch in England die Einrichtung einer
Commune nicht in den Bereich der Unmöglichkeiten gehöre. Die äußere Politik
Englands ließ das Jahr 1871 ohne irgendwelche hervorragende That verfließen,
das einzige bemerkenswerthe Ereigniß iſt die Londoner Pontus-Conferenz, deren
Aufgabe, genau betrachtet, nur darin beſtand die Riederlage Englands zu Protokoll
zu nehmen, die Frucht der eifrigſten Bemühungen Lord Palmerſtons, die Neu-
tralität des Schwarzen Meers aufzugeben. Auch die innere Entwicklung des Lan-
des machte während des Jahrs keinen nennenswerthen Fortſchritt, die Parlaments-
verhandlungen drehten ſich meiſt um Dinge von wenig Intereſſe für uns. Als Ge-
ſammtergebniß läßt ſich anführen daß das Miniſterium, wenn es auch von der Mehr-
heit des Parlaments unterſtützt wird, doch bei jeder Gelegenheit in Conflict mit
demſelben kommt, und daher keinen feſten Boden unter ſich fühlt. Die Seele des
Cabinets iſt Hr. Gladſtone, nach ihm vertritt Lowe, der Schatzkanzler, die Ideen des
Miniſteriums, obwohl er durch die nothwendig gewordene Erhöhung der Einkom-
menſteuer faſt ſeine ganze Popularität eingebüßt hat. Die längſt verheißene und
dringend nothwendige Reform des geſammten Juſtizweſens hat keine Fortſchritte
gemacht. Der Kriegsminiſter Hr. Cardwell ließ durch königliche Ordre die Ein-
richtung des Stellenkaufs in der Armee aufheben, und hat ſich damit um die Armee
wahrhaft verdient gemacht, wenn auch die etwas unparlamentariſche Art und
Weiſe des Vorgangs von den Conſervativen ſcharf getadelt wurde. Die unter
den Augen des Deutſchen Kronprinzen und des Strategen Blumenthal vorgenom-
menen großen Feldmanöver ſollten die Tüchtigkeit der engliſchen Armee dar-
thun, und ſie haben auch wohl beſcheidene Forderungen befriedigt. Als erſter
Lord der Admiralität folgte Hr. Göſchen dem frühern Hrn. Childers, er war in
ſeinem neuen Amte nicht gerade glücklich. Zwei ſchöne Schiffe der Marine, der
„Agincourt“ und die „Megära,“ giengen zu Grunde. Ein anſehnlicher Theil der
liberalen Partei hat den Ausſchluß des Religionsunterrichts von der Werktags-
ſchule als Programm aufgeſtellt — ſie drangen nicht durch. Für dieſen Mangel des
Unterrichtsgeſetzes machen nun die Nonconformiſten das liberale Miniſterium verant-
wortlich. Die Verſöhnung mit Irland wurde mehr gewünſcht als erreicht, ein Mit-
glied der königl. Familie ſollte die Verſöhnung beſiegeln, unglücklicherweiſe aber
brach zu gleicher Zeit einer jener Conflicte zwiſchen Polizei und Pöbel aus wie ſie
dort an der Tagesordnung ſind. In Canada entſtanden durch eine Fenier-Expe-
dition, welche in das abgelegene Gebiet des Red River einfiel, Keime von Verwick-
lungen mit den Behörden der Ver. Staaten, die aber weiter keine Folgen hatten.
