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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die
im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus
erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen
das Bild des Dionysus offenbar wird.

Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Er¬
klärung des Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei
unserer gelehrtenhaften Anschauung über die elementaren
künstlerischen Prozesse, fast anstössig; während nichts aus¬
gemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch
Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor
ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er
hineinblickt. Durch eine eigentümliche Schwäche der mo¬
dernen Begabung sind wir geneigt, uns das ästhetische Ur¬
phänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Me¬
tapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur,
sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle
eines Begriffes, vorschwebt. Der Charakter ist für ihn nicht
etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes,
sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person,
die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das
fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet.
Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dich¬
ter? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über
Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein
pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach:
man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel
zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu
leben, so ist man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich
selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen
herauszureden, so ist man Dramatiker.

Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen
Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von
einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie

Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die
im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus
erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen
das Bild des Dionysus offenbar wird.

Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Er¬
klärung des Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei
unserer gelehrtenhaften Anschauung über die elementaren
künstlerischen Prozesse, fast anstössig; während nichts aus¬
gemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch
Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor
ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er
hineinblickt. Durch eine eigentümliche Schwäche der mo¬
dernen Begabung sind wir geneigt, uns das ästhetische Ur¬
phänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Me¬
tapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur,
sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle
eines Begriffes, vorschwebt. Der Charakter ist für ihn nicht
etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes,
sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person,
die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das
fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet.
Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dich¬
ter? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über
Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein
pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach:
man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel
zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu
leben, so ist man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich
selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen
herauszureden, so ist man Dramatiker.

Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen
Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von
einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie

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[—39—/0052] Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild des Dionysus offenbar wird. Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Er¬ klärung des Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften Anschauung über die elementaren künstlerischen Prozesse, fast anstössig; während nichts aus¬ gemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. Durch eine eigentümliche Schwäche der mo¬ dernen Begabung sind wir geneigt, uns das ästhetische Ur¬ phänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Me¬ tapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Charakter ist für ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dich¬ ter? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach: man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker. Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —39—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/52>, abgerufen am 28.04.2024.