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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884.

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Von der grossen Sehnsucht.

Oh meine Seele, ich lehrte dich "Heute" sagen
wie "Einst" und "Ehemals" und über alles Hier und
Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen.

Oh meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln,
ich kehrte Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab.

Oh meine Seele, ich wusch die kleine Scham und
die Winkel-Tugend von dir ab und überredete dich
nackt vor den Augen der Sonne zu stehn.

Mit dem Sturme, welcher "Geist" heisst, blies ich
über deine wogende See; alle Wolken blies ich davon,
ich erwürgte selbst die Würgerin, die "Sünde" heisst.

Oh meine Seele, ich gab dir das Recht, Nein zu
sagen wie der Sturm und Ja zu sagen wie offner
Himmel Ja sagt: still wie Licht stehst du und gehst
du nun durch verneinende Stürme.

Oh meine Seele, ich gab dir die Freiheit zurück
über Erschaffnes und Unerschaffnes: und wer kennt,
wie du sie kennst, die Wollust des Zukünftigen?

Oh meine Seele, ich lehrte dich das Verachten,
das nicht wie ein Wurmfrass kommt, das grosse, das
liebende Verachten, welches am meisten liebt, wo es
am meisten verachtet.

Oh meine Seele, ich lehrte dich so überreden,
dass du zu dir die Gründe selber überredest: der

Von der grossen Sehnsucht.

Oh meine Seele, ich lehrte dich „Heute“ sagen
wie „Einst“ und „Ehemals“ und über alles Hier und
Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen.

Oh meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln,
ich kehrte Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab.

Oh meine Seele, ich wusch die kleine Scham und
die Winkel-Tugend von dir ab und überredete dich
nackt vor den Augen der Sonne zu stehn.

Mit dem Sturme, welcher „Geist“ heisst, blies ich
über deine wogende See; alle Wolken blies ich davon,
ich erwürgte selbst die Würgerin, die „Sünde“ heisst.

Oh meine Seele, ich gab dir das Recht, Nein zu
sagen wie der Sturm und Ja zu sagen wie offner
Himmel Ja sagt: still wie Licht stehst du und gehst
du nun durch verneinende Stürme.

Oh meine Seele, ich gab dir die Freiheit zurück
über Erschaffnes und Unerschaffnes: und wer kennt,
wie du sie kennst, die Wollust des Zukünftigen?

Oh meine Seele, ich lehrte dich das Verachten,
das nicht wie ein Wurmfrass kommt, das grosse, das
liebende Verachten, welches am meisten liebt, wo es
am meisten verachtet.

Oh meine Seele, ich lehrte dich so überreden,
dass du zu dir die Gründe selber überredest: der

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[102/0112] Von der grossen Sehnsucht. Oh meine Seele, ich lehrte dich „Heute“ sagen wie „Einst“ und „Ehemals“ und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen. Oh meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln, ich kehrte Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab. Oh meine Seele, ich wusch die kleine Scham und die Winkel-Tugend von dir ab und überredete dich nackt vor den Augen der Sonne zu stehn. Mit dem Sturme, welcher „Geist“ heisst, blies ich über deine wogende See; alle Wolken blies ich davon, ich erwürgte selbst die Würgerin, die „Sünde“ heisst. Oh meine Seele, ich gab dir das Recht, Nein zu sagen wie der Sturm und Ja zu sagen wie offner Himmel Ja sagt: still wie Licht stehst du und gehst du nun durch verneinende Stürme. Oh meine Seele, ich gab dir die Freiheit zurück über Erschaffnes und Unerschaffnes: und wer kennt, wie du sie kennst, die Wollust des Zukünftigen? Oh meine Seele, ich lehrte dich das Verachten, das nicht wie ein Wurmfrass kommt, das grosse, das liebende Verachten, welches am meisten liebt, wo es am meisten verachtet. Oh meine Seele, ich lehrte dich so überreden, dass du zu dir die Gründe selber überredest: der

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/112>, abgerufen am 23.11.2024.