In Indien erregte die Ermordung des Attorney General durch einen fanatiſchen
Wahabiten die Beſorgniſſe vor neuen Gährungen in der mohanunedaniſchen Be-
völkerung Indiens; noch vor wenigen Tagen wurden derartige Befürchtungen in
einer Zuſchrift an die „Times“ ausgeſprochen, in mehreren darauffolgenden Ent-
gegnungen aber als grundlos widerlegt. Die Finanzjahresbilanz iſt in hohem
Grade günſtig. Die Hoffnungen der engliſchen Induſtrie ſind jedoch durch die
von Frankreich beabſichtigte Kündigung des engliſch-franzöſiſchen Handelsvertrags
getrübt. Wie die Neutraliſirung des Schwarzen Meeres das Werk Palmerſtons,
auf das er am meiſten ſtolz zu ſein pflegte, im abgelaufenen Jahre zu Grabe gieng,
ſo wird der Beginn des neuen Jahrs den Handelsvertrag, das Werk Cobdens, auf
das alle Liberalen Englands mit Recht ſtolz waren, der das Muſter aller neueren
Handelsverträge geweſen iſt, vernichten.

Der Tod hat im letzten Jahr unter den berühmten Namen Englands keine
ſonderlich reiche Ernte gehalten. Es ſtarben, ſämmtlich auf dem Höhepunkte des
menſchlichen Alters, der Hiſtoriker Hr. George Grote, der Aſtronom Sir John
Herſchel, der General Sir John Burgoyne, der Naturforſcher Sir Roderick Murchiſon,
der Mathematiker Hr. Babbage, Lord Ellenborough, weiland Gouverneur von In-
dien, Biſchof Patteſon ſiel als Opfer ſeiner Miſſionsthätigkeit. Von dem berühmten
Afrikareiſenden Dr. Livingſtone weiß man noch immer nicht ob er noch zu den Le-
benden zu zählen iſt.

Generallieutenant John Campbell iſt im Alter von 73 Jahren mit Tod ab-
gegangen. Er hatte am Feldzuge gegen den erſten Napoleon, am erſten birmani-
ſchen Krieg und an der Unterdrückung des canadiſchen Aufſtands i. J. 1838 theil-
genommen.

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Hetzereien und Schmeicheleien, mitunter auch Drohungen auf, um die Polen zu<lb/>
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            <p>* Das Auge welches die Ge&#x017F;chichte Englands während des abgelaufenen<lb/>
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[44/0004] und zwar mit Rückſicht theils auf die Stimmung der Bevölkerung an und für ſich, theils auf die durch Gründung des Reichs gehobene und ſtark gewordene deutſch- patriotiſche Strömung. Die ultramontane Partei ſelbſt hat das Gefühl — und hat demſelben in der Preſſe auch ſchon Ausdruck gegeben — daß ihr dermaliges Verhalten für die Volkskreiſe, die bisher in agitatoriſcher Erregung von ihr gehalten und zu größeren Erwartungen berechtigt waren, einer Erklärung bedarf. Gegeben aber wurde dieſe Erklärung bisher nicht. Wahrſcheinlich iſt, daß es der Curie uner- wünſcht wäre das Dogma von der Unfehlbarkeit fernerhin forcirt zu ſehen; die Er- fahrung daß ſie ihre Autorität in Deutſchland dadurch tief ſchädige, war gar zu unläugbar. (—) Berlin, 1 Jan.Der Neujahrsempfang fand heute dem Programm gemäß ſtatt. In ſeiner huldvollen Antwort auf die Glückwünſche der Generale und Staatsminiſter gedachte der Kaiſer der letzten glorreichen Thaten der Armee und der treuen Dienſte ſeiner Räthe auf eine höchſt ſchmeichelhafte Weiſe, zugleich mit ſehr berechtigter Zuverſicht über die Zukunft des jungen Reiches ſich aus- ſprechend. Die Stützen dieſes felſenfeſten Vertrauens findet der Kaiſer mit ſeiner Regierung zunächſt in der eigenen Stärke