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Allgemeine Zeitung, Nr. 4, 4. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch]

In den Köpfen welche den Beruf Frankreichs in solcher Weise charakterisiren,
ist selbstverständlich kein Raum mehr für den Gedanken daß jede Nation ein unbe-
streitbares Recht habe ihre innern Angelegenheiten ausschließlich selbst zu ordnen.
Daher der Schrei der revanche de Sadowa, als eine kühne aus dem Geleise alther-
gebrachter Anschauungen heraustretende Politik die Bande des deutschen Bundes
zersprengte und eine neue deutsche Organisation aufstellte. Eine überaus zarte
Empfindung für das Schicksal Hannovers, Hessens und Nassau's deckte mit nur zu
durchsichtigem Schleier die rege Besorgniß: es könne das Schiedsrichteramt für Eu-
ropa in Zukunft nicht mehr auf gleichen Gehorsam jenseits des Rheins zählen.
Und dieses Amt -- von wem wurde es denn ausgeübt? Doch nicht von der gan-
zen nation noble et genereuse, sondern von der jeweiligen Regierung. Und da
ist es doch eine eigenthümliche Erscheinung, die nicht genug zum Nachdenken auffor-
dern kann und die seither noch nicht genügend hervorgehoben worden ist, daß
diese civilisirteste Nation stets ihrer Regierung zujauchzet sobald es sich darum
handelt die auswärtige Politik sich tributär zu machen und den Krieg in fremdes
Land zu spielen; daß sie aber stets dieselbe Regierung stürzt und zum Lande
hinausjagt sobald letztere ihr Uebergewicht im Innern geltend zu machen sucht,
oder nach außen hin den stolzen Erwartungen nicht entspricht.

Ein Mißerfolg aber von so eclatanter Art wie der letzte kann nicht auf
natürlichem Wege verschuldet worden sein -- daher zuerst das Geschrei der trahison
-- und jetzt die Theorie der invasion, oder, wie es noch besser genannt wird, der
politique d'envahissement.

Diese neuentdeckte Theorie verdient daß man sich in Deutschland etwas ge-
nauer mit ihr bekannt mache; es fehlt ihr nicht an kühnen Gedankenblitzen und
unfreier Komik.

Obenan steht der Satz: "l'Allemagne fait des invasions, tandis que
nous en Europe nous faisons seulement des guerres."
*)

Da ein Mitglied des Instituts dieß behauptet, so wird man, mit dem gan-
zen Respect den diese hohe wissenschaftliche Körperschaft verdient, aufhorchen. Nach
ihm beruht also der Unterschied in den beiderseitigen Kriegen ausschließlich in dem
Endzweck den man zu erreichen suchte. "Frankreich strebte beständig nach einem
gewissen Uebergewicht in Europa, zu welchem es ein Recht hatte wegen der Ueber-
legenheit seiner Civilisation.**) Als Monarchie wollte es seinem Namen Achtung
verschaffen, und seine Feinde in die Unmöglichkeit versetzen ihm zu schaden; als
revolutionäres Land suchte es seine Ideen über Befreiung der Völker, Gleichheit
der bürgerlichen Rechte und socialen Fortschritt zu verbreiten. Deutschland hatte
andere Zielpunkte: es suchte Auswege für seine überzählige Bevölkerung; nicht
Soldaten, sondern bewaffnete Ansiedler sendet es über seine Gränzen: Deutschland
macht räuberische Einfälle, während wir in Europa nur Kriege führen."

Das Exordium ist nicht übel aufgestellt, denn mit dieser Prämisse kommt
man zu allem möglichen. Es ist leicht damit zu beweisen daß alle Kriege Frank-
reichs im Rechte begründet waren: die Verwüstungen der Pfalz, die Verbün-
dungen gegen Friedrich II, die Napoleonischen Feldzüge und Annexionen -- die
Eroberung Algiers, wo die scheußlichsten Gräuelthaten von der französischen Armee ver-
übt wurden, und noch gestern wieder verübt wurden, da die unrechtmäßig unterdrück-
ten eingebornen Stämme ihr Joch abzuschütteln versuchten; die Kriege in Mexico mit
den berüchtigten Contre-Guerrillas und in China mit der weltbekannten Plünde-
rung des kaiserlichen Palastes, anderer Gemeinheiten nicht zu gedenken -- sie alle
flossen unbestreitbar aus dem Rechte: que le nom de la France faut respecte
et que ses ennemis fussent mis dans l'impossibilite de lui nuire.
Ein an-
derer Staat konnte aber dieses Recht nicht anrufen: denn die superiorite de la
civilisation
fehlt ihm. Daß ein solches von der Partei selbst aufgestelltes Urtheil
über diesen Vorrang keinen Werth haben kann, fällt natürlich der eiteln Nation
nicht ein.

Einmal jedoch hat auch Frankreich -- leider! -- der politique d'envahisse-
ment
gehuldigt, aber es kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden, denn es
folgte nur der Leitung Ludwigs XIV, und dieser stand unter dem Einflusse Lou-
vois'.***) Es hat aber schwer dafür gebüßt, und ist nie in den Fehler zurückgefallen.
"Denn sicherlich waren doch unsere Kriege in der Krim und in Italien keine In-
vasionskriege.+) Frankreich wollte durch Arbeit, durch Ausbeutung seiner Boden-
erzeugnisse, durch die regelmäßige Entwicklung seiner Institutionen, durch Künste,
Wissenschaften, Schulen und Bücher sich vergrößern. Das war sein Wunsch, und
es ist unmöglich in Frankreich einen einzigen Staatsmann zu benennen der seit
vierzig Jahren eine andere Politik befolgt hätte.++) Die Republik von 1848 war
doch sicher nicht "envahissante," und Napoleon III mußte, um das Kaiserthum zu
empfehlen, das Versprechen geben: l'empire c'est la paix. Und ebenso mußten
die Deputirten bei jeder Neuwahl versprechen daß der Friede erhalten und die
Armee verringert werden solle. Frankreich wollte keine Eroberungen. Man
hätte bis in die untersten Schichten der Gesellschaft, zu den Dümmsten und Albern-
sten hinabsteigen müssen, um Leute zu finden die noch von Invasionskriegen träum-
ten und die Rheingränzewünschten.+++) Es vergieng kein Jahr, wo nicht das corps
legislatif
Verringerung der Ausgaben für das Heer verlangte. Man macht ihm
freilich den Vorwurf die Kriegserklärung gegen Preußen mit einem enthusiastischen
Beschluß begrüßt zu haben; man muß jedoch genauer untersuchen was denn dieser
Beschluß eigentlich bedeutete. Die Versammlung die ihn faßte war sicherlich eine
der friedlichsten in ganz Europa; sie stimmte für den Krieg nur in Folge des ihr
gegebenen Versprechens daß dieser Krieg eine allgemeine Entwaffnung herbei-
führen werde. Sie verlangte nicht das linke Rheinufer, sie verlangte Verminde-
[Spaltenumbruch] rung der Armeen und beinahe die Unterdrückung des Krieges für die Zukunft.
Ihr Beschluß war im Grund ein Friedens-Votum!"

