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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Selbstkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Noth¬
wendigkeit der Schönheit die Forderung des "Erkenne dich
selbst" und des "Nicht zu viel!" her, während Selbstüber¬
hebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dä¬
monen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaften
der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der
ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet
wurden. Seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen wegen
musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner
übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx
löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von
Unthaten stürzen: so interpretirte der delphische Gott die
griechische Vergangenheit.

"Titanenhaft" und "barbarisch" dünkte dem apollinischen
Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte:
ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch
zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und
Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden:
sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte
auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Er¬
kenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt
wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus
leben! Das "Titanische" und das "Barbarische" war zuletzt
eine eben solche Nothwendigkeit als das Apollinische! Und
nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die
Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der eksta¬
tische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauber¬
weisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der
Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdrin¬
genden Schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem
dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende
Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklang,
bedeuten konnte! Die Musen der Künste des "Scheins"

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 2

Selbstkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Noth¬
wendigkeit der Schönheit die Forderung des »Erkenne dich
selbst« und des »Nicht zu viel!« her, während Selbstüber¬
hebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dä¬
monen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaften
der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der
ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet
wurden. Seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen wegen
musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner
übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx
löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von
Unthaten stürzen: so interpretirte der delphische Gott die
griechische Vergangenheit.

»Titanenhaft« und »barbarisch« dünkte dem apollinischen
Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte:
ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch
zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und
Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden:
sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte
auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Er¬
kenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt
wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus
leben! Das »Titanische« und das »Barbarische« war zuletzt
eine eben solche Nothwendigkeit als das Apollinische! Und
nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die
Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der eksta¬
tische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauber¬
weisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der
Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdrin¬
genden Schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem
dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende
Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklang,
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[17/0030] Selbstkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Noth¬ wendigkeit der Schönheit die Forderung des »Erkenne dich selbst« und des »Nicht zu viel!« her, während Selbstüber¬ hebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dä¬ monen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet wurden. Seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen wegen musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen: so interpretirte der delphische Gott die griechische Vergangenheit. »Titanenhaft« und »barbarisch« dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Er¬ kenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das »Titanische« und das »Barbarische« war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit als das Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der eksta¬ tische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauber¬ weisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdrin¬ genden Schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklang, bedeuten konnte! Die Musen der Künste des »Scheins« Nietzsche, Geburt der Tragödie. 2

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/30>, abgerufen am 22.11.2024.