des Deutſchen Reiches, und ſodann in dem engen Freundſchaftsverhältniß welches zwiſchen dieſem Reich und den beiden großen Nachbarländern Rußland und Oeſterreich-Ungarn beſteht. Zweifelſüchtige Gemüther wollen freilich bereits in Bezug auf letzteres Reich eine Lockerung dieſes Verhältniſſes in der allerdings etwas auffallenden Thatſache erblicken daß die Rede mit welcher der Kaiſer Franz Joſeph den öſterreichiſchen Reichsrath vor einigen Tagen eröffnet hat, die Freundlichkeiten nicht erwiedert mit denen der Deutſche Kaiſer in ſeiner Thronrede bei Eröffnung des Deutſchen Reichstags die öſterreichiſch-ungariſche Monarchie überſchüttete; indeſſen erklärt ſich dieſe Unter- laſſung vielleicht zutreffender durch den Umſtand daß die Fragen der auswärtigen Politik der Cognition der Vertretungen beider Reichshälften entzogen ſind, und vor das Forum der gemeinſamen Delegation gehören. Aus demſelben Grunde wenig- ſtens hat auch der König von Preußen, in der Rede mit welcher er den preußiſchen Landtag eröffnete, das Gebiet der auswärtigen Politik nur ſehr flüchtig berührt. Läugnen läßt ſich dagegen nicht daß man hier mit wachſender Beſorgniß die Ent- wicklung der Dinge in Frankreich verfolgt, und daß die äußerſt friedliche Sprache welche Hr. Thiers bei jeder Gelegenheit führt, das Mißtrauen nicht zu bannen vermag welches die feindſelige Haltung der Parteien, die racheſchnaubende Sprache der franzöſiſchen Preſſe und die ungewöhnlichen militäriſchen Anſtrengungen der Regierung hier überall gegen die loyale Ausführung des Friedensvertrags von Seiten Frankreichs wachgerufen haben. In dieſer Hinſicht gibt auch eine angebliche Londoner Correſpondenz der „Köln. Ztg.,“ welche unſere regierungsfreundlichen Blätter ihren Leſern „zur Orientirung“ mittheilen, der hier herrſchenden Stim- mung einen prägnanten Ausdruck. Wenn jedoch Hr. Thiers dort geradezu ein „unſicherer Kantoniſt“ (?) genannt iſt, der beim Fürſten Bismarck nur noch ſehr geringe Sympathien finde, ſo leidet dieſe Ausdrucksweiſe jedenfalls an ſtarker Uebertreibung, wie dieß ſchon die im ganzen für die gegenwärtige franzöſiſche Regierung doch ſehr wohlwollende Inſtructionsdepeſche des Fürſten Bismarck vom 7 v. M. außer Zweifel ſtellt. Sehr myſteriös und unwahrſcheinlich klingt auch dasjenige was jener Correſpondent von den Schritten erzählt welche eine europäiſche Großmacht erſten Rangs bei verſchiedenen Cabineten zu Gunſten der Wiederherſtellung der napoleoniſchen Dynaſtie aus Sorge für die öffentliche Ord- nung und Wohlfahrt gethan haben ſoll, welche auch von verſchiedenen europäiſchen Regierungen theils aus nationalökonomiſchen, theils aus verwandtſchaftlichen, theils auch aus rein politiſchen Gründen günſtig aufgenommen, jedoch an dem unerſchütterlichen Wunſche der deutſchen Staatsmänner geſcheitert ſeien, in ihrer Sympathie völlig freie Hand zu behalten. Die Großmacht von welcher hier die Rede iſt, kann keine andere ſein als Rußland, und doch iſt es offenkundig genug daß gerade Rußland unter allen europäiſchen Mächten das geringſte Intereſſe an der Wiederherſtellung der napoleoniſchen Dynaſtie hat. Schritte der unterſtellten Art hätten außerdem bei der deutſchen Reichsregierung nicht an dem angegebenen Motiv, ſondern an dem von ihr feierlich proclamirten Princip der Nichtintervention ſcheitern müſſen. So viel man in den hieſigen diplomatiſchen Kreiſen weiß, ſind auch derartige Reſtaurationsverſuche von keiner europäiſchen Regierung verſucht worden, und alles was der Londoner Correſpondent der „Köln. Ztg.