Wohin man mit solcher Schilderung der öffentlichen Zustände und Gesin-
nungs-Fluctuationen, mit einer solchen Exegese öffentlicher Verhandlungen, die
vor einem Jahre unter unsern Augen sich zugetragen, gelangen muß, ist leicht er-
sichtlich. Kein Wort von dem Jubel, den Entzückungen die durch Paris, durch
Frankreich mit elektrischen Schlägen jedes Herz erzittern machten, als die falschen
Nachrichten von den Erfolgen bei Saarbrücken, von den angeblichen Siegen bei
Weißenburg und Wörth sich ausbreiteten! Es ist das aber noch nicht genug:
wir lernen noch viel mehr. "Während in Frankreich sich nur noch bei den un-
wissenden Classen kriegerische Gelüste vorfinden, sind es in Preußen vielmehr die
höheren und gebildeten Classen welche zum Kriege treiben; sie scheinen angesteckt
von der alten Krankheit welche man uns ehemals vorwarf und chauvinisme
nannte. Die alten Ideen von Krieg und Ruhm herrschen noch heute in den Ber-
liner Salons und auf den Kathedern der Universität. Doch muß man die Be-
völkerung entschuldigen, und bedenken daß schon seit zwei Jahrhunderten das
Haus Hohenzollern diesen kriegerischen Geist unterhält. Die öffentliche Meinung
in Preußen ist disciplinirt wie die Armee. Das verstand Louvois nicht; er lehrte
Frankreich nicht die Spanier, die Deutschen, die Italiener zu hassen. Das ist ein
Unterricht den man bei uns immer vernachlässigt hat. Daher kam es daß unsere
Officiere und unsere Soldaten stets Europa durchzogen haben ohne zu hassen und
ohne gehaßt zu werden. Sie thaten ihre Pflicht als Soldaten, aber ohne Erbitterung,
Groll oder Neid. Der Deutsche, der Russe war für sie mehr ein Gegner als ein
Feind. Das Haus Hohenzollern hat die Kunst des Krieges bedeutend über die
bekannten Gränzen erweitert; es begriff früher als alle andern Menschen daß, um
desto sicherer den Sieg zu ernten, man den Haß säen müsse. Demgemäß ward
unaufhörlich von unserm Hochmuth, unserm Ehrgeiz, unserer Gottlosigkeit, unserer
Sittenverderbniß gesprochen; mit Hülfe der Religion und des Pietismus ward der
Haß in die jungen Seelen eingeflößt. Auch die Wissenschaft wurde dazu benutzt;
ihre Professoren legten sich darauf unsere französische Revolution zu travestiren
und unsere ganze Geschichte zu entstellen, um uns hassenswerth zu machen; die
Philologie und die Ethnologie mußten dazu dienen den Beweis zu liefern daß unsere
allerfranzösischesten Provinzen ihr rechtmäßiges Eigenthum seien; sie zwangen die
Moral zu der Lehre daß eine vollendete Thatsache heilig, der Erfolg eine Fügung
der Vorsehung sei, und daß daher Gewalt vor Recht gehe. Auf diese Weise ward
seit langer Zeit Preußen zu dem jetzigen Kriege vorbereitet. -- -- Es wollte aber
noch mehr als bloß das Elsaß und Lothringen nehmen. Seine Race wollte
die unsrige vertilgen, sein Stolz wollte unsern Namen auslöschen, sein Neid
unsere Künste und Wissenschaften zerstören, seine Habgier unsern Reichthum ver-
schlingen."

Wenn man diese Diatribe nicht gedruckt vor sich sähe, würde man nicht
glauben daß sich in einer civilisirten Nation irgendein Individuum auffinden ließe
welches solchen Unsinn zu schreiben fähig wäre! Und dergleichen Fälschungen und
Verleumdungen gibt man dort für Geschichtsforschung aus! Wahrlich, wäre es
nicht so durchaus lächerlich, [unleserliches Material - 3 Zeichen fehlen] könnte sich darüber betrüben!

