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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883.

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Ungemein ist die höchste Tugend und unnützlich,
leuchtend ist sie und mild im Glanze: eine schenkende
Tugend ist die höchste Tugend.

Wahrlich, ich errathe euch wohl, meine Jünger:
ihr trachtet, gleich mir, nach der schenkenden Tugend.
Was hättet ihr mit Katzen und Wölfen gemeinsam?

Das ist euer Durst, selber zu Opfern und Ge¬
schenken zu werden: und darum habt ihr den Durst,
alle Reichthümer in eure Seele zu häufen.

Unersättlich trachtet eure Seele nach Schätzen
und Kleinodien, weil eure Tugend unersättlich ist im
Verschenken-Wollen.

Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, dass
sie aus eurem Borne zurückströmen sollen als die
Gaben eurer Liebe.

Wahrlich, zum Räuber an allen Werthen muss
solche schenkende Liebe werden; aber heil und heilig
heisse ich diese Selbstsucht.

Eine andre Selbstsucht giebt es, eine allzuarme,
eine hungernde, die immer stehlen will, jene Selbst¬
sucht der Kranken, die kranke Selbstsucht.

Mit dem Auge des Diebes blickt sie auf alles
Glänzende; mit der Gier des Hungers misst sie Den,
der reich zu essen hat; und immer schleicht sie um
den Tisch der Schenkenden.

Krankheit redet aus solcher Begierde und unsicht¬
bare Entartung; von siechem Leibe redet die diebische
Gier dieser Selbstsucht.

Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes
und Schlechtestes? Ist es nicht Entartung? -- Und

Ungemein ist die höchste Tugend und unnützlich,
leuchtend ist sie und mild im Glanze: eine schenkende
Tugend ist die höchste Tugend.

Wahrlich, ich errathe euch wohl, meine Jünger:
ihr trachtet, gleich mir, nach der schenkenden Tugend.
Was hättet ihr mit Katzen und Wölfen gemeinsam?

Das ist euer Durst, selber zu Opfern und Ge¬
schenken zu werden: und darum habt ihr den Durst,
alle Reichthümer in eure Seele zu häufen.

Unersättlich trachtet eure Seele nach Schätzen
und Kleinodien, weil eure Tugend unersättlich ist im
Verschenken-Wollen.

Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, dass
sie aus eurem Borne zurückströmen sollen als die
Gaben eurer Liebe.

Wahrlich, zum Räuber an allen Werthen muss
solche schenkende Liebe werden; aber heil und heilig
heisse ich diese Selbstsucht.

Eine andre Selbstsucht giebt es, eine allzuarme,
eine hungernde, die immer stehlen will, jene Selbst¬
sucht der Kranken, die kranke Selbstsucht.

Mit dem Auge des Diebes blickt sie auf alles
Glänzende; mit der Gier des Hungers misst sie Den,
der reich zu essen hat; und immer schleicht sie um
den Tisch der Schenkenden.

Krankheit redet aus solcher Begierde und unsicht¬
bare Entartung; von siechem Leibe redet die diebische
Gier dieser Selbstsucht.

Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes
und Schlechtestes? Ist es nicht Entartung? — Und

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[107/0113] Ungemein ist die höchste Tugend und unnützlich, leuchtend ist sie und mild im Glanze: eine schenkende Tugend ist die höchste Tugend. Wahrlich, ich errathe euch wohl, meine Jünger: ihr trachtet, gleich mir, nach der schenkenden Tugend. Was hättet ihr mit Katzen und Wölfen gemeinsam? Das ist euer Durst, selber zu Opfern und Ge¬ schenken zu werden: und darum habt ihr den Durst, alle Reichthümer in eure Seele zu häufen. Unersättlich trachtet eure Seele nach Schätzen und Kleinodien, weil eure Tugend unersättlich ist im Verschenken-Wollen. Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, dass sie aus eurem Borne zurückströmen sollen als die Gaben eurer Liebe. Wahrlich, zum Räuber an allen Werthen muss solche schenkende Liebe werden; aber heil und heilig heisse ich diese Selbstsucht. Eine andre Selbstsucht giebt es, eine allzuarme, eine hungernde, die immer stehlen will, jene Selbst¬ sucht der Kranken, die kranke Selbstsucht. Mit dem Auge des Diebes blickt sie auf alles Glänzende; mit der Gier des Hungers misst sie Den, der reich zu essen hat; und immer schleicht sie um den Tisch der Schenkenden. Krankheit redet aus solcher Begierde und unsicht¬ bare Entartung; von siechem Leibe redet die diebische Gier dieser Selbstsucht. Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht Entartung? — Und

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/113>, abgerufen am 21.11.2024.