“ zur Orien- tirung der Leſer ſchreibt, läuft ſonach auf eine vielleicht wohlgemeinte, aber nicht ſehr tactvolle, weil wirkungsloſe Einſchüchterung der leitenden Kreiſe in Frankreich hinaus. Gegen die Genauigkeit der Darſtellung dieſes Correſpondenten ſpricht überdieß das beachtenswerthe Moment daß er dem „Standard,“ einem Hauptorgan der Tory-Partei, einen Platz unter den Blättern dritten Rangs anweist. — Die Officiere der brandenburgiſchen Landwehr-Cavallerie werden am 18 d. zur Erin- nerung an die Entſcheidungstage der Werder’ſchen Armee große Feſtlichkeiten ver- anſtalten. Oeſterreichiſch-ungariſche Monarchie. *Aus Oeſterreich, 2 Jan.Der Adreß-Ausſchuß des Abgeordneten- hauſes wird am 5 Januar zuſammentreten, um den Entwurf des Referenten Dr. Herbſt zu prüfen. Das Subcomité hat nämlich nach eingehender Erörterung des Stoffes beſchloſſen daß der Berichterſtatter ſeinen Entwurf gleich dem Ausſchuß vorlege. Obwohl die Ausſchußmitglieder unverbrüchliches Stillſchweigen ſich gegen- ſeitig verſprachen, ſo iſt doch ſchon wieder bekannt daß in der Adreſſe die directen Wahlen und die galiziſche Frage Hauptrollen ſpielen werden. Neben den Arbeiten des Adreß-Ausſchuſſes gehen die Vorarbeiten des Finanz-Ausſchuſſes, und wenn man künftige Woche die Plenarſitzungen aufnimmt, dürfte das Noth-Wahl- geſetz eingebracht werden. Inzwiſchen will ſich auch die parlamentariſche Ver- faſſungspartei als Club conſtituiren, wobei die „N. Fr. Pr.“ dem Comité den Ge- danken zur Erwägung empfiehlt auch Parteigenoſſen des Herrenhauſes in den Club aufzunehmen. — Zur Thronrede macht ein officiöſer Brief in ungariſchen Blättern, gewiſſe Bemerkungen anderer Zeitungen zurückweiſend, die Gloſſe man habe ſich deßhalb auf eine allgemeine Phraſe über die auswärtige Politik beſchränkt weil verfaſſungsgemäß dieſe Angelegenheit nicht vor den Reichsrath, ſondern vor die Delegationen gehöre. — Die tſchechiſchen Blätter bieten das möglichſte an Hetzereien und Schmeicheleien, mitunter auch Drohungen auf, um die Polen zu einem parlamentariſchen Strike zu bereden. Wie die nationale Hetze im allge- meinen betrieben wird, davon mag folgende Stelle des Neujahrsartikels der „Bohemia“ einen ungefähren Begriff geben. „Wohin,“ ſo fragt dieſes Blatt, „kann es ſchließlich führen wenn tſchechiſche Journale dem geſammten deutſchen Volke die erbärmlichſten Geſinnungen vorwerfen, wenn ſie, wie die „Narodni Liſty“ dieſer Tage thaten, unter ihre Leſer hinausrufen: „daß in der ganzen deutſchen Nation nicht ein einziger zartfühlender Nerv exiſtire,“ daß die „ganze Nation eine Nation von Lügnern und Meuchelmördern“ ſei? Was für ein Uebermaß von Ver- wilderung muß in jenen Kreiſen herrſchen aus denen derartige wahnwitzige Aus- ſprüche hervorgehen können! Man möchte ſich verſucht fühlen über ſolche Aus- geburten des Partei-Fanatismus mitleidig zu lächeln, wenn die Gefahr nicht be- ſtände daß ſie, trotz ihrer Ungeheuerlichkeit, in den Kreiſen unſerer tſchechiſchen Landleute ihre verderbliche Wirkung üben.