Wir werden jedoch in dem dritten Abschnitt dieser absonderlichen Studie
belehrt daß wesentlich die Besorgniß des Verfassers für die Zukunft Deutschlands
diesem die Feder in die Hand gab. Denn der Vergleich der Politik Ludwigs XIV
und derjenigen welche heute Frankreich gegenüber befolgt werden mußte, verlangt
natürlich auch eine Schilderung der Folgen welche erstere nach sich zog. Und da
wird denn allerdings der Wahrheit gemäß die Kehrseite der französischen Medaille
in einer Weise gezeigt wie sie vor 1870 schwerlich durch dieselbe Feder gezeichnet
worden wäre. "Ludwig XIV, obgleich stets siegreich, behielt doch schließlich
von allen seinen Eroberungen nur Straßburg und einige flandrische Städte. Dafür
aber verlor er die Freundschaft und die Allianz aller anderen Staaten, und fand
sich vollständig isolirt in der Welt; Frankreichs Einfluß war vermindert, sein
Prästigium geschädigt, seine Sicherheit selbst in Frage gestellt. Dazu war das Land
an Menschen und Geld erschöpft; um Krieg sühren zu können mußte man die alten
Abgaben verdoppeln, neue Auflagen einführen, die Münzen verschlechtern, die
Stellen verkaufen. Die Schuld stieg von 150 Millionen bis auf drei Milliarden.
Dabei war der Handel ruinirt; der Krieg mit Deutschland hinderte die Ausfuhr,
der Krieg mit Holland und England zerstörte die Handelsmarine ebenso wie die
Kriegsflotte. Die Industrie gieng zu Grunde weil sie keinen Absatz mehr fand;
die ackerbauende Bevölkerung war die unglücklichste von allen, weil auf ihr alle
Abgaben ruhten. Fenelon konnte damals dem großen König schreiben: "Ihr Volk
stirbt vor Hunger, und ganz Frankreich ist nur noch ein großes Hospital." Eine
nothwendige Folge hiervon war die Entvölkerung; im Jahr 1700 zählte Frankreich
trotz zweier neuen Provinzen ein Viertheil Einwohner weniger. Das sind die
Folgen der politique d'envahissement, und sie auch stehen Deutschland bevor.
Deutschland mag zwei Provinzen gewonnen haben, dafür hat es die Sym-
pathie und das Vertrauen aller anderen Staaten verloren, denn es hat
eine Ehrsucht verrathen welche die anderen Völker ihm ebenso wenig verzeihen
werden als dem vierzehnten Ludwig und Napoleon. Preußen hat in diesem Augen-
blick keinen Verbündeten auf der Welt; niemand freut sich aufrichtig über seine
Erfolge, und wenn die Stunde der Buße schlägt, wird niemand an seinen Leiden
theilnehmen. Die Nation hat auch im Grunde nichts gewonnen, denn der Kern
der Frage bleibt immer der: wird Preußen, wird Deutschland reicher, glücklicher,
gescheidter, besser aus diesem Kriege hervorgehen? Seit Beginn des Kriegs ist die
Arbeit in Deutschland fast völlig unterbrochen, und damit ist die einzige Quelle
des Reichthums und des Wohlbefindens vertrocknet. Die Invasion verursacht dem
Volke das sie unternimmt ebenso große Verluste als dem welches sie erleidet. Aller-
dings gibt es in Deutschland keine verbrannten Dörfer, keine bombardirten Städte,
keine rauchenden Ruinen; aber eines gibt es: den Mangel an Menschen! Der
Ackerbau und die Industrie haben ihre Arme und ihr Blut hergeben müssen für
den Krieg; seitdem ist Deutschland wie ein Körper dessen Leben für eine Zeitlang
ausgesetzt ist. Jetzt denken sie vielleicht noch nicht daran; aber wenn sie in ihre
Heimath zurückgekehrt sein werden, dann wird ihnen ihr Verlust klar vor Augen
stehen. Der ist nicht wie bei uns die vollständige Zerstörung einer gewissen Anzahl

*) Alfred Maury, de l'Institut de France: Les guerres des Francais et les
invasions des Allemands. 4. livraison du 15 fevr. 71, p.
579.
**) Die Vertreibung der Deutschen, sowohl in der legislativen Verfügung als in
der Art der Ausführung, ferner die Behandlung der Gefangenen, lassen diese
Civilisation in einem eigenthümlichen Licht erscheinen.
***) La politique d'envahissement. Louvois et Mr. de Bismarck. Par M.
Fustel de Coulanges. 1. livraison du 1 Janv. 1871, pag.
15.
+) Und die Kriege in Algier, in China und in Mexico?
++) Und Hr. Thiers im Jahre 1840?
+++) Wenn der Verfasser auch für seine Person bona fide sein mag, so fälscht er doch
den Ausdruck des allgemeinen krankhaften Verlangens nach der Rheingränze
und Luxemburg. Und was heißt denn: revanche de Sadowa?
[Spaltenumbruch]

In den Köpfen welche den Beruf Frankreichs in ſolcher Weiſe charakteriſiren,
iſt ſelbſtverſtändlich kein Raum mehr für den Gedanken daß jede Nation ein unbe-
ſtreitbares Recht habe ihre innern Angelegenheiten ausſchließlich ſelbſt zu ordnen.
Daher der Schrei der revanche de Sadowa, als eine kühne aus dem Geleiſe alther-
gebrachter Anſchauungen heraustretende Politik die Bande des deutſchen Bundes
zerſprengte und eine neue deutſche Organiſation aufſtellte. Eine überaus zarte
Empfindung für das Schickſal Hannovers, Heſſens und Naſſau’s deckte mit nur zu
durchſichtigem Schleier die rege Beſorgniß: es könne das Schiedsrichteramt für Eu-
ropa in Zukunft nicht mehr auf gleichen Gehorſam jenſeits des Rheins zählen.
Und dieſes Amt — von wem wurde es denn ausgeübt? Doch nicht von der gan-
zen nation noble et généreuse, ſondern von der jeweiligen Regierung. Und da
iſt es doch eine eigenthümliche Erſcheinung, die nicht genug zum Nachdenken auffor-
dern kann und die ſeither noch nicht genügend hervorgehoben worden iſt, daß
dieſe civiliſirteſte Nation ſtets ihrer Regierung zujauchzet ſobald es ſich darum
handelt die auswärtige Politik ſich tributär zu machen und den Krieg in fremdes
Land zu ſpielen; daß ſie aber ſtets dieſelbe Regierung ſtürzt und zum Lande
hinausjagt ſobald letztere ihr Uebergewicht im Innern geltend zu machen ſucht,
oder nach außen hin den ſtolzen Erwartungen nicht entſpricht.

Ein Mißerfolg aber von ſo eclatanter Art wie der letzte kann nicht auf
natürlichem Wege verſchuldet worden ſein — daher zuerſt das Geſchrei der trahison
— und jetzt die Theorie der invasion, oder, wie es noch beſſer genannt wird, der
politique d’envahissement.

Dieſe neuentdeckte Theorie verdient daß man ſich in Deutſchland etwas ge-
nauer mit ihr bekannt mache; es fehlt ihr nicht an kühnen Gedankenblitzen und
unfreier Komik.

