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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Welt entstehn, in der sich der hellenische "Wille" einen
verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter
das Menschenleben, indem sie es selbst leben -- die allein
genügende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnen¬
scheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe
empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen
Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem
auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen,
mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, "das
Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweit¬
schlimmste, überhaupt einmal zu sterben". Wenn die Klage
einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden
Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des
Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit.
Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem
Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So
ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der "Wille"
nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische
Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede
wird.

Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von
den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie,
ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das
Kunstwort "naiv" in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so
einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeid¬
licher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als
einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies
konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's sich
auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen
solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil ge¬
funden zu haben wähnte. Wo uns das "Naive" in der Kunst
begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen
Cultur zu erkennen: als welche immer erst ein Titanenreich

Welt entstehn, in der sich der hellenische »Wille« einen
verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter
das Menschenleben, indem sie es selbst leben — die allein
genügende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnen¬
scheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe
empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen
Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem
auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen,
mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, »das
Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweit¬
schlimmste, überhaupt einmal zu sterben«. Wenn die Klage
einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden
Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des
Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit.
Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem
Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So
ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der »Wille«
nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische
Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede
wird.

Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von
den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie,
ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das
Kunstwort »naiv« in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so
einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeid¬
licher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als
einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies
konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's sich
auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen
solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil ge¬
funden zu haben wähnte. Wo uns das »Naive« in der Kunst
begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen
Cultur zu erkennen: als welche immer erst ein Titanenreich

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[—13—/0026] Welt entstehn, in der sich der hellenische »Wille« einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben — die allein genügende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnen¬ scheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, »das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweit¬ schlimmste, überhaupt einmal zu sterben«. Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der »Wille« nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede wird. Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort »naiv« in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeid¬ licher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil ge¬ funden zu haben wähnte. Wo uns das »Naive« in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: als welche immer erst ein Titanenreich

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —13—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/26>, abgerufen am 29.03.2024.