“ &#xfffc; Wien, 2 Jan.Bekanntlich wurde auf der Londoner Conferenz auch die Frage der freien Schifffahrt durch die Dardanellen und den Bosporus ange- regt, ſchließlich aber, weſentlich mit Aufrechthaltung der betreffenden Feſtſetzungen des Pariſer Vertrags und alſo namentlich des Grundſatzes der Sperrung der Meerengen, dahin erledigt daß die Pforte ſich vorbehielt in Friedenszeiten den Kriegsſchiffen befreundeter Mächte zum Zweck der Sicherſtellung des Inhalts des vorliegenden Vertrags die Durchfahrt zu geſtatten. Seitdem iſt Rußland bemüht geweſen weitere Begünſtigungen zu erwirken; die Pforte hat ſich nicht unbedingt ablehnend verhalten, aber ſie hat, und zwar immer mit Aufrechthaltung des Prin- cips der Sperrung, die Gewährung weiterer Conceſſionen davon abhängig gemacht daß dieſe Conceſſionen von ſämmtlichen Vertragsmächten gewünſcht und nachge- ſucht würden — in der klugen Erwägung augenſcheinlich, daß die Geſammtheit der Mächte nichts fordern werde was von der einen oder der andern Macht zu ihrem alleinigen Vortheil ausgebeutet werden könnte. Großbritannien. London, 1 Jan. * Das Auge welches die Geſchichte Englands während des abgelaufenen Jahres überblickt, ſindet kaum einen einzigen Ruhepunkt: wie eine öde Haide liegt das ereignißloſe Jahr hinter uns. Bald wird man ſich bei Nennung der Zahl 1871 nur noch erinnern daß der Prinz v. Wales ſchwer krank war, und von der Krankheit genas. In der That bildet dieſe Krankheit das wichtigſte Er- eigniß des Jahrs, wichtig nicht nur weil durch ihren glücklichen Verlauf dem Herr- ſcherhaus ein empfindlicher Verluſt und dem Lande für den Fall einer Throner- ledigung mit der Minderjährigkeit des Thronfolgers zuſammenhängende Schwierig- keiten erſpart blieben, ſondern hauptſächlich weil bei dieſer Gelegenheit offenbar wurde welch tiefe Wurzeln die conſervativen Elemente, die Anhänglichkeit an das Herrſcherhaus in allen Schichten der Geſellſchaft geſchlagen hat. Kurz vor Aus- bruch der Krankheit hatten die oratoriſchen Rundreiſen des Sir Charles Dilke bei- nahe den Gedanken aufkommen laſſen daß auch in England die Einrichtung einer Commune nicht in den Bereich der Unmöglichkeiten gehöre. Die äußere Politik Englands ließ das Jahr 1871 ohne irgendwelche hervorragende That verfließen, das einzige bemerkenswerthe Ereigniß iſt die Londoner Pontus-Conferenz, deren Aufgabe, genau betrachtet, nur darin beſtand die Riederlage Englands zu Protokoll zu nehmen, die Frucht der eifrigſten Bemühungen Lord Palmerſtons, die Neu- tralität des Schwarzen Meers aufzugeben. Auch die innere Entwicklung des Lan- des machte während des Jahrs keinen nennenswerthen Fortſchritt, die Parlaments- verhandlungen drehten ſich meiſt um Dinge von wenig Intereſſe für uns. Als Ge- ſammtergebniß läßt ſich anführen daß das Miniſterium, wenn es auch von der Mehr- heit des Parlaments unterſtützt wird, doch bei jeder Gelegenheit in Conflict mit demſelben kommt, und daher keinen feſten Boden unter ſich fühlt. Die Seele des Cabinets iſt Hr. Gladſtone, nach ihm vertritt Lowe, der Schatzkanzler, die Ideen des Miniſteriums, obwohl er durch die nothwendig gewordene Erhöhung der Einkom- menſteuer faſt ſeine ganze Popularität eingebüßt hat. Die längſt verheißene und dringend nothwendige Reform des geſammten Juſtizweſens hat keine Fortſchritte gemacht. Der Kriegsminiſter Hr. Cardwell ließ durch königliche Ordre die