Obenan ſteht der Satz: „l’Allemagne fait des invasions, tandis que
nous en Europe nous faisons seulement des guerres.“
*)

Da ein Mitglied des Inſtituts dieß behauptet, ſo wird man, mit dem gan-
zen Reſpect den dieſe hohe wiſſenſchaftliche Körperſchaft verdient, aufhorchen. Nach
ihm beruht alſo der Unterſchied in den beiderſeitigen Kriegen ausſchließlich in dem
Endzweck den man zu erreichen ſuchte. „Frankreich ſtrebte beſtändig nach einem
gewiſſen Uebergewicht in Europa, zu welchem es ein Recht hatte wegen der Ueber-
legenheit ſeiner Civiliſation.**) Als Monarchie wollte es ſeinem Namen Achtung
verſchaffen, und ſeine Feinde in die Unmöglichkeit verſetzen ihm zu ſchaden; als
revolutionäres Land ſuchte es ſeine Ideen über Befreiung der Völker, Gleichheit
der bürgerlichen Rechte und ſocialen Fortſchritt zu verbreiten. Deutſchland hatte
andere Zielpunkte: es ſuchte Auswege für ſeine überzählige Bevölkerung; nicht
Soldaten, ſondern bewaffnete Anſiedler ſendet es über ſeine Gränzen: Deutſchland
macht räuberiſche Einfälle, während wir in Europa nur Kriege führen.“

Das Exordium iſt nicht übel aufgeſtellt, denn mit dieſer Prämiſſe kommt
man zu allem möglichen. Es iſt leicht damit zu beweiſen daß alle Kriege Frank-
reichs im Rechte begründet waren: die Verwüſtungen der Pfalz, die Verbün-
dungen gegen Friedrich II, die Napoleoniſchen Feldzüge und Annexionen — die
Eroberung Algiers, wo die ſcheußlichſten Gräuelthaten von der franzöſiſchen Armee ver-
übt wurden, und noch geſtern wieder verübt wurden, da die unrechtmäßig unterdrück-
ten eingebornen Stämme ihr Joch abzuſchütteln verſuchten; die Kriege in Mexico mit
den berüchtigten Contre-Guerrillas und in China mit der weltbekannten Plünde-
rung des kaiſerlichen Palaſtes, anderer Gemeinheiten nicht zu gedenken — ſie alle
floſſen unbeſtreitbar aus dem Rechte: que le nom de la France fût respecté
et que ses ennemis fussent mis dans l’impossibilité de lui nuire.
Ein an-
derer Staat konnte aber dieſes Recht nicht anrufen: denn die supériorité de la
civilisation
fehlt ihm. Daß ein ſolches von der Partei ſelbſt aufgeſtelltes Urtheil
über dieſen Vorrang keinen Werth haben kann, fällt natürlich der eiteln Nation
nicht ein.

Einmal jedoch hat auch Frankreich — leider! — der politique d’envahisse-
ment
gehuldigt, aber es kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden, denn es
folgte nur der Leitung Ludwigs XIV, und dieſer ſtand unter dem Einfluſſe Lou-
vois’.***) Es hat aber ſchwer dafür gebüßt, und iſt nie in den Fehler zurückgefallen.
„Denn ſicherlich waren doch unſere Kriege in der Krim und in Italien keine In-
vaſionskriege.†) Frankreich wollte durch Arbeit, durch Ausbeutung ſeiner Boden-
erzeugniſſe, durch die regelmäßige Entwicklung ſeiner Inſtitutionen, durch Künſte,
Wiſſenſchaften, Schulen und Bücher ſich vergrößern. Das war ſein Wunſch, und
es iſt unmöglich in Frankreich einen einzigen Staatsmann zu benennen der ſeit
vierzig Jahren eine andere Politik befolgt hätte.††) Die Republik von 1848 war
doch ſicher nicht „envahissante,“ und Napoleon III mußte, um das Kaiſerthum zu
empfehlen, das Verſprechen geben: l’empire c’est la paix. Und ebenſo mußten
die Deputirten bei jeder Neuwahl verſprechen daß der Friede erhalten und die
Armee verringert werden ſolle. Frankreich wollte keine Eroberungen. Man
hätte bis in die unterſten Schichten der Geſellſchaft, zu den Dümmſten und Albern-
ſten hinabſteigen müſſen, um Leute zu finden die noch von Invaſionskriegen träum-
ten und die Rheingränzewünſchten.†††) Es vergieng kein Jahr, wo nicht das corps
législatif
Verringerung der Ausgaben für das Heer verlangte. Man macht ihm
freilich den Vorwurf die Kriegserklärung gegen Preußen mit einem enthuſiaſtiſchen
Beſchluß begrüßt zu haben; man muß jedoch genauer unterſuchen was denn dieſer
Beſchluß eigentlich bedeutete. Die Verſammlung die ihn faßte war ſicherlich eine
der friedlichſten in ganz Europa; ſie ſtimmte für den Krieg nur in Folge des ihr
gegebenen Verſprechens daß dieſer Krieg eine allgemeine Entwaffnung herbei-
führen werde. Sie verlangte nicht das linke Rheinufer, ſie verlangte Verminde-
[Spaltenumbruch] rung der Armeen und beinahe die Unterdrückung des Krieges für die Zukunft.
Ihr Beſchluß war im Grund ein Friedens-Votum!“

