dem Musiker -- der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein Götterbild ohne Kopf erscheint -- so können wir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleich¬ nissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumein¬ wirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das "Ich" des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine "Subjectivität" im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly¬ kambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken -- wie ihn uns Euri¬ pides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpen¬ trift, in der Mittagssonne --: und jetzt tritt Apollo an ihn heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch¬ musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleich¬ sam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen.
dem Musiker — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein Götterbild ohne Kopf erscheint — so können wir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleich¬ nissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumein¬ wirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das »Ich« des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine »Subjectivität« im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly¬ kambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihn uns Euri¬ pides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpen¬ trift, in der Mittagssonne —: und jetzt tritt Apollo an ihn heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch¬ musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleich¬ sam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen.
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dem Musiker — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein
Götterbild ohne Kopf erscheint — so können wir jetzt, auf
Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik,
uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst,
als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem
Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das
Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung
der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben;
jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleich¬
nissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumein¬
wirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein
des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine,
erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss
oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits
in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm
jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine
Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt
der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das »Ich« des Lyrikers
tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine »Subjectivität«
im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn
Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende
Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly¬
kambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die
vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus
und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer
Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihn uns Euri¬
pides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpen¬
trift, in der Mittagssonne —: und jetzt tritt Apollo an ihn
heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch¬
musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleich¬
sam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer
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heissen.
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/34>, abgerufen am 25.07.2024.
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