Ein- richtung des Stellenkaufs in der Armee aufheben, und hat ſich damit um die Armee wahrhaft verdient gemacht, wenn auch die etwas unparlamentariſche Art und Weiſe des Vorgangs von den Conſervativen ſcharf getadelt wurde. Die unter den Augen des Deutſchen Kronprinzen und des Strategen Blumenthal vorgenom- menen großen Feldmanöver ſollten die Tüchtigkeit der engliſchen Armee dar- thun, und ſie haben auch wohl beſcheidene Forderungen befriedigt. Als erſter Lord der Admiralität folgte Hr. Göſchen dem frühern Hrn. Childers, er war in ſeinem neuen Amte nicht gerade glücklich. Zwei ſchöne Schiffe der Marine, der „Agincourt“ und die „Megära,“ giengen zu Grunde. Ein anſehnlicher Theil der liberalen Partei hat den Ausſchluß des Religionsunterrichts von der Werktags- ſchule als Programm aufgeſtellt — ſie drangen nicht durch. Für dieſen Mangel des Unterrichtsgeſetzes machen nun die Nonconformiſten das liberale Miniſterium verant- wortlich. Die Verſöhnung mit Irland wurde mehr gewünſcht als erreicht, ein Mit- glied der königl. Familie ſollte die Verſöhnung beſiegeln, unglücklicherweiſe aber brach zu gleicher Zeit einer jener Conflicte zwiſchen Polizei und Pöbel aus wie ſie dort an der Tagesordnung ſind. In Canada entſtanden durch eine Fenier-Expe- dition, welche in das abgelegene Gebiet des Red River einfiel, Keime von Verwick- lungen mit den Behörden der Ver. Staaten, die aber weiter keine Folgen hatten. In Indien erregte die Ermordung des Attorney General durch einen fanatiſchen Wahabiten die Beſorgniſſe vor neuen Gährungen in der mohanunedaniſchen Be- völkerung Indiens; noch vor wenigen Tagen wurden derartige Befürchtungen in einer Zuſchrift an die „Times“ ausgeſprochen, in mehreren darauffolgenden Ent- gegnungen aber als grundlos widerlegt. Die Finanzjahresbilanz iſt in hohem Grade günſtig. Die Hoffnungen der engliſchen Induſtrie ſind jedoch durch die von Frankreich beabſichtigte Kündigung des engliſch-franzöſiſchen Handelsvertrags getrübt. Wie die Neutraliſirung des Schwarzen Meeres das Werk Palmerſtons, auf das er am meiſten ſtolz zu ſein pflegte, im abgelaufenen Jahre zu Grabe gieng, ſo wird der Beginn des neuen Jahrs den Handelsvertrag, das Werk Cobdens, auf das alle Liberalen Englands mit Recht ſtolz waren, der das Muſter aller neueren Handelsverträge geweſen iſt, vernichten. Der Tod hat im letzten Jahr unter den berühmten Namen Englands keine ſonderlich reiche Ernte gehalten. Es ſtarben, ſämmtlich auf dem Höhepunkte des menſchlichen Alters, der Hiſtoriker Hr. George Grote, der Aſtronom Sir John Herſchel, der General Sir John Burgoyne, der Naturforſcher Sir Roderick Murchiſon, der Mathematiker Hr. Babbage, Lord Ellenborough, weiland Gouverneur von In- dien, Biſchof Patteſon ſiel als Opfer ſeiner Miſſionsthätigkeit. Von dem berühmten Afrikareiſenden Dr. Livingſtone weiß man noch immer nicht ob er noch zu den Le- benden zu zählen iſt. Generallieutenant John Campbell iſt im Alter von 73 Jahren mit Tod ab- gegangen. Er hatte am Feldzuge gegen den erſten Napoleon, am erſten birmani- ſchen Krieg und an der Unterdrückung des canadiſchen Aufſtands i. J. 1838 theil- genommen.

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 4, 4. Januar 1872, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine04_1872/4>, abgerufen am 23.11.2024.