Wohin man mit ſolcher Schilderung der öffentlichen Zuſtände und Geſin-
nungs-Fluctuationen, mit einer ſolchen Exegeſe öffentlicher Verhandlungen, die
vor einem Jahre unter unſern Augen ſich zugetragen, gelangen muß, iſt leicht er-
ſichtlich. Kein Wort von dem Jubel, den Entzückungen die durch Paris, durch
Frankreich mit elektriſchen Schlägen jedes Herz erzittern machten, als die falſchen
Nachrichten von den Erfolgen bei Saarbrücken, von den angeblichen Siegen bei
Weißenburg und Wörth ſich ausbreiteten! Es iſt das aber noch nicht genug:
wir lernen noch viel mehr. „Während in Frankreich ſich nur noch bei den un-
wiſſenden Claſſen kriegeriſche Gelüſte vorfinden, ſind es in Preußen vielmehr die
höheren und gebildeten Claſſen welche zum Kriege treiben; ſie ſcheinen angeſteckt
von der alten Krankheit welche man uns ehemals vorwarf und chauvinisme
nannte. Die alten Ideen von Krieg und Ruhm herrſchen noch heute in den Ber-
liner Salons und auf den Kathedern der Univerſität. Doch muß man die Be-
völkerung entſchuldigen, und bedenken daß ſchon ſeit zwei Jahrhunderten das
Haus Hohenzollern dieſen kriegeriſchen Geiſt unterhält. Die öffentliche Meinung
in Preußen iſt diſciplinirt wie die Armee. Das verſtand Louvois nicht; er lehrte
Frankreich nicht die Spanier, die Deutſchen, die Italiener zu haſſen. Das iſt ein
Unterricht den man bei uns immer vernachläſſigt hat. Daher kam es daß unſere
Officiere und unſere Soldaten ſtets Europa durchzogen haben ohne zu haſſen und
ohne gehaßt zu werden. Sie thaten ihre Pflicht als Soldaten, aber ohne Erbitterung,
Groll oder Neid. Der Deutſche, der Ruſſe war für ſie mehr ein Gegner als ein
Feind. Das Haus Hohenzollern hat die Kunſt des Krieges bedeutend über die
bekannten Gränzen erweitert; es begriff früher als alle andern Menſchen daß, um
deſto ſicherer den Sieg zu ernten, man den Haß ſäen müſſe. Demgemäß ward
unaufhörlich von unſerm Hochmuth, unſerm Ehrgeiz, unſerer Gottloſigkeit, unſerer
Sittenverderbniß geſprochen; mit Hülfe der Religion und des Pietismus ward der
Haß in die jungen Seelen eingeflößt. Auch die Wiſſenſchaft wurde dazu benutzt;
ihre Profeſſoren legten ſich darauf unſere franzöſiſche Revolution zu traveſtiren
und unſere ganze Geſchichte zu entſtellen, um uns haſſenswerth zu machen; die
Philologie und die Ethnologie mußten dazu dienen den Beweis zu liefern daß unſere
allerfranzöſiſcheſten Provinzen ihr rechtmäßiges Eigenthum ſeien; ſie zwangen die
Moral zu der Lehre daß eine vollendete Thatſache heilig, der Erfolg eine Fügung
der Vorſehung ſei, und daß daher Gewalt vor Recht gehe. Auf dieſe Weiſe ward
ſeit langer Zeit Preußen zu dem jetzigen Kriege vorbereitet. — — Es wollte aber
noch mehr als bloß das Elſaß und Lothringen nehmen. Seine Race wollte
die unſrige vertilgen, ſein Stolz wollte unſern Namen auslöſchen, ſein Neid
unſere Künſte und Wiſſenſchaften zerſtören, ſeine Habgier unſern Reichthum ver-
ſchlingen.“

Wenn man dieſe Diatribe nicht gedruckt vor ſich ſähe, würde man nicht
glauben daß ſich in einer civiliſirten Nation irgendein Individuum auffinden ließe
welches ſolchen Unſinn zu ſchreiben fähig wäre! Und dergleichen Fälſchungen und
Verleumdungen gibt man dort für Geſchichtsforſchung aus! Wahrlich, wäre es
nicht ſo durchaus lächerlich, [unleserliches Material – 3 Zeichen fehlen] könnte ſich darüber betrüben!

Wir werden jedoch in dem dritten Abſchnitt dieſer abſonderlichen Studie
belehrt daß weſentlich die Beſorgniß des Verfaſſers für die Zukunft Deutſchlands
dieſem die Feder in die Hand gab. Denn der Vergleich der Politik Ludwigs XIV
und derjenigen welche heute Frankreich gegenüber befolgt werden mußte, verlangt
natürlich auch eine Schilderung der Folgen welche erſtere nach ſich zog. Und da
wird denn allerdings der Wahrheit gemäß die Kehrſeite der franzöſiſchen Medaille
in einer Weiſe gezeigt wie ſie vor 1870 ſchwerlich durch dieſelbe Feder gezeichnet
worden wäre. „Ludwig XIV, obgleich ſtets ſiegreich, behielt doch ſchließlich
von allen ſeinen Eroberungen nur Straßburg und einige flandriſche Städte. Dafür
aber verlor er die Freundſchaft und die Allianz aller anderen Staaten, und fand
ſich vollſtändig iſolirt in der Welt; Frankreichs Einfluß war vermindert, ſein
Präſtigium geſchädigt, ſeine Sicherheit ſelbſt in Frage geſtellt. Dazu war das Land
an Menſchen und Geld erſchöpft; um Krieg ſühren zu können mußte man die alten
Abgaben verdoppeln, neue Auflagen einführen, die Münzen verſchlechtern, die
Stellen verkaufen. Die Schuld ſtieg von 150 Millionen bis auf drei Milliarden.
Dabei war der Handel ruinirt; der Krieg mit Deutſchland hinderte die Ausfuhr,
der Krieg mit Holland und England zerſtörte die Handelsmarine ebenſo wie die
Kriegsflotte. Die Induſtrie gieng zu Grunde weil ſie keinen Abſatz mehr fand;
die ackerbauende Bevölkerung war die unglücklichſte von allen, weil auf ihr alle
Abgaben ruhten. Fénélon konnte damals dem großen König ſchreiben: „Ihr Volk
ſtirbt vor Hunger, und ganz Frankreich iſt nur noch ein großes Hoſpital.“ Eine
nothwendige Folge hiervon war die Entvölkerung; im Jahr 1700 zählte Frankreich
trotz zweier neuen Provinzen ein Viertheil Einwohner weniger. Das ſind die
Folgen der politique d’envahissement, und ſie auch ſtehen Deutſchland bevor.
Deutſchland mag zwei Provinzen gewonnen haben, dafür hat es die Sym-
pathie und das Vertrauen aller anderen Staaten verloren, denn es hat
eine Ehrſucht verrathen welche die anderen Völker ihm ebenſo wenig verzeihen
werden als dem vierzehnten Ludwig und Napoleon. Preußen hat in dieſem Augen-
blick keinen Verbündeten auf der Welt; niemand freut ſich aufrichtig über ſeine
Erfolge, und wenn die Stunde der Buße ſchlägt, wird niemand an ſeinen Leiden
theilnehmen. Die Nation hat auch im Grunde nichts gewonnen, denn der Kern
der Frage bleibt immer der: wird Preußen, wird Deutſchland reicher, glücklicher,
geſcheidter, beſſer aus dieſem Kriege hervorgehen? Seit Beginn des Kriegs iſt die
Arbeit in Deutſchland faſt völlig unterbrochen, und damit iſt die einzige Quelle
des Reichthums und des Wohlbefindens vertrocknet. Die Invaſion verurſacht dem
Volke das ſie unternimmt ebenſo große Verluſte als dem welches ſie erleidet. Aller-
dings gibt es in Deutſchland keine verbrannten Dörfer, keine bombardirten Städte,
keine rauchenden Ruinen; aber eines gibt es: den Mangel an Menſchen! Der
Ackerbau und die Induſtrie haben ihre Arme und ihr Blut hergeben müſſen für
den Krieg; ſeitdem iſt Deutſchland wie ein Körper deſſen Leben für eine Zeitlang
ausgeſetzt iſt. Jetzt denken ſie vielleicht noch nicht daran; aber wenn ſie in ihre
Heimath zurückgekehrt ſein werden, dann wird ihnen ihr Verluſt klar vor Augen
ſtehen. Der iſt nicht wie bei uns die vollſtändige Zerſtörung einer gewiſſen Anzahl

*) Alfred Maury, de l’Institut de France: Les guerres des Français et les
invasions des Allemands. 4. livraison du 15 févr. 71, p.
579.
**) Die Vertreibung der Deutſchen, ſowohl in der legislativen Verfügung als in
der Art der Ausführung, ferner die Behandlung der Gefangenen, laſſen dieſe
Civiliſation in einem eigenthümlichen Licht erſcheinen.
***) La politique d’envahissement. Louvois et Mr. de Bismarck. Par M.
Fustel de Coulanges. 1. livraison du 1 Janv. 1871, pag.
15.
†) Und die Kriege in Algier, in China und in Mexico?
††) Und Hr. Thiers im Jahre 1840?
†††) Wenn der Verfaſſer auch für ſeine Perſon bona fide ſein mag, ſo fälſcht er doch
den Ausdruck des allgemeinen krankhaften Verlangens nach der Rheingränze
und Luxemburg. Und was heißt denn: revanche de Sadowa?
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[50/0010] In den Köpfen welche den Beruf Frankreichs in ſolcher Weiſe charakteriſiren, iſt ſelbſtverſtändlich kein Raum mehr für den Gedanken daß jede Nation ein unbe- ſtreitbares Recht habe ihre innern Angelegenheiten ausſchließlich ſelbſt zu ordnen. Daher der Schrei der revanche de Sadowa, als eine kühne aus dem Geleiſe alther- gebrachter Anſchauungen heraustretende Politik die Bande des deutſchen Bundes zerſprengte und eine neue deutſche Organiſation aufſtellte. Eine überaus zarte Empfindung für das Schickſal Hannovers, Heſſens und Naſſau’s deckte mit nur zu durchſichtigem Schleier die rege Beſorgniß: es könne das Schiedsrichteramt für Eu- ropa in Zukunft nicht mehr auf gleichen Gehorſam jenſeits des Rheins zählen. Und dieſes Amt — von wem wurde es denn ausgeübt? Doch nicht von der gan- zen nation noble et généreuse, ſondern von der jeweiligen Regierung. Und da iſt es doch eine eigenthümliche Erſcheinung, die nicht genug zum Nachdenken auffor- dern kann und die ſeither noch nicht genügend hervorgehoben worden iſt, daß dieſe civiliſirteſte Nation ſtets ihrer Regierung zujauchzet ſobald es ſich darum handelt die auswärtige Politik ſich tributär zu machen und den Krieg in fremdes Land zu ſpielen; daß ſie aber ſtets dieſelbe Regierung ſtürzt und zum Lande hinausjagt ſobald letztere ihr Uebergewicht im Innern geltend zu machen ſucht, oder nach außen hin den ſtolzen Erwartungen nicht entſpricht. Ein Mißerfolg aber von ſo eclatanter Art wie der letzte kann nicht auf natürlichem Wege verſchuldet worden ſein — daher zuerſt das Geſchrei der trahison — und jetzt die Theorie der invasion, oder, wie es noch beſſer genannt wird, der politique d’envahissement. Dieſe neuentdeckte Theorie verdient daß man ſich in Deutſchland etwas ge- nauer mit ihr bekannt mache; es fehlt ihr nicht an kühnen Gedankenblitzen und unfreier Komik. Obenan ſteht der Satz: „l’Allemagne fait des invasions, tandis que nous en Europe nous faisons seulement des guerres.“ *) Da ein Mitglied des Inſtituts dieß behauptet, ſo wird man, mit dem gan- zen Reſpect den dieſe hohe wiſſenſchaftliche Körperſchaft verdient, aufhorchen. Nach ihm beruht alſo der Unterſchied in den beiderſeitigen Kriegen ausſchließlich in dem Endzweck den man zu erreichen ſuchte. „Frankreich ſtrebte beſtändig nach einem gewiſſen Uebergewicht in Europa, zu welchem es ein Recht hatte wegen der Ueber- legenheit ſeiner Civiliſation. **) Als Monarchie wollte es ſeinem Namen Achtung verſchaffen, und ſeine Feinde in die Unmöglichkeit verſetzen ihm zu ſchaden; als revolutionäres Land ſuchte es ſeine Ideen über Befreiung der Völker, Gleichheit der bürgerlichen Rechte und ſocialen Fortſchritt zu verbreiten. Deutſchland hatte andere Zielpunkte: es ſuchte Auswege für ſeine überzählige Bevölkerung; nicht Soldaten, ſondern bewaffnete Anſiedler ſendet es über ſeine Gränzen: Deutſchland macht räuberiſche Einfälle, während wir in Europa nur Kriege führen.“ Das Exordium iſt nicht übel aufgeſtellt, denn mit dieſer Prämiſſe kommt man zu allem möglichen. Es iſt leicht damit zu beweiſen daß alle Kriege Frank- reichs im Rechte begründet waren: die Verwüſtungen der Pfalz, die Verbün- dungen gegen Friedrich II, die Napoleoniſchen Feldzüge und Annexionen — die Eroberung Algiers, wo die ſcheußlichſten Gräuelthaten von der franzöſiſchen Armee ver- übt wurden, und noch geſtern wieder verübt wurden, da die unrechtmäßig unterdrück- ten eingebornen Stämme ihr Joch abzuſchütteln verſuchten; die Kriege in Mexico mit den berüchtigten Contre-Guerrillas und in China mit der weltbekannten Plünde- rung des kaiſerlichen Palaſtes, anderer Gemeinheiten nicht zu gedenken — ſie alle floſſen unbeſtreitbar aus dem Rechte: que le nom de la France fût respecté et que ses ennemis fussent mis dans l’impossibilité de lui nuire. Ein an- derer Staat konnte aber dieſes Recht nicht anrufen: denn die supériorité de la civilisation fehlt ihm. Daß ein ſolches von der Partei ſelbſt aufgeſtelltes Urtheil über dieſen Vorrang keinen Werth haben kann, fällt natürlich der eiteln Nation nicht ein. Einmal jedoch hat auch Frankreich — leider! — der politique d’envahisse- ment gehuldigt, aber es kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden, denn es folgte nur der Leitung Ludwigs XIV, und dieſer ſtand unter dem Einfluſſe Lou- vois’. ***) Es hat aber ſchwer dafür gebüßt, und iſt nie in den Fehler zurückgefallen. „Denn ſicherlich waren doch unſere Kriege in der Krim und in Italien keine In- vaſionskriege. †) Frankreich wollte durch Arbeit, durch Ausbeutung ſeiner Boden- erzeugniſſe, durch die regelmäßige Entwicklung ſeiner Inſtitutionen, durch Künſte, Wiſſenſchaften, Schulen und Bücher ſich vergrößern. Das war ſein Wunſch, und es iſt unmöglich in Frankreich einen einzigen Staatsmann zu benennen der ſeit vierzig Jahren eine andere Politik befolgt hätte. ††) Die Republik von 1848 war doch ſicher nicht „envahissante,“ und Napoleon III mußte, um das Kaiſerthum zu empfehlen, das Verſprechen geben: l’empire c’est la paix. Und ebenſo mußten die Deputirten bei jeder Neuwahl verſprechen daß der Friede erhalten und die Armee verringert werden ſolle. Frankreich wollte keine Eroberungen. Man hätte bis in die unterſten Schichten der Geſellſchaft, zu den Dümmſten und Albern- ſten hinabſteigen müſſen, um Leute zu finden die noch von Invaſionskriegen träum- ten und die Rheingränzewünſchten. †††) Es vergieng kein Jahr, wo nicht das corps législatif Verringerung der Ausgaben für das Heer verlangte. Man macht ihm freilich den Vorwurf die Kriegserklärung gegen Preußen mit einem enthuſiaſtiſchen Beſchluß begrüßt zu haben; man muß jedoch genauer unterſuchen was denn dieſer Beſchluß eigentlich bedeutete. Die Verſammlung die ihn faßte war ſicherlich eine der friedlichſten in ganz Europa; ſie ſtimmte für den Krieg nur in Folge des ihr gegebenen Verſprechens daß dieſer Krieg eine allgemeine Entwaffnung herbei- führen werde. Sie verlangte nicht das linke Rheinufer, ſie verlangte Verminde- rung der Armeen und beinahe die Unterdrückung des Krieges für die Zukunft. Ihr Beſchluß war im Grund ein Friedens-Votum!“ Wohin man mit ſolcher Schilderung der öffentlichen Zuſtände und Geſin- nungs-Fluctuationen, mit einer ſolchen Exegeſe öffentlicher Verhandlungen, die vor einem Jahre unter unſern Augen ſich zugetragen, gelangen muß, iſt leicht er- ſichtlich. Kein Wort von dem Jubel, den Entzückungen die durch Paris, durch Frankreich mit elektriſchen Schlägen jedes Herz erzittern machten, als die falſchen Nachrichten von den Erfolgen bei Saarbrücken, von den angeblichen Siegen bei Weißenburg und Wörth ſich ausbreiteten! Es iſt das aber noch nicht genug: wir lernen noch viel mehr. „Während in Frankreich ſich nur noch bei den un- wiſſenden Claſſen kriegeriſche Gelüſte vorfinden, ſind es in Preußen vielmehr die höheren und gebildeten Claſſen welche zum Kriege treiben; ſie ſcheinen angeſteckt von der alten Krankheit welche man uns ehemals vorwarf und chauvinisme nannte. Die alten Ideen von Krieg und Ruhm herrſchen noch heute in den Ber- liner Salons und auf den Kathedern der Univerſität. Doch muß man die Be- völkerung entſchuldigen, und bedenken daß ſchon ſeit zwei Jahrhunderten das Haus Hohenzollern dieſen kriegeriſchen Geiſt unterhält. Die öffentliche Meinung in Preußen iſt diſciplinirt wie die Armee. Das verſtand Louvois nicht; er lehrte Frankreich nicht die Spanier, die Deutſchen, die Italiener zu haſſen. Das iſt ein Unterricht den man bei uns immer vernachläſſigt hat. Daher kam es daß unſere Officiere und unſere Soldaten ſtets Europa durchzogen haben ohne zu haſſen und ohne gehaßt zu werden. Sie thaten ihre Pflicht als Soldaten, aber ohne Erbitterung, Groll oder Neid. Der Deutſche, der Ruſſe war für ſie mehr ein Gegner als ein Feind. Das Haus Hohenzollern hat die Kunſt des Krieges bedeutend über die bekannten Gränzen erweitert; es begriff früher als alle andern Menſchen daß, um deſto ſicherer den Sieg zu ernten, man den Haß ſäen müſſe. Demgemäß ward unaufhörlich von unſerm Hochmuth, unſerm Ehrgeiz, unſerer Gottloſigkeit, unſerer Sittenverderbniß geſprochen; mit Hülfe der Religion und des Pietismus ward der Haß in die jungen Seelen eingeflößt. Auch die Wiſſenſchaft wurde dazu benutzt; ihre Profeſſoren legten ſich darauf unſere franzöſiſche Revolution zu traveſtiren und unſere ganze Geſchichte zu entſtellen, um uns haſſenswerth zu machen; die Philologie und die Ethnologie mußten dazu dienen den Beweis zu liefern daß unſere allerfranzöſiſcheſten Provinzen ihr rechtmäßiges Eigenthum ſeien; ſie zwangen die Moral zu der Lehre daß eine vollendete Thatſache heilig, der Erfolg eine Fügung der Vorſehung ſei, und daß daher Gewalt vor Recht gehe. Auf dieſe Weiſe ward ſeit langer Zeit Preußen zu dem jetzigen Kriege vorbereitet. — — Es wollte aber noch mehr als bloß das Elſaß und Lothringen nehmen. Seine Race wollte die unſrige vertilgen, ſein Stolz wollte unſern Namen auslöſchen, ſein Neid unſere Künſte und Wiſſenſchaften zerſtören, ſeine Habgier unſern Reichthum ver- ſchlingen.“ Wenn man dieſe Diatribe nicht gedruckt vor ſich ſähe, würde man nicht glauben daß ſich in einer civiliſirten Nation irgendein Individuum auffinden ließe welches ſolchen Unſinn zu ſchreiben fähig wäre! Und dergleichen Fälſchungen und Verleumdungen gibt man dort für Geſchichtsforſchung aus! Wahrlich, wäre es nicht ſo durchaus lächerlich, ___ könnte ſich darüber betrüben! Wir werden jedoch in dem dritten Abſchnitt dieſer abſonderlichen Studie belehrt daß weſentlich die Beſorgniß des Verfaſſers für die Zukunft Deutſchlands dieſem die Feder in die Hand gab. Denn der Vergleich der Politik Ludwigs XIV und derjenigen welche heute Frankreich gegenüber befolgt werden mußte, verlangt natürlich auch eine Schilderung der Folgen welche erſtere nach ſich zog. Und da wird denn allerdings der Wahrheit gemäß die Kehrſeite der franzöſiſchen Medaille in einer Weiſe gezeigt wie ſie vor 1870 ſchwerlich durch dieſelbe Feder gezeichnet worden wäre. „Ludwig XIV, obgleich ſtets ſiegreich, behielt doch ſchließlich von allen ſeinen Eroberungen nur Straßburg und einige flandriſche Städte. Dafür aber verlor er die Freundſchaft und die Allianz aller anderen Staaten, und fand ſich vollſtändig iſolirt in der Welt; Frankreichs Einfluß war vermindert, ſein Präſtigium geſchädigt, ſeine Sicherheit ſelbſt in Frage geſtellt. Dazu war das Land an Menſchen und Geld erſchöpft; um Krieg ſühren zu können mußte man die alten Abgaben verdoppeln, neue Auflagen einführen, die Münzen verſchlechtern, die Stellen verkaufen. Die Schuld ſtieg von 150 Millionen bis auf drei Milliarden. Dabei war der Handel ruinirt; der Krieg mit Deutſchland hinderte die Ausfuhr, der Krieg mit Holland und England zerſtörte die Handelsmarine ebenſo wie die Kriegsflotte. Die Induſtrie gieng zu Grunde weil ſie keinen Abſatz mehr fand; die ackerbauende Bevölkerung war die unglücklichſte von allen, weil auf ihr alle Abgaben ruhten. Fénélon konnte damals dem großen König ſchreiben: „Ihr Volk ſtirbt vor Hunger, und ganz Frankreich iſt nur noch ein großes Hoſpital.“ Eine nothwendige Folge hiervon war die Entvölkerung; im Jahr 1700 zählte Frankreich trotz zweier neuen Provinzen ein Viertheil Einwohner weniger. Das ſind die Folgen der politique d’envahissement, und ſie auch ſtehen Deutſchland bevor. Deutſchland mag zwei Provinzen gewonnen haben, dafür hat es die Sym- pathie und das Vertrauen aller anderen Staaten verloren, denn es hat eine Ehrſucht verrathen welche die anderen Völker ihm ebenſo wenig verzeihen werden als dem vierzehnten Ludwig und Napoleon. Preußen hat in dieſem Augen- blick keinen Verbündeten auf der Welt; niemand freut ſich aufrichtig über ſeine Erfolge, und wenn die Stunde der Buße ſchlägt, wird niemand an ſeinen Leiden theilnehmen. Die Nation hat auch im Grunde nichts gewonnen, denn der Kern der Frage bleibt immer der: wird Preußen, wird Deutſchland reicher, glücklicher, geſcheidter, beſſer aus dieſem Kriege hervorgehen? Seit Beginn des Kriegs iſt die Arbeit in Deutſchland faſt völlig unterbrochen, und damit iſt die einzige Quelle des Reichthums und des Wohlbefindens vertrocknet. Die Invaſion verurſacht dem Volke das ſie unternimmt ebenſo große Verluſte als dem welches ſie erleidet. Aller- dings gibt es in Deutſchland keine verbrannten Dörfer, keine bombardirten Städte, keine rauchenden Ruinen; aber eines gibt es: den Mangel an Menſchen! Der Ackerbau und die Induſtrie haben ihre Arme und ihr Blut hergeben müſſen für den Krieg; ſeitdem iſt Deutſchland wie ein Körper deſſen Leben für eine Zeitlang ausgeſetzt iſt. Jetzt denken ſie vielleicht noch nicht daran; aber wenn ſie in ihre Heimath zurückgekehrt ſein werden, dann wird ihnen ihr Verluſt klar vor Augen ſtehen. Der iſt nicht wie bei uns die vollſtändige Zerſtörung einer gewiſſen Anzahl *) Alfred Maury, de l’Institut de France: Les guerres des Français et les invasions des Allemands. 4. livraison du 15 févr. 71, p. 579. **) Die Vertreibung der Deutſchen, ſowohl in der legislativen Verfügung als in der Art der Ausführung, ferner die Behandlung der Gefangenen, laſſen dieſe Civiliſation in einem eigenthümlichen Licht erſcheinen. ***) La politique d’envahissement. Louvois et Mr. de Bismarck. Par M. Fustel de Coulanges. 1. livraison du 1 Janv. 1871, pag. 15. †) Und die Kriege in Algier, in China und in Mexico? ††) Und Hr. Thiers im Jahre 1840? †††) Wenn der Verfaſſer auch für ſeine Perſon bona fide ſein mag, ſo fälſcht er doch den Ausdruck des allgemeinen krankhaften Verlangens nach der Rheingränze und Luxemburg. Und was heißt denn: revanche de Sadowa?

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 4, 4. Januar 1872, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine04_1872/10>, abgerufen